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Ob es um Gesundheit, Politik oder Fake-News geht: Warum sehen wir nur das, was wir sehen wollen? Der Neurowissenschaftler Kai Schreiber hat eine überraschende Erklärung: Dass wir irrational denken und handeln, hat vor allem mit unserer Wahrnehmung zu tun. Ein Konzept wie "Wahrheit" ist evolutionär verzichtbar, da es zum Überleben einer Art wenig beiträgt. Dennoch können wir Wahrheiten erkennen - vorausgesetzt, wir wissen, wie die Erkenntnisfallen zu umgehen sind. Kai Schreiber überträgt neueste Forschungsergebnisse auf unseren Alltag und räumt dabei auf mit Fatalismus und engstirnigem…mehr

Produktbeschreibung
Ob es um Gesundheit, Politik oder Fake-News geht: Warum sehen wir nur das, was wir sehen wollen? Der Neurowissenschaftler Kai Schreiber hat eine überraschende Erklärung: Dass wir irrational denken und handeln, hat vor allem mit unserer Wahrnehmung zu tun. Ein Konzept wie "Wahrheit" ist evolutionär verzichtbar, da es zum Überleben einer Art wenig beiträgt. Dennoch können wir Wahrheiten erkennen - vorausgesetzt, wir wissen, wie die Erkenntnisfallen zu umgehen sind. Kai Schreiber überträgt neueste Forschungsergebnisse auf unseren Alltag und räumt dabei auf mit Fatalismus und engstirnigem Eigennutz. Ein fundierter wie unterhaltsamer Wegweiser durch den Irrgarten des Wahrnehmens und Denkens - für alle, die die Welt sehen wollen, wie sie wirklich ist.
Autorenporträt
Schreiber, KaiKai Schreiber, geboren 1972, ist Physiker und Neurowissenschaftler. Nach Aufenthalten in Kanada, Kalifornien und New Jersey forscht er derzeit an der Universität Münster über das Tiefensehen und das Augenrollen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2019

Sie sehen das doch auch so?
Kai Schreiber über Tücken unserer Weltwahrnehmung

Hundertachtzig kognitive Verzerrungen dokumentiert das Diagramm, das der amerikanische Informatiker John Manoogian für Wikipedia angefertigt hat, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wir alle halten uns für besser als der Durchschnitt, glauben eher, was unsere Meinungen bestätigt, ignorieren, was uns zum Umdenken bewegen müsste, neigen dazu, Fremden zu misstrauen, können schlecht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen, Logik war nie unsere Stärke, und für exponentielle Zuwachsraten haben wir schon gar kein Gefühl. Das alles passt schlecht zu den Anforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft, stattdessen spielt es Verschwörungstheoretikern und anderen Verbreitern von Fake News, Blödsinn und Überflüssigem aller Art in die Hände.

"Bullshit" nennt der Autor und Neurowissenschaftler Kai Schreiber, was da vor allem in den sozialen Medien an Halb- und Unwahrheiten unterwegs ist, angelehnt an den gleichnamigen Text des Philosophen Harry Frankfurt. Es ist schlimm, dass wir darauf so leicht hereinfallen, die "Tragödie unserer Wahrnehmung" nennt es Schreiber. Tragisch daran sei, dass wir nicht nur alles andere als rationale Denker seien, sondern diesen Umstand auch geschickt vor uns selbst zu verbergen wüssten. Ich und Vorurteile? Kann gar nicht sein! Und da es ein wenig helfen mag, dies wenigstens zu durchschauen, streift Schreiber mit dem Leser durch Wissenschaft und Philosophie. Er erklärt, in welche Fallen wir regelmäßig tappen und was wir tun können, um sie möglichst zu umgehen.

Wie wir die Welt wahrnehmen, hat natürlich mit unserer Evolutionsgeschichte zu tun, und so kurvt Schreiber kurz durch die Geschichte des Lebens und erinnert daran, dass Evolution nicht zu perfekter Anpassung führt, sondern die überleben lässt, die gut genug zurechtkommen. Gut genug heißt meistens: ein bisschen besser als die anderen. Dazu gehörte, dass man besser einmal zu viel als einmal zu wenig eine Schlange im Unterholz oder ein Gesicht zwischen den tanzenden Blättern im Wald zu erkennen meint - und schon ist eine der Quellen für fehlerhaftes Wahrnehmen in der Welt.

