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Die Frage "Wie hätte ich mich verhalten?" ist der Auftakt zu einem historischen Gedankenexperiment, dessen Schwierigkeiten oft unterschätzt werden. Können sich beispielsweise die Nachgeborenen überhaupt in die realen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur hineinversetzen? Dürfen wir ein moralisches Urteil über Menschen fällen, die sich in Konfliktsituationen bewähren mussten, denen wir selbst niemals ausgesetzt waren? Aber andererseits: Müssen wir nicht darauf bestehen, dass es Maßstäbe für moralisches Handeln gibt, die allgemeine Gültigkeit besitzen? Jan Philipp Reemtsma diskutiert…mehr

Produktbeschreibung
Die Frage "Wie hätte ich mich verhalten?" ist der Auftakt zu einem historischen Gedankenexperiment, dessen Schwierigkeiten oft unterschätzt werden. Können sich beispielsweise die Nachgeborenen überhaupt in die realen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur hineinversetzen? Dürfen wir ein moralisches Urteil über Menschen fällen, die sich in Konfliktsituationen bewähren mussten, denen wir selbst niemals ausgesetzt waren? Aber andererseits: Müssen wir nicht darauf bestehen, dass es Maßstäbe für moralisches Handeln gibt, die allgemeine Gültigkeit besitzen? Jan Philipp Reemtsma diskutiert in seinem neuen Buch, wie sich dieses "zivilisatorische Minimum" der aufgeklärten Moderne begründen und beschreiben lässt. Ob es um Kants Idee des ewigen Friedens oder die Institutionalisierung der Menschenrechte geht, um die Friedenspreisrede von Martin Walser oder um die Kontroverse über die Wehrmachtsausstellung - in seinen glänzenden Analysen betrachtet Reemtsma das Verhältnis von Gewiss en und Geschichte, Moral und Politik niemals nur als philosophische Denkübung. Er zeigt vielmehr eindrucksvoll, dass auch wir unserer individuellen Verantwortung in der Gesellschaft gerecht werden müssen, wenn wir auf die Frage "Wie hätte ich mich verhalten?" eine befriedigende Antwort finden wollen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2001

Nicht der Mann, der Rache sucht
Ein beeindruckender Sammelband mit Aufsätzen und Reden aus den Jahren nach seiner Entführung verrät manches über Jan Philipp Reemtsma
Man liest dieses Buch jetzt mit anderen Augen. Es ist nun einmal erst wenige Tage her, dass das Hamburger Landgericht Thomas Drach zu einer hohen Haftstrafe verurteilte; Drach, den Entführer, jenen närrischen Diabolo, dessen Einlassungen vor Gericht zumindest ahnen ließen, was sein Opfer Jan Philipp Reemtsma und dessen Familie 1996 durchgemacht hatten. Damals saß Reemtsma 33 Tage lang „im Keller”, wie er sein Buch über die Zeit der Gefangenschaft nannte. Jetzt hat er, fast zeitgleich mit dem Urteil gegen seinen Peiniger, ein weiteres Buch veröffentlicht: „Wie hätte ich mich verhalten?”
Es ist nicht das erste seit dem Selbstzeugnis aus dem Keller. Das Buch enthält Aufsätze und Reden des Hamburger Mäzens und Millionärs, Großbürgers und Gelehrten aus den vergangenen Jahren, aus jenen nach der Entführung: über Daniel Goldhagen und die „Wehrmachtausstellung”, über Geschichtspolitik und über Kant, Hannah Arendt und den Aufklärer Christoph Martin Wieland. All das hätte Reemtsma auch geschrieben, wäre er nicht Opfer eines Verbrechens geworden, und er kommt nicht oft darauf zu sprechen.
