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Der erste Band des Arbeitsjournals des im Osten Berlins lebenden Volker Braun endet mit dem letzten Tag des Jahres 1989. In ihm war zu erleben, wie der Prosaist, Essayist, Lyriker und Theaterautor mit seinen genuinen Themen und der entsprechenden Form beharrlich seinen literarischen Weg geht. Ab 1990 ändern sich die Anforderungen an das Werk von Volker Braun radikal. Ein Autor, bei dem die radikale Gleichheit einer der Antriebskräfte seiner vielfältigen Produktivität ist, hat seine Arbeit auf ein Gesellschaftssystem zu orientieren, in dem seine Ziele verneint werden. Und schließlich muß…mehr

Produktbeschreibung
Der erste Band des Arbeitsjournals des im Osten Berlins lebenden Volker Braun endet mit dem letzten Tag des Jahres 1989. In ihm war zu erleben, wie der Prosaist, Essayist, Lyriker und Theaterautor mit seinen genuinen Themen und der entsprechenden Form beharrlich seinen literarischen Weg geht. Ab 1990 ändern sich die Anforderungen an das Werk von Volker Braun radikal. Ein Autor, bei dem die radikale Gleichheit einer der Antriebskräfte seiner vielfältigen Produktivität ist, hat seine Arbeit auf ein Gesellschaftssystem zu orientieren, in dem seine Ziele verneint werden. Und schließlich muß jemand, der wie er mit seinen literarischen Mitteln dagegen ankämpft - auch und trotz der Verleihung des Georg-Büchner-Preises -, damit rechnen, daß seine Produktionsverhältnisse erodieren: das Publikum, die Bühnen, die Medien. Um so mehr Achtung verdient die neue Folge der »Werktage«: Hier ist zu verfolgen, welcher intellektuellen, ästhetischen und menschlichen Anstrengungen es bedarf, sich und dem eigenen Werk, und damit den Denkern und Lesern, treu zu bleiben. Bei aller Mühsal darf eine Geste dieses Buches aufmuntern - die pikareske Einstellung des Autors und seiner Figur: Der Schelm als die lustige Gestalt, die den Leser zum Weinen bringt?
Autorenporträt
Braun, VolkerVolker Braun, 1939 in Dresden geboren, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe und absolvierte einen Facharbeiterlehrgang im Tagebau Burghammer. Nach seinem anschließenden Philosophiestudium in Leipzig wurde er Dramaturg am Berliner Ensemble. 1983 wurde Volker Braun Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1993 der (gesamtdeutschen) Akademie der Künste in Berlin. 1996 erfolgte die Aufnahme in die Sächsische Akademie der Künste und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wintersemester 1999/2000 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel. Von 2006 bis 2010 war Volker Braun Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Georg-Büchner-Preis im Jahr 2000. Volker Braun lebt heute in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2014

Der Fels

Natürlich ist es lächerlich und falsch, einen Dichter heute, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, einen DDR-Schriftsteller zu nennen. Aber das ist Volker Braun

Man geht in dieses Werk hinein wie in ein Museum der Gegenwart. Der Blick, die Perspektive, aus der die Welt betrachtet wird, scheint aus einer anderen Zeit zu kommen, die Gegenstände sind von heute. Das Buch heißt "Werktage", Untertitel "Arbeitsbuch 1990-2008". Arbeitsbuch könnte man eigentlich jedes der Werke Volker Brauns nennen, das er geschrieben hat. Auch die Gedichte, die Romane, seine "Unvollendete Geschichte", der "Hinze-Kunze-Roman", die Theaterstücke. Arbeit ist das zentrale Thema Volker Brauns.