Wahrnehmung ist das Ergebnis eines so komplizierten wie fehleranfälligen Prozesses, den Psychologen und Neurowissenschaftler mittlerweile immer detaillierter durchleuchten: Schreiber erklärt grundlegende Mechanismen wie das Stereosehen und beschreibt, wie Reizüberflutung unsere Wahrnehmung trübt. Der berühmte Gorilla hat seinen Auftritt, den wir nicht durchs Bild laufen sehen, wenn wir uns auf etwas anderes konzentrieren, und Studien mit unbemerkt ausgetauschten Gesprächspartnern werden angeführt. Das Gehirn, so resümiert Schreiber, errechnet eine kontinuierliche, komplexitätsreduzierte Welt, in der wir handeln können, keine gegebene Wirklichkeit.

Von diesem Konstrukteur im Kopf lassen wir uns immer wieder auf falsche Fährten locken. Hinzu kommt die soziale Dimension: Menschen sind soziale Wesen, ohne Kooperation geht es nicht. Wie sich dies manifestiert, zeigt Schreiber etwa mit dem berühmten Karten-Test: In konkreten sozialen Situationen lösen wir Probleme, an denen wir scheitern, wenn sie uns nur in ihrer abstrakten logischen Struktur präsentiert werden. Und das kritische Denken kann man schon einmal dem Zusammenhalt der Gruppe unterordnen. Das alles führt dazu, dass wir uns in unseren Einschätzungen sicher fühlen, wenn sie uns nur am besten in die eigene Community integrieren und die eigenen Vorannahmen bestätigen.

Hier kommt nun wieder das Tragische ins Spiel: Mit Hilfe der Bayesschen Wahrscheinlichkeitsrechnung rechnet Schreiber vor, dass objektive Entscheidungen und Wahrnehmungen gar nicht möglich seien. Wann immer wir neue Erfahrungen machen, verändert dies die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Ergebnisse. Und wenn wir kein solches Erfahrungswissen haben, nehmen wir eben unsere Vorurteile.

Dagegen hilft, wenig überraschend: Aufklärung. Diese hat, wie der Autor zum Schluss meint, sogar das Zeug, die "Tragödie der Wahrnehmung" ein Stück weit zu entschärfen. Denn dass wir keine Objektivität erreichen, sei so lange kein Problem, wie wir bereit sind, unterschiedliche Meinungen in Ruhe abzuwägen und solide Daten zu akzeptieren, auch wenn sie den eigenen Intuitionen widersprechen.

Kai Schreiber hat eine lockere und witzige Einführung in die Wahrnehmungspsychologie geschrieben. Immer wieder baut er versteckte Fallen in den Text ein, in die er die Leser tappen lässt, um noch eindrücklicher zu zeigen, wie leicht wir uns gerade da irren, wo wir uns ganz sicher sind. Wer dem Thema schon begegnet ist, findet zwar nicht viel Neues: das Trolley-Experiment, das Gefangenendilemma, den Homunkulus, das schnelle und das langsame Denken, das Ich als Illusion, Blindsicht und Anosognosie, die Probleme der Psychologie mit der Wiederholbarkeit ihrer Ergebnisse, die jüngst von Steven Pinker geforderte neue Aufklärung. Aber das Buch ist eine unterhaltsame Erinnerung daran, dass Wahrnehmung fehleranfällig ist, und der Appell, das Beste daraus zu machen, ist nie falsch.

MANUELA LENZEN

Kai Schreiber: "Wahre Lügen". Warum wir nicht glauben, was wir sehen.

Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 332 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Kai Schreiber schlägt mühelos den großen Bogen von Evolution über Wahrscheinlichkeitsrechnung und Spieltheorie zu Zaubertricks mit Keksen. Und das macht er ausgesprochen unterhaltsam und mit subtilem Witz, dass man sich von ihm sehr gern von Gedanken zu Gedanken tragen lässt. Brigitte 20190619