Einmal jedoch stellt Jan Phillip Reemtsma sich die im Titel aufgeworfene Frage selbst: Wie hätte ich mich verhalten? Eigentlich geht es hier um die alte Frage der Kriegsgeneration an die Jüngeren: Wie hättest Du Dich denn verhalten an meiner Stelle? So fragten die Alten, ein geschicktes rhetorisches Muster, das Reemtsma mit kühlem Intellekt untersucht. Eine Antwort wie „moralisch einwandfrei” ist, so Reemtsma, „gleichsam nicht erlaubt, nicht glaubwürdig, allenfalls Ausdruck moralischer Überhebung”. Diese Frage ist, so wie sie gestellt wird, kein Angebot zu einem Gespräch, sie läuft auf das Gegenteil hinaus: auf Dialogverweigerung, auf die Schutzbehauptung, die alle Geschichtswissenschaft zur Absurdität verdammen würde: Wer damals nicht dabei war, der kann nicht verstehen. Der hat kein Recht, uns zu verurteilen.
Wer die Perspektive der Frage übernimmt, sich also fragt, wie er selbst sich verhalten hätte, der hat es schwer. Wie schwer, schildert Reemtsma am eigenen Beispiel. Es waren die quälenden Tage im Kerker. Damals „habe ich mir die Frage gestellt, wie ich mich verhalten würde, wenn sich jemand im Austausch gegen meine Person als Geisel anböte. Ich kam zu dem Schluss, das ich das würde ablehnen müssen. ” Das klingt heroisch, aber: „Da die Situation nicht eingetreten ist, kann ich bis heute meiner diesbezüglichen Standfestigkeit nicht sicher sein. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. ” Hätte er sich „falsch” verhalten, das Angebot angenommen, so würde er sich das – hoffentlich – eingestehen. Er könnte dann aber auch über andere, die in der gleichen Lage einem Austausch zugestimmt hätten, sagen: Das war falsch gehandelt. Reemtsmas Folgerung: „Ein moralisches Urteil setzt keine moralische Überlegenheit (was immer das ist) seitens des Urteilenden voraus. ”
Das ist ein kluges, lesenswertes, nicht immer leicht zu lesendes Buch. Es kreist, wie ein Großteil von Reemtsmas früheren Arbeiten, um das Spannungsverhältnis von Moral und Unmoral, Zivilisation und Barbarei – wie die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht”, die das von ihm gegründete Hamburger Institut für Sozialforschung weltberühmt machte. Seit er den „Karneval des Bösen”, wie die Zeit mit Blick auf das rheinische Possenspiel des Angeklagten Drach schrieb, am eigenen Leib erlebte, hat sich sein Blick anscheinend verändert. Diese Aufsätze und Reden aus der Zeit nach der Entführung sind plastischer als seine früheren Schriften, näher am Leben als an der Theorie.
Eines aber sind sie nicht. Reemtsma ist nicht harsch geworden, nicht brutal oder unbarmherzig mit seinen Feinden, von denen er schon wegen der „Wehrmachtsausstellung” nicht wenige hat. Es verkennt den Menschen Reemtsma, der sich im Hamburger Landgericht mit seiner Vergangenheit im Drachs Keller auseinandersetzt (ebenso wie es den Wissenschaftler Reemtsma verkennen würde, der über das Böse in der NS-Zeit nachdenkt), wenn die Woche schreibt, er sei der „linke Sozialwissenschaftler, der das alttestamentarische Prinzip der Vergeltung in Anspruch nimmt”.
Gegen die Anmaßung
Daran war schon der Vergleich falsch. Das gern zitierte alttestamentarische Prinzip des „Auge in Auge, Zahn um Zahn” ist keineswegs ein Synonym für unbedingte Vergeltung. Es umschrieb im Gegenteil einen frühen Versuch, Gerechtigkeit zu schaffen: Das Urteil für eine Tat musste im Verhältnis zu ihr stehen, es durfte nicht willkürlich, kein Freibrief für moralische Anmaßung sein.