Er wurde 1939 in Dresden geboren, das prägende Bild seiner Kindheit waren die glühenden Trümmer seiner Heimatstadt, sein Vater fiel in den letzten Kriegstagen, er wuchs mit seiner Mutter und vier Brüdern auf. "Ich bin unter Brüdern aufgewachsen", sagt er manchmal - und meint damit die Familie und auch sein Land. Volker Braun ist ein Autor der DDR und ist es heute noch. Er selbst würde dem sofort und vehement widersprechen: "Ich habe mich immer als deutscher Dichter verstanden", schreibt er 1999 in sein Werkbuch und würde es heute wohl genauso schreiben. Aber er verkörpert den Typus des DDR-Intellektuellen wie heute kein Zweiter mehr. Und, ja, auch das ist vermutlich eine West-Projektion, eine Vorstellung, ein Bild, das man sich als BRD-Bewohner über viele Jahre von der DDR, dieser anderen Welt, gemacht hat.

"Keiner schreibt so aus der Mitte des Landes heraus, aus ihrem unaufgehobenen Widerspruch", hat Fritz Rudolf Fries einmal über diesen Volker Braun geschrieben. Braun bekam nach dem Abitur keinen Studienplatz, arbeitete in einer Druckerei, im Tiefbau des Kombinats "Schwarze Pumpe" und als Maschinist für Tagebaugroßgeräte. Er war Mitglied der SED, seit 1960, wurde jahrelang von der Stasi bespitzelt, viele seiner Dramen durften nicht aufgeführt werden, bei jeder Veröffentlichung lag er im Widerstreit mit der Zensur. Er war kritischer Teil des Systems. Seine Hoffnung auf einen "menschlichen Sozialismus" hatte er mit der Niederschlagung des Prager Frühlings aufgegeben. Wolf Biermann suchte ihn am Vorabend seiner Reise in den Westen, von der er nicht zurückkehren sollte, noch auf, um sich mit ihm zu besprechen, danach gehörte Braun zu den Erstunterzeichnern des Protests gegen die Ausbürgerung des Freundes. Die im Herbst 1989 aus der DDR flohen, nannte er "Lemminge".

Jetzt sein Werkbuch lesend, hat man den Eindruck, einen Fels zu besteigen, einen grauen Granitfelsen. Es ist alles festgefügt in dieser Welt, die Kompassnadel der Moral, der Sicht auf die Welt, scheint nie zu zittern. Einmal beschreibt er, was für ihn große Kunst ausmacht: "dass sie aus dem kern heraus haltung hat. es ist in allem etwas notwendiges, erfahrenes, heiterbewußtes, überlebenskunst." Er meint damit nicht sich selbst und sein Schreiben, so groß würde er von sich selbst nicht reden. Aber es trifft auf ihn und sein Schreiben zu.

Aus dem Kern heraus Haltung haben, das ist bei jedem kleinen Eintrag zu spüren, zu lesen. Sein Widerspruch zu der kapitalistischen Systemlogik des Alltags, Solidarität mit den Elenden, den Flüchtlingen, Arbeitslosen, Obdachlosen, Vergessenen. Staunend kommentiert er ein Publikumsgespräch in Senftenberg, bei dem jemand meinte: "Wir haben keinen Feind. Darum können wir nicht kämpfen." Braun im Buch dagegen: "aber wir haben das elend der welt. wie kann das theater mitleiden, mitdenken, als in den seelen der elenden."

Was sofort auffällt beim Lesen: die vollständige Abwesenheit von Zynismus. Auch von Selbstverliebtheit, Selbstüberschätzung. Braun schreibt diskret, engagiert, immer mehr am Nächsten und an der Welt interessiert als an sich selbst. Seine ganze Haltung ist vielleicht am besten erkennbar in dem Moment, bevor er Einblick in seine Stasi-Akten nimmt. Er ahnt schon, er wird Ungeheuerliches zu lesen bekommen, Verrat und immer wieder Verrat auch unter Vertrauten, Freunden. So wappnet er sich davor: "jetzt muss ich mich in einen indischen elefanten verwandeln, oder ein großes herz haben." Er erfährt: Selbst geliebte Heldinnen seiner Romanwelt, die Karin der "Unvollendeten Geschichte" etwa, war IM. Die Akten haben alles aufbewahrt: "auch den geschlechtsverkehr melden die korrekten spione, mit der uhrzeit. der stückeschreiber ausgeliefert der regie der hauptabteilung XX, ein gezinktes leben."

