
Wladimir Makanin
Gebundenes Buch
Underground oder Ein Held unserer Zeit
Roman
Übersetzung: Nitschke, Annelore
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Früher, in der Sowjetzeit, war alles besser, weil alles schlimmer war. Früher maß sich der Ruhm des Schriftstellers an der Menge der unveröffentlichten Bücher, früher war die Währung Wodka noch eine harte und Petrowitsch unbestrittene moralische Autorität im riesigen heruntergekommenen Hochhaus am Rande Moskaus. Aber eine neue Zeit hat sich durchgesetzt, und weil Petrowitschs "Underground" sich ausdünnt, will er es wissen: ob die Revolte noch etwas gilt und ob das Böse noch existiert in privatisierten Zeiten. Nicht alle, die Petrowitsch auf seinem Höllengang begegnen, überleben es. Aber auch Wahnsinn ist nur Menschenwerk, und irgendwann wacht Petrowitsch in eben der psychiatrischen Anstalt auf, in der man seinem Bruder, dem Maler des Underground, damals die Genialität abgewöhnt hat. Aber Petrowitsch ist zäh, denn er ist Russe, und womöglich gewinnt er nach seiner Flucht tatsächlich wieder ein Stück vom alten Leben, von der alten Würde zurück.
Petrowitsch schlägt sich wund an der Welt und bezieht doch allen Trost von ihr. Makanin tut es ihm gleich: die Plünderung sämtlicher nationalen Mythen und Charaktere von Dostojewski bis Lermontow, das Requiem auf die Zumutungen von Metaphysik und Gosse wird unversehens zur Liebeserklärung an den gefallenen, den geschundenen, aber nicht kleinzukriegenden Menschen.
Petrowitsch schlägt sich wund an der Welt und bezieht doch allen Trost von ihr. Makanin tut es ihm gleich: die Plünderung sämtlicher nationalen Mythen und Charaktere von Dostojewski bis Lermontow, das Requiem auf die Zumutungen von Metaphysik und Gosse wird unversehens zur Liebeserklärung an den gefallenen, den geschundenen, aber nicht kleinzukriegenden Menschen.
Aus der Nacht zwischen zwei Welten, aus dem Umbruch der Gesellschaft lässt Makanin ein Schlachtengemälde des Alltags erstehen, ein grausam realistisches Märchen von barocker Wucht, ein Hohelied und einen Abgesang auf die "russische Seele".
Wladimir Makanin, geb. 1937 in Orsk, war Mathematiker und Filmemacher, bevor er 1965 literarisch debütierte. Makanin gilt heute als »Klassiker« unter den gegenwärtigen russischen Schriftstellern. 1993 erhielt er den Booker-Preis, 1998 den Puschkin Preis für das Gesamtwerk, 1999 den russischen Staatspreis, 2001 den italienischen Penne-Preis und 2012 den Europäischen Preis für Literatur der Stadt Straßburg.
Produktdetails
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- Originaltitel: Andegraund ili Geroj naschego wremeni
- Seitenzahl: 700
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 829g
- ISBN-13: 9783630871509
- ISBN-10: 363087150X
- Artikelnr.: 11208751
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Sachte, Väterchen, nicht so arg!
Blick aus der Moskauer Gosse auf ein Panorama der Zerstörung: Wladimir Makanins bewegender Roman "Underground oder Ein Held unserer Zeit"
Ein Reich ist untergegangen, unblutig zwar, aber Blut war ja zuvor im Übermaß geflossen, von der Gründung bis zum Zusammenbruch. Jetzt sind die Menschen verunsichert, sie fürchten das Neue und trauern, kaum ist sie vorüber, einer schäbigen Vergangenheit nach. Auf jeden Krisengewinnler und Untergangsprofiteur kommen hundert Verlierer, die nicht wissen, wie sie sich länger durchschlagen sollen. In den Trümmern des zerschlagenen Imperiums sammelt sich der Unrat, in den Ritzen der Ruinen nisten Niedertracht und Schmarotzertum.