Im falschen Sinne „alttestamentarisch” ist Reemtsma auch in diesem Buch nicht. Wer seinen Beitrag über die Kritik an der „Wehrmachtausstellung” liest, versteht leichter, welche Welten Reemtsma von deren einstigen Leiter Hannes Heer trennen. (Man muss es trotzdem nicht fair finden, dass Reemtsma seinen Weggefährten Heer schließlich hinausgeworfen hat, als der Druck auf die Ausstellung wuchs). Heer reagierte auf Kritik mit der falschen Selbstgewissheit eines Missionars: Er setzte die Kritiker unter Ideologieverdacht, er bemühte die Justiz. Reemtsma verlegt sich auf eine ruhige Analyse rechtskonservativen Denkens, die im Ergebnis vernichtend ist, nicht aber im Ton. Die Ausstellung sollte aus seiner Sicht keineswegs ein Geschichtsbild durch ein anderes ersetzen (ein linkes, doktrinäres, wie Karl Heinz Bohrer damals im Merkur schrieb), „sondern eine sich bietende Chance ergreifen: über etwas zu sprechen, das zuvor vor allem im Schweigen anwesend war”: Verbrechen der Wehrmacht.
Gerade wegen der uneifernden Haltung des Buchs fällt sein Urteil über eine Person vernichtend aus: über Martin Walser und dessen Geraune in der Paulskirche über die „Instrumentalisierung der Schande” und „Auschwitz als Moralkeule”. Durch die „nachgeholte Lektüre einer Sonntagsrede” gibt Reemtsma den Schriftsteller der Lächerlichkeit preis, erscheint Walsers Ausbruch als das, was er war: kein tapferer Tabubruch, sondern ein Appell an ein „dummes, aber, das ist der Ertrag so beschaffener Dummheit, seiner selbst gewisses Wir”.
„Wie hätte ich mich verhalten?” Vielleicht würde es manchen helfen, sich diese Frage zu stellen. Just mokierte sich die Gerichtsreporterin des „Spiegel” darüber, dass Reemtsma „was er tun konnte, getan hat”, um an seine Optik des Opfers zu erinnern. Weniger prominente Entführungsopfer lebten anders mit ihren Erfahrungen, „sehr still”. Und? Das klingt moralisch, sagt aber gar nichts. Nur wenige jedenfalls hätten sich während einer menschlichen Grenzerfahrung und im späteren Umgang mit ihr so beeindruckend verhalten wie es Jan Philipp Reemtsma tut.
JOACHIM KÄPPNER
JAN PHILIPP REEMTSMA: „Wie hätte ich mich verhalten?” und andere nicht nur deutsche Fragen, C. H. Beck Verlag, München 2001. 217 Seiten, 39,80 Mark.
Jan Philipp Reemtsma und die Wehrmachtsausstellung: Was hätte er, was hätten wir damals getan?
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit großem Respekt vor dem "Großbürger und Gelehrten" sowie vor dem Entführungsopfer Jan Philipp Reemtsma lobt Joachim Käppner dessen neue Aufsatzsammlung als "kluges, lesenswertes, nicht immer leicht zu lesendes Buch". Der "beeindruckende Sammelband" enthält Reden und Aufsätze von der Goldhagen-Debatte über die "Wehrmachtsausstellung" bis zu Kant und Hannah Arendt, wie Käppner schreibt. Zentrum des Buches sei die Frage "Wie hätte ich mich verhalten?". Als Frage der Kriegsgeneration an die Jüngeren impliziere sie eine nachträgliche Rechtfertigung. Der Dialog würde so verweigert. Wer aber die Perspektive der Frage übernehme, überprüfe damit die Moralität seines eigenen Handelns. Reemtsma habe sich im Keller seines Enführers gefragt, wie er sich verhalten hätte, wenn er das Angebot, gegen eine andere Geisel ausgetauscht zu werden, bekommen hätte. "Ein moralisches Urteil setzt keine moralische Überlegenheit seitens des Urteilenden voraus", so sein Fazit. Wohl durch die schmerzhafte Erfahrung der Entführung ist sein Schreiben plastischer und lebensnäher als früher, wie der Rezensent berichtet. Nur das Urteil über das "Geraune" Martin Walsers in der Paulskirche an ein "dummes Wir" falle vernichtend aus.

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