Als Leser fragt man sich immer wieder, wie der Mann das macht, wie er Haltung bewahrt, nicht hasst, verachtet, denunziert. "wenn ich etwas für unverzichtbar halte, dann den komfort des großmuts", schreibt er einmal. Was für ein schöner Satz. Aber wie schwer auch, ihm immer zu folgen. Schreibend zumindest, in diesem Werkbuch, ist Braun ihm immer gefolgt. Hier zum Beispiel, als er im Großraumwagen eines Zuges auf Teilnehmer einer Leserreise vom "Neuen Deutschland" trifft und ihn aus dieser Gruppe ein stämmiger Weißhaariger mit fester Stimme anspricht: "Ich habe Sie damals zum Studium abgelehnt", sagt der. Braun verdutzt, höflich, interessiert zurückfragend: "Wegen des Bruders in Westberlin?" "Nein. Wegen Ihrer Bewerbung. Sie waren politisch unzuverlässig und überheblich." Ende des Gesprächs. Begegnung mit einem Lebensbeurteiler von einst, ohne Reue, nein, scheinbar noch mit Stolz und der Gewissheit, das Richtige zur richtigen Zeit getan zu haben.

Dass Braun andere verurteilt, kommt beinahe niemals vor. Im Gespräch hat er einmal gesagt: "Mut? Moral? Nein. Es liegt im Gewebe, wie man sich verhält. Man hat keine Wahl." Macht ihn das milde? Manchmal, zack, verteilt er einen Nebenbeihieb, "loest, der politische dünnpfeifer". Am unverständlichsten als Person, am fremdesten und fernsten ist ihm Enzensberger. Dessen Rede bei der Entgegennahme des Heine-Preises, in der sich dieser über die deutsche Weltbesorgtheit lustig machte, erscheint ihm skandalöser als Walsers Friedenspreis-Rede. Zynismus, Überironie, Mitleidlosigkeit, Spott über Menschen, die die Welt verbessern wollen - das ist für Volker Braun der Gegenpol seiner Welt. Die ganz andere Seite, die er vorsichtig bespöttelt: "enzensberger hat wieder mal die welt erklärt."

Dass das Feuilleton immer wieder die falschen Debatten führt, regt ihn auf. Dass Peter Handke zum "schreckensmann des deutschen feuilletons" gemacht und wie wild auf ihn einfeuilletonisiert wird, statt direkt über den Krieg in Jugoslawien zu diskutieren und die Ursachen des Krieges zu beleuchten, nennt er skandalös. Dass immer die gleichen alten Herren mit klug ausgelegten Signalwörtern die Debatten bestimmen, verwundert ihn milde: "ich kann sagen was ich will. schlagzeilen mache ich nicht, die macht grass." Und wenn Frank Schirrmacher und andere in der F.A.Z. plötzlich den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen, verliert Braun komplett die Fassung: "wahnsinn einer zeitung. jetzt muss die zwangsjacke her. ausnahmegesetze."

Das ist für den Arbeiterdichter aus dem Tiefbaukombinat Schwarze Pumpe, für den das Brechtsche "Alternativen denken" immer Lebensaufgabe war, zu viel der Sprunghaftigkeit. Obwohl auch er so gut weiß, wie wichtig Irrtümer sind für ein Leben, für ein Denken, für ein Werk. Wie wichtig es ist, die Richtung zu wechseln, sich zu täuschen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen: "wir sollten unsere irrtümer schätzen und bekennen. sie haben das werk ermöglicht."

Auch sein neues Arbeitsbuch ist voller Irrtümer, sicherlich. Er weiß es selbst. Er vermisst auch den Streit, den Widerstand, das Widerwort von Freunden oder Feinden. Viele der Alten sind gestorben oder gleichgültig geworden in der neuen Zeit. "gegen so wenig widerstand bin ich wehrlos", schreibt Braun. Er ahnt schon, er weiß, dass er ein Letzter ist, ein Abschiednehmer, einer aus einer anderen Zeit, der auf unsere mit staunendem, verwundertem Blick schaut und die Gegenstände und die Menschen noch einmal verwandelt. "in 50 jahren werden die archäologen nach uns graben", schreibt er. Wenn sie dabei dieses Buch ausgraben, werden sie einiges besser verstehen.