Petrowitsch
Blick aus der Moskauer Gosse auf ein Panorama der Zerstörung: Wladimir Makanins bewegender Roman "Underground oder Ein Held unserer Zeit"
Ein Reich ist untergegangen, unblutig zwar, aber Blut war ja zuvor im Übermaß geflossen, von der Gründung bis zum Zusammenbruch. Jetzt sind die Menschen verunsichert, sie fürchten das Neue und trauern, kaum ist sie vorüber, einer schäbigen Vergangenheit nach. Auf jeden Krisengewinnler und Untergangsprofiteur kommen hundert Verlierer, die nicht wissen, wie sie sich länger durchschlagen sollen. In den Trümmern des zerschlagenen Imperiums sammelt sich der Unrat, in den Ritzen der Ruinen nisten Niedertracht und Schmarotzertum.
Petrowitsch
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scheint das nicht zu kümmern. Insignie seines Daseins ist die alte Schreibmaschine, die er nachts an den Bettpfosten kettet, damit sie ihm nicht im Schlaf gestohlen wird. Geschrieben hat er schon lange nicht mehr, die Manuskripte seiner unveröffentlichten Erzählungen hat er irgendwann verloren, wahrscheinlich vergilben sie in den schäbigen Büros schäbiger Literaturzeitschriften, aber der altertümliche Apparat, sein einziger Besitz, genügt, die Aura des Schriftstellers aufrechtzuerhalten. Petrowitsch ist ein Untergrunddichter. Seine Haltung ist sein Werk. Er ist eine Legende.
Eine Legende ohne Beruf, geregeltes Einkommen oder festen Wohnsitz. Das gehört sich so für einen "UGler", wie die Untergrundautoren sich stolz bezeichnen. Petrowitsch hat Prinzipien. Er stiehlt, säuft und liest in der nächtlichen Metro gestrandete Frauen auf. Petrowitsch mag unglückliche Frauen. Sie sind leichter zu verführen. Zwei Menschen bringt er auf heimtückische Weise um, letztlich aus Gründen der Ehre. Wenn es sein muß, schläft er unter verlausten Decken, die steif sind von den in ihnen getrockneten menschlichen Ausscheidungen. Aber er hat Prinzipien.
Seine Residenz ist das "Wohnheim", ein schier endloses labyrinthisches Wohnsilo, heruntergekommene Heimstatt der Werktätigen. Hier geht Petrowitsch der unregelmäßigen Beschäftigung eines Wohnungshüters nach: Zumal die etwas bessergestellten Mieter bitten ihn, während ihrer Dienstreisen oder Krankenhausaufenthalte nach dem Rechten zu sehen. Petrowitsch soll Blumen gießen und Hunde füttern, vor allem aber Einbrecher abschrecken. Vorsicht ist geboten, denn die Sitten sind rauh: Hin und wieder nutzt ein Nachbar den Leerstand einer Wohnung aus, um mit dem Vorschlaghammer durch die Wand zu brechen und ein Zimmer zu arrondieren. Kommt der Eigentümer zurück, ist die Tür zugemauert. Wohnraum ist ein knappes Gut. Und recht hat immer der Stärkere - solange nicht ein Schlauerer kommt und ihn übertölpelt. Brutalität und Verschlagenheit sind die zukunftsträchtigsten Eigenschaften in einer Gesellschaft, die den Kapitalismus erwartet wie die alte Jungfer den späten Bräutigam: nervös und ängstlich, ungläubig und euphorisch, geil und gierig. Jetzt wird alles anders! Oder ist es womöglich doch schon zu spät?
Das ist Rußland zu Beginn der neunziger Jahre, wie Wladimir Makanin es sieht. Makanin, 1937 in Orsk im Ural geboren und an Moskauer Hochschulen als Mathematiker, Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildet, gehört seit vielen Jahren zu den bekanntesten Schriftstellern seiner Heimat. Ein Autor des Untergrunds war er nie, schon zu Breschnews Zeiten konnte er problemlos publizieren. Sein Thema war und ist das Leben in der Metropole Moskau, seine Helden sind Kleinbürger und Angehörige der Mittelschicht, kleine Ganoven und Außenseiter. Makanin, der sich in der Tradition Gogols sieht, gilt in seiner Heimat als Schüler der russischen Klassiker, und die Verweise auf Werke der russischen Literatur sind in seinem neuen Roman so zahlreich wie unübersehbar. Zwei finden sich bereits im Titel: "Underground oder Ein Held unserer Zeit" verweist auf Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" und auf Lermontows "Ein Held unserer Zeit", dem auch das vorangestellte Motto entnommen ist: "Der Held . . . ist ein Bildnis, aber nicht eines einzelnen Menschen: Es ist ein Bildnis, das sich aus allen Lastern unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung zusammensetzt."
Lermontow litt unter der gesellschaftlichen Stagnation unter der Herrschaft Zar Nikolais, Makanin zeigt eine Gesellschaft in der Phase nach der Stagnation. Aber der Aufbruch ist nicht weniger zerstörerisch als die zähen Jahre der Sowjetherrschaft. Wer "Underground" liest, sieht eine zerstörte Gesellschaft mit den Augen eines zerstörten Künstlers.
Auf den siebenhundert Seiten dieses aus zahllosen Episoden zusammengesetzten Panoramas der russischen Gegenwart gibt es Anspielungen auf Gogol und Bulgakow, Turgenjew, Solschenizyn und viele andere. Manches ist offensichtlich und wird schon in den Kapitelüberschriften angesprochen, vieles andere dürfte wohl nur von Kennern der russischen Literatur bemerkt werden. Makanins Erzählweise ist postmodern, ausufernd, abschweifend, in der Chronologie vor und zurück springend. Er liebt das Zitat und die Anspielung, den Wechsel von philosophischer Reflexion und derber Fäkalsprache, kalter Beobachtung und pathetischer Innenschau. Rastlos läßt er Petrowitsch durch einige wenige Schauplätze streifen: Das Wohnheim, ein Obdachlosenasyl, in das Petrowitsch für kurze Zeit ausweichen muß, und die Psychiatrie, wo er drei schreckliche Monate verbringt, sind die wesentlichen Orte der Handlung.
Das Wohnheim, ein Mikrokosmos, in dem das ganze Land gespiegelt wird, gleicht Dantes Fegefeuer, eine Kleinbürger- und Proletenhölle, in der Suff, Gewalt und dumpfe Sexualität herrschen. Makanin ist ein gnadenloser Erzähler, er liebt das Detail, nicht seine Figuren. Die große russische Seele zeigt er als Fluß, in den jahrzehntelang ungefilterte Industrieabwässer geleitet wurden: eine stinkende Kloake, ökologisch tot. Der Sauerstoffanteil im Wasser geht gegen Null, aber eine mutierte Krötenart vermag selbst unter diesen Bedingungen zu überleben: Es ist der postkommunistische Großstadtbewohner, der sich mühsam, aber unbeugsam vorwärtsschleppt. Er stützt sich auf zwei Krücken, links der Wodka, rechts der Diminutiv, die alles verdeckende, alles versüßende Kraft der für die russische Sprache so typischen Verkleinerungsform, die noch den knüppelschwingenden Polizeischergen sprachlich in Watte packt: Sachte, Väterchen, nicht so arg!
Sympathie hegt Makanin allenfalls für seinen Erzähler, der alles beobachtet, nicht zuletzt sich selbst. Petrowitsch hangelt sich an morschen Lianen von Auftrag zu Auftrag, von Wohnung zu Wohnung, ein postkommunistischer Großstadt-Tarzan, zerlumpt und zerrissen, eine Mischung aus Don Quijote und Charles Bukowski, "kein ganzer Narr, doch auch nicht Weiser", wie François Villon schrieb. Petrowitsch ist ein Überlebenskünstler in der Gosse, ein abgezockter Straßenköter, der Heidegger liest, schon mal eine volltrunkene Dichterin aus einer der im Wohnheim üblichen Massenvergewaltigungen freikämpft und über die russische Literatur schwadroniert. Mitunter kommt es dabei zu interessanten Einsichten: "Tschechow hat trefflich gesagt, daß er den Sklaven tropfenweise aus sich ausgepreßt hat. Aber hat auch trefflich verschwiegen, womit er die dabei entstandene Leere gefüllt hat. Mit Worten? Das wäre naheliegend . . . Aber unsere reale postsklavische Leere füllt sich leider mit dem, was gerade kommt. So funktioniert jetzt der Austausch: Du preßt den Sklaven aus dir raus, aber in dein leeres (postsklavisches) Vakuum drängt von außen alles mögliche herein - aus einem Arsenal, über das du nicht Herr bist."
Derlei geht Petrowitsch durch den Kopf, während er auf der Polizeiwache auf die Vernehmung durch einen ehrgeizigen und sadistischen "Hilfsbullen" wartet. Er hatte in einer Schlange nach Zucker angestanden, irgend jemand drängte sich vor, es gab Geschrei, Gerempel, schließlich eine Schlägerei, bis die Miliz kommt und alle mitnimmt. Nun werden sie kujoniert und ausgenommen: Wer zahlt, darf gehen. Petrowitsch hat nichts außer seiner Wut. Er dreht den Spieß um und schlägt den Polizisten, weil er dessen überhebliches Grinsen nicht länger erträgt.
Grün und blau geprügelt, landet Petrowitsch in der Zelle, inmitten von Betrunkenen, die, im eigenen Urin liegend, ihren Rausch ausschlafen. Kaum zwanzig Seiten umfaßt dieses Kapitel, das mit einer Meditation über Malewitsch und das Schlangestehen beginnt und über die Unfähigkeit der Russen, den wahren Wert dieser Tätigkeit zu erkennen: "Wir gewinnen dem Gedanken nichts ab, daß in den langweiligsten Minuten des Stehens, gestern wie heute, das Allerwichtigste in uns geschieht: Die Seele lebt." Und sie lebt auch, als Petrowitsch nachts in der Zelle erwacht und einen Betrunkenen beobachtet, "die fröstelnde, unglückliche Gestalt eines Menschen, der auf einem Bein tänzelte und mit dem anderen in das Hosenbein zielte". Ist das nicht schwarz lackierter Kitsch? Nein. Denn Makanin versteht es meisterhaft, Petrowitsch mit all seinen widersprüchlichen Eigenschaften glaubwürdig darzustellen: Dieser gefallene Held des Untergrunds ist nicht böse, er will nicht schlecht sein, ihm fehlt allerdings auch jeder Ehrgeiz, besser zu sein, als die Umstände erlauben. Das Ergebnis: ein Mensch, der sich treiben läßt, weil er glaubt, daß er in einer Gesellschaft lebt, in der er seine Würde nur erhalten kann, wenn er auf sie verzichtet. Als Künstler geht er keinen Kompromiß ein, nicht der Zensur oder den Verlagen gegenüber, nicht gegenüber dem Westen und auch nicht der Kunst gegenüber. Er ist ein Autor ohne Publikation, aber nicht ohne Werk. Nicht daß er unbeugsam und kompromißlos war, sondern daß er als unbeugsam und kompromißlos gilt, ist sein künstlerisches Vermächtnis, ein Nachruhm. Erst wenn er den Lockrufen der Kollegen und Verleger nachgäbe und tatsächlich etwas schriebe, verlöre er seine Würde.
Die eindringlichsten Passagen des Romans spielen in der Psychiatrie, wo Petrowitsch zunächst seinen Bruder besucht, bevor er selbst in die Fänge einer verbrecherischen Ärzteschaft gerät. Auch Wenja, der Maler, ist eine Legende. Wegen einer Lappalie geriet er schon als Student ins Visier des KGB, den er herausforderte, sorglos, stolz und überheblich. Er landet in der geschlossenen Anstalt, wo Regimekritiker und Verbrecher mit Neuroleptika behandelt werden, die irreparable Hirnschäden hervorriefen. Auch Wenja, ein sabberndes, radebrechendes Wesen, ist ein Held seiner Zeit.
Am Ende dieses ausufernden und monströsen, verstörenden und anrührenden Buches bringt Petrowitsch seinen Bruder nach einem gemeinsamen Ausflug zurück in die Psychiatrie, an jenen Ort, an dem sich das menschenzerstörende System der Sowjetzeit gänzlich unverhüllt zeigte. Beide sind am Ende ihrer Kräfte, nun kriechen sie auf allen vieren den Folterknechten in ihren Ärztekitteln entgegen. Zwei große russische Seelen und zwei Künstler ohne Werk, Doppelgänger, die um Haaresbreite dasselbe schreckliche Schicksal geteilt hätten: im Namen der Kunst um den Verstand gebracht zu werden. Wenja erscheint dabei als der wahre Künstler, ein Gottesnarr, aus der großen Tradition Dostojewskis von einem großen Autor in das geschundene, chaotische Rußland der Gegenwart versetzt.
Wladimir Makanin: "Underground oder Ein Held unserer Zeit". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 701 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Legende ohne Beruf, geregeltes Einkommen oder festen Wohnsitz. Das gehört sich so für einen "UGler", wie die Untergrundautoren sich stolz bezeichnen. Petrowitsch hat Prinzipien. Er stiehlt, säuft und liest in der nächtlichen Metro gestrandete Frauen auf. Petrowitsch mag unglückliche Frauen. Sie sind leichter zu verführen. Zwei Menschen bringt er auf heimtückische Weise um, letztlich aus Gründen der Ehre. Wenn es sein muß, schläft er unter verlausten Decken, die steif sind von den in ihnen getrockneten menschlichen Ausscheidungen. Aber er hat Prinzipien.
Seine Residenz ist das "Wohnheim", ein schier endloses labyrinthisches Wohnsilo, heruntergekommene Heimstatt der Werktätigen. Hier geht Petrowitsch der unregelmäßigen Beschäftigung eines Wohnungshüters nach: Zumal die etwas bessergestellten Mieter bitten ihn, während ihrer Dienstreisen oder Krankenhausaufenthalte nach dem Rechten zu sehen. Petrowitsch soll Blumen gießen und Hunde füttern, vor allem aber Einbrecher abschrecken. Vorsicht ist geboten, denn die Sitten sind rauh: Hin und wieder nutzt ein Nachbar den Leerstand einer Wohnung aus, um mit dem Vorschlaghammer durch die Wand zu brechen und ein Zimmer zu arrondieren. Kommt der Eigentümer zurück, ist die Tür zugemauert. Wohnraum ist ein knappes Gut. Und recht hat immer der Stärkere - solange nicht ein Schlauerer kommt und ihn übertölpelt. Brutalität und Verschlagenheit sind die zukunftsträchtigsten Eigenschaften in einer Gesellschaft, die den Kapitalismus erwartet wie die alte Jungfer den späten Bräutigam: nervös und ängstlich, ungläubig und euphorisch, geil und gierig. Jetzt wird alles anders! Oder ist es womöglich doch schon zu spät?
Das ist Rußland zu Beginn der neunziger Jahre, wie Wladimir Makanin es sieht. Makanin, 1937 in Orsk im Ural geboren und an Moskauer Hochschulen als Mathematiker, Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildet, gehört seit vielen Jahren zu den bekanntesten Schriftstellern seiner Heimat. Ein Autor des Untergrunds war er nie, schon zu Breschnews Zeiten konnte er problemlos publizieren. Sein Thema war und ist das Leben in der Metropole Moskau, seine Helden sind Kleinbürger und Angehörige der Mittelschicht, kleine Ganoven und Außenseiter. Makanin, der sich in der Tradition Gogols sieht, gilt in seiner Heimat als Schüler der russischen Klassiker, und die Verweise auf Werke der russischen Literatur sind in seinem neuen Roman so zahlreich wie unübersehbar. Zwei finden sich bereits im Titel: "Underground oder Ein Held unserer Zeit" verweist auf Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" und auf Lermontows "Ein Held unserer Zeit", dem auch das vorangestellte Motto entnommen ist: "Der Held . . . ist ein Bildnis, aber nicht eines einzelnen Menschen: Es ist ein Bildnis, das sich aus allen Lastern unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung zusammensetzt."
Lermontow litt unter der gesellschaftlichen Stagnation unter der Herrschaft Zar Nikolais, Makanin zeigt eine Gesellschaft in der Phase nach der Stagnation. Aber der Aufbruch ist nicht weniger zerstörerisch als die zähen Jahre der Sowjetherrschaft. Wer "Underground" liest, sieht eine zerstörte Gesellschaft mit den Augen eines zerstörten Künstlers.
Auf den siebenhundert Seiten dieses aus zahllosen Episoden zusammengesetzten Panoramas der russischen Gegenwart gibt es Anspielungen auf Gogol und Bulgakow, Turgenjew, Solschenizyn und viele andere. Manches ist offensichtlich und wird schon in den Kapitelüberschriften angesprochen, vieles andere dürfte wohl nur von Kennern der russischen Literatur bemerkt werden. Makanins Erzählweise ist postmodern, ausufernd, abschweifend, in der Chronologie vor und zurück springend. Er liebt das Zitat und die Anspielung, den Wechsel von philosophischer Reflexion und derber Fäkalsprache, kalter Beobachtung und pathetischer Innenschau. Rastlos läßt er Petrowitsch durch einige wenige Schauplätze streifen: Das Wohnheim, ein Obdachlosenasyl, in das Petrowitsch für kurze Zeit ausweichen muß, und die Psychiatrie, wo er drei schreckliche Monate verbringt, sind die wesentlichen Orte der Handlung.
Das Wohnheim, ein Mikrokosmos, in dem das ganze Land gespiegelt wird, gleicht Dantes Fegefeuer, eine Kleinbürger- und Proletenhölle, in der Suff, Gewalt und dumpfe Sexualität herrschen. Makanin ist ein gnadenloser Erzähler, er liebt das Detail, nicht seine Figuren. Die große russische Seele zeigt er als Fluß, in den jahrzehntelang ungefilterte Industrieabwässer geleitet wurden: eine stinkende Kloake, ökologisch tot. Der Sauerstoffanteil im Wasser geht gegen Null, aber eine mutierte Krötenart vermag selbst unter diesen Bedingungen zu überleben: Es ist der postkommunistische Großstadtbewohner, der sich mühsam, aber unbeugsam vorwärtsschleppt. Er stützt sich auf zwei Krücken, links der Wodka, rechts der Diminutiv, die alles verdeckende, alles versüßende Kraft der für die russische Sprache so typischen Verkleinerungsform, die noch den knüppelschwingenden Polizeischergen sprachlich in Watte packt: Sachte, Väterchen, nicht so arg!
Sympathie hegt Makanin allenfalls für seinen Erzähler, der alles beobachtet, nicht zuletzt sich selbst. Petrowitsch hangelt sich an morschen Lianen von Auftrag zu Auftrag, von Wohnung zu Wohnung, ein postkommunistischer Großstadt-Tarzan, zerlumpt und zerrissen, eine Mischung aus Don Quijote und Charles Bukowski, "kein ganzer Narr, doch auch nicht Weiser", wie François Villon schrieb. Petrowitsch ist ein Überlebenskünstler in der Gosse, ein abgezockter Straßenköter, der Heidegger liest, schon mal eine volltrunkene Dichterin aus einer der im Wohnheim üblichen Massenvergewaltigungen freikämpft und über die russische Literatur schwadroniert. Mitunter kommt es dabei zu interessanten Einsichten: "Tschechow hat trefflich gesagt, daß er den Sklaven tropfenweise aus sich ausgepreßt hat. Aber hat auch trefflich verschwiegen, womit er die dabei entstandene Leere gefüllt hat. Mit Worten? Das wäre naheliegend . . . Aber unsere reale postsklavische Leere füllt sich leider mit dem, was gerade kommt. So funktioniert jetzt der Austausch: Du preßt den Sklaven aus dir raus, aber in dein leeres (postsklavisches) Vakuum drängt von außen alles mögliche herein - aus einem Arsenal, über das du nicht Herr bist."
Derlei geht Petrowitsch durch den Kopf, während er auf der Polizeiwache auf die Vernehmung durch einen ehrgeizigen und sadistischen "Hilfsbullen" wartet. Er hatte in einer Schlange nach Zucker angestanden, irgend jemand drängte sich vor, es gab Geschrei, Gerempel, schließlich eine Schlägerei, bis die Miliz kommