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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2000

Lesetip zum Wochenende
Der letzte
Tropfen Blut
Manchettes „Volles Leichenhaus”
Die Vorräte werden knapp, ein Rest Ricard, dann, aus irgendeinem Winkel des Zimmers hervorgekramt, eine halbvolle Flasche Kirschwasserverschnitt. Eugène braucht den Stoff meistens selber, seine Kunden gehen leer aus, die wenigen, die sich noch verirren in das Büro im vierten Stock, „E. Tarpon, Ermittlungen”.
Die Fälle werden immer dubioser, immer hoffnungsloser, die Tarpon angeboten werden, das Geld auf der Bank ist weniger geworden – der Junge ist schließlich so weit, dass er heimzukehren beschließt, zurück in die Provinz, Departement Allier, zu seiner Mutter.
Jean-Patrick Manchette, geboren 1942 in Marseille, gestorben 1995 in Paris, ist der große Desillusionist unter den französischen Erzählern. Unter seinem Blick bröckeln alle großen und kleinen Erzählungen der Gesellschaft, und es bleiben trostlose Momente, unerklärliche Situationen, dramatische Reaktionen, bizarre Lichtblitze. Eine geschlossene Gesellschaft, um das Jahr 1973 herum, als der Roman „Morgue Pleine” geschrieben wurde, kurz vor ihrer Umformung in eine offene, multikulturelle.
Tarpon ist ein Ex-Flic, der den Dienst quittieren musste. Es hat da eine Demo gegeben in Saint-Brieuc, ein Pflasterstein wurde geschmissen von einem Bauern, ein Volltreffer, und Eugene Tarpon, Mitglied der Gendarmerie Nationale, verliert die Beherrschung und . . . „Schnitt, ziemlich trostlose Kamerafahrt über die Kaserne, dann . . . Doch daran darf ich auf gar keinen Fall denken. ”
Manchette ist ein kinematografischer Schreiber, er hat sich lebhaft zu Filmen und Büchern geäußert und dabei immer den Standpunkt des Profis vertreten, die Kapriolen der Ästheten verachtet. Alain Delon hat sich stets für Manchettes Bücher interessiert, und „Pleine Morgue” ist von Jacques Bral 1984 verfilmt worden unter dem Titel „Polar” – mit Claude Chabrol, der mit „Nada” eine weitere Manchette-Verfilmung geliefert hatte.
Eugène Tarpon wird in einen grausamen Mordfall verwickelt – einem Mädchen ist die Kehle aufgeschlitzt worden. Man merkt sehr schnell, dass es um den Täter nicht eigentlich geht, mehr um die Menschen, deren Leben verändert wird durch diesen Mord, die daran kaputt zu gehen drohen. Von zwielichtigen Gestalten wird Tarpon in die Wälder von Vernières gebracht, und dort, in einer Luxuslimousine, trifft er einen Haufen Elend, einen fetten völlig kahl, dichter schwarzer Schnurrbart. „Er machte einen sehr schlechten Eindruck auf mich. Ein exzentrischer Clochard, so was wie ein heruntergekommener, aber mit einem Mercedes ausgestatteter, ehemaliger hoher Beamter des Osmanischen Reiches. Das ergab keinen Zusammenhang. Ich empfand alles als vollkommen zusammenhanglos. Ich versuchte überflüssigerweise in den sehr langen Lauf der Beretta zu sehen . . . Endlich beugte er sich etwas vor, streckte die linke Hand aus . . . Er nahm einen Batterierasierer heraus, stellte ihn an und rasierte sich. Und der Typ hörte nicht auf, mich anzublicken. Er schnitt sämtliche Grimassen, die man gewöhnlich beim Rasieren macht. Er reckte den Hals, um die Haut zu straffen, zog mit den Fingern die Wülste auseinander, um mit allen Haaren kurzen Prozeß zu machen und starrte mich hartnäckig an, weinte hartnäckig, geräuschlos, viel. Ich hatte wirklich Schiß. ”
Die letzte der merkwürdigen Begegnungen wird Tarpon zum tapferen Schneiderlein führen, und ein Tropfen Blut fällt von der Decke auf seine Hand. Das ist das wahre Mysterium: „Das Blut war nicht mehr frisch. Es war schon geronnen. Doch der allerletzte Tropfen hatte sich einen Weg durch den blutgetränkten Dielenboden gebahnt, um mir auf die Hand zu fallen. ”
FRITZ GÖTTLER
JEAN-PATRICK MANCHETTE: Volles Leichenhaus. Aus dem Französischen von Christina Mansfeld und Stefan Linster. Distel Literaturverlag, Heilbronn 2000. 200 Seiten, 18 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Lesetip zum Wochenende von Fritz Göttler hört sich vielversprechend an: ein Krimi, aber keiner nach einfachem leicht durchschaubarem Handlungs- und Erzählmuster, denn der Autor, so Göttler, ist ein kinematographischer Autor, und: er "ist der große Desillusionist unter den französischen Erzählern." Zwar geht es auch hier, wie in jedem anständigen Krimi, um Mord, aber dass es nicht eigentlich um den Täter als vielmehr um diejenigen gehe, die durch das Verbrechen verändert wurden, werde schnell klar.

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