VOLKER WEIDERMANN

Volker Braun: "Werktage 2. Arbeitsbuch 1990-2008". Suhrkamp, 1000 Seiten, 39,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Eine Rezension kann Volker Brauns Arbeitsbüchern kaum gerecht werden, zu vielstimmig sind sie, zu viele Fragen werden aufgeworfen, die Antworten verdienen, auch wenn es keine gibt, gibt Peter Hamm zu. In den Bücher aus den Jahren 1990 bis 2008 verarbeitet Braun unaufhörlich die deutsche Einheit, die er zunächst vor allem als Lüge empfand, auch als Okkupation, berichtet der Rezensent. Einer, der zu Zeiten der DDR "Außenseiter und Aushängeschild" zugleich war - immerhin neun Stasi-Offiziere und zweiunddreißig IM waren auf ihn angesetzt, verrät Hamm - beklagt die Harmlosigkeit der zeitgenössischen Literatur, die das große Ganze aus dem Blick verloren hat und jede Dringlichkeit vermissen lässt, wettert gegen die "geschichtsvergessene Infamie" der deutschen Militäreinsätze, gegen den Krieg gegen den Terror - "als wäre krieg kein terror!", zitiert Hamm - und stellt eben jene Fragen, die nur dem als skandalös erscheinen, der die skandalösen Verhältnisse verkennt, denen sie gelten, so der Rezensent. Volker Brauns Werk ist untrennbar mit der DDR verbunden, mit ihrer Auflösung ist es umso gewichtiger geworden, findet Hamm.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.05.2014

Im Flöz
Von der Nachwendezeit bis zur Finanzkrise:
Volker Brauns Arbeitsjournal „Werktage. 1990-2008“
VON JÖRG MAGENAU
Irgendwann hat er sich dann doch breitschlagen lassen. Der Suhrkamp Verlag drängte hartnäckig darauf, „diese Sachen“ zum Druck zu bringen, Volker Brauns „Arbeitsbuch“. Aber das, so notierte Braun im November 2005 in konsequenter Kleinschreibung, „schließe ich aus; das hieße, die identität herzugeben, meine (nicht intimste, aber) unbefangene existenz, mit der ich nur selber umgeh.“ Noch im Herbst 2008 erteilte er Cheflektor Raimund Fellinger die Absage, damit sei frühestens zehn Jahre nach seinem Tod zu rechnen, „im günstigsten Fall 2039, im ernsten fall 2019“. Schließlich muss Braun sich dann aber geradezu erpresst gefühlt haben im Kampf um die Aufzeichnungen: „nun sehe ich mich als geisel dieser notate, und der verlag nimmt die narrentexte aus dem programm, weil ich die geheimen nicht hergebe. so wäre ich zuletzt der narr im eigenen werk.“ Und also gab er nach.
  Die sanfte Nötigung, die da stattgefunden haben mag, ist jedoch sehr zu begrüßen, denn sie hat ein Werk zutage gefördert, das den Dichter und Denker Volker Braun in seiner Werkstatt als Sprach-Arbeiter sichtbar werden lässt. Das erste Arbeitsbuch, das die Jahre 1977 bis 1989 und damit die Endphase der DDR umfasste, erschien 2009. Nun liegt ein zweiter, wieder exakt 1000 Seiten umfassender Band vor, der von 1990 bis 2008 reicht. Er führt aus der sogenannten Wendezeit, in der dem gelernten Sozialisten und marxistisch geschulten Theoretiker nicht nur das Denken in Bewegung und die Begriffe ins Schwanken gerieten, bis in unmittelbare Gegenwartsnähe, und einen Mann von gut fünfzig Jahren ins fortgeschrittene Alter des knapp Siebzigjährigen.
  Dabei wird der Übergang in jene kapitalistische Gesellschaft nacherlebbar, die Braun wie sein Freund, der Lyriker Karl Mickel, mit Staunen und produktiver Distanz zu betrachten bemüht ist: „nach uns die warenflut“. Es ist eine Welt, die sich machtvoll um Arbeit und Geld herum organisiert. Damit verlieren Dinge und Worte ihre gewohnte Bedeutung – so wie „Schwarze Pumpe“ plötzlich nicht mehr das Braunkohlekombinat in der Lausitz bezeichnet, sondern eine „wahlfinanzierungsgesellschaft der cdu“ vermuten lässt. Und als im Sommer 1990 die Geldtransporter mit Blaulicht und Wachschutz einrollen, um die Bankfilialen zu bestücken, notierte Braun: „es ist eine okkupation, die banken marschieren bewaffnet ein.“
  „Werktage“ – so der Titel der Arbeitsbücher – ist eine gewaltige Text- und Materialsammlung, die fraglos Teil des Werkes ist. Der Titel steht in der Tradition der Brechtschen „Arbeitsjournale“. Dichtung wird da nicht pathetisch als in die Welt gefallenes Werk begriffen, sondern als Produkt eines künstlerischen Arbeitsprozesses, des Dichters als Wortwerker.
  Alles ist im Fluss, im Werden, und da heraus gilt es, die einzelnen Werke zu schöpfen. Es ist kein Zufall, dass Braun sich – wie vor ihm Franz Führmann – immer wieder für Bergarbeiter und Bergwerke interessiert hat. Denn dort, wo beispielsweise seine Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) spielt, finden nicht nur die Kämpfe um Arbeitsplätze, Zechenschließungen und Eigentum statt, der Berg ist auch so etwas wie eine Metapher für die Dichtung.
  Der Dichter Braun fördert geduldig im Bergwerk der Sprache, immer auf der Suche nach historischen Gesteinsschichten und verborgenen Flözen, die Erkenntnisgewinn versprechen. Doch auch die Eigentumsfrage selbst wird dabei vielfach umbrochen. Das gibt schon das Goethe-Gedicht über das Eigentum vor, das Braun in den „Hellen Haufen“ zitiert hat und das er nun den „Werktagen“ als Motto voranstellt: „Ich weiß, dass mir nichts angehört / als der Gedanke, der ungestört / aus meiner Seele will fließen, / und jeder günstige Augenblick, / den mich ein liebendes Geschick / von Grund aus lässt genießen.“
  Vieles von dem, was sich da ereignet, ist schon sehr weit in die Vergangenheit entrückt. Das Ost-West-Gezänk der Nachwendezeit, die Stasiakten und der Überwachungskomplex, die Einheitsstreitereien in der Akademie der Künste mit den Debatten um neue Präsidentschaften oder um die Publikation von Jünger-Tagebüchern in der Zeitschrift Sinn und Form – man liest das im Abstand von zwei Jahrzehnten mit einiger Verwunderung und großer Gelassenheit. Der historische Stoff, der da noch ganz aufgewühlt erscheint, ist längst auf den Grund abgesunken.
  Wichtiger ist etwas anderes: zu beobachten, wie sich da ein wacher, intelligenter Zeitgenosse mit den Mitteln der Sprache ins Geschichtliche einzumischen versucht. Eigentlich, so notierte Braun im Januar 1990, war er geneigt, mit „alten chinesischen Schriften in den garten zu gehen“ und den Weg nach innen zu suchen. Doch dann kam ihm die Geschichte dazwischen, so wie sie ihm in seinem ganzen Dichterleben in der DDR und über sie hinaus immerzu dazwischen gekommen ist. Die chinesischen Schriften und der Weg nach innen sind zwar immer erkennbar, die Geschichte als Herausforderung bleibt aber auch.
  Für den Marxisten ist einst der Glaube an die „gemachte geschichte“ bestimmend gewesen, als wäre die Geschichte eine Manufaktur, in der der Einzelne bestimmte Produkte herstellen kann. Sie ist aber – und zu dieser Erkenntnis gelangt Braun allmählich – eine „verwickelte, chaotische fabrik und der ausstoß nicht vorhersehbar. die überbelastung der avantgarde: als ob sie wüsste, was vorn und hinten ist.“
  Geschichte lässt sich also nicht länger als etwas Machbares begreifen, ja, schlimmer noch, es ist ganz und gar unmöglich, sie zu durchschauen. Denn das Bewusstsein, das sie durchdringen will, ist ja immer schon ganz und gar von der Geschichte durchdrungen, in der es sich bewegt. Von Hans-Georg Gadamer stammt der schöne Satz: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören der Geschichte.“ Das ist der radikale Gegensatz zum marxistischen Geschichtsoptimismus. In Brauns Arbeitsbüchern lässt sich miterleben, welche Mühe es einem Marxisten macht, diese Einsicht zu akzeptieren. Und er hat ja recht, sich dagegen zu wehren und weiter darauf zu beharren, dass die Dinge nicht ganz von selbst den Bach oder was auch immer hinuntergehen. Die Arbeit des Dichters besteht nicht zuletzt darin, so zu tun, als ob das Eingreifen und Verändern mit den Mitteln der Sprache möglich wäre.
  Bei Volker Braun besteht eine Dauerspannung, ein permanentes Um- oder Überspringen von der Ebene der materiellen Arbeitskämpfe in den Bereich existenzieller Fragen. Er dichtet: „was ist osten, was ist westen: / reden wir doch von regionen. / um beschenkt mit überresten / im besonderen zu wohnen“ – und transzendiert damit den doch eher dumpfen Ost-West-Konflikt. Schließlich gelangt er zu einem Geschichtsverständnis, das zwar, mit Marx, das Glück des Einzelnen als Ziel anerkennt, dieses Glück aber gewissermaßen heideggerianisch definiert: „Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gerne sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr: Die Zeit der Geschichte ist der Kairos, in dem der Mensch die günstige Gelegenheit im Moment freier Entscheidung ergreift. Der wahre historische Materialist ist nicht derjenige, der in der unendlichen linearen Zeit den schwachen Schein eines kontinuierlichen Fortschritts sucht, sondern derjenige, der jederzeit imstande ist, die Zeit im Eingedenken daran stillzustellen, dass die ursprüngliche Heimat des Menschen der Genuss ist.“
  Genuss, im Übrigen, ist eine Kategorie, die in Brauns Arbeitsbuch gründlich zur Geltung kommt. Feiern mit Freunden, gutes Essen und guter Wein, die Freude an der Natur und den Schönheiten der Welt, das Ergreifen von Liebesgelegenheiten: Braun hat viele Worte dafür. Freunde wie Wolfgang Fritz Haug, Christa Wolf oder Karl Mickel bekommen ihre Auftritte, der Verleger Siegfried Unseld und seine Nachfolgerin Ulla Berkewicz übernehmen wichtige Rollen, Kollegen und Wegbegleiter wie Wolfgang Hilbig und Peter Rühmkorf werden gewürdigt. Das fortschreitende Alter führt naturgemäß dazu, dass immer mehr Nachrufe zu verfassen sind. Eindrucksvoll schildert Braun das Sterben von Rudolf Bahro und das seines Freundes Karl Mickel. Die „Werktage“ sind schonungslose Aufzeichnungen über das ganze Leben, das eben nicht nur die Produktion umfasst, sondern auch das Vergehen und das Vergessen. So wie jede große Dichtung.
Der Genuss, das Feiern mit
Freunden und gutem Wein,
kommt reichlich zur Geltung
      
  
  
  
  
Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2014. 998 Seiten,
39,95 Euro.
Stets im Blick des Autors Volker Braun: die Bergleute. Schichtwechsel im Mansfelder Kupferbergbau-Kombinat 1973.
Foto: dpa
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» Braun schreibt diskret, engagiert, immer mehr am Nächsten und an der Welt interessiert als an sich selbst.« Volker Weidermann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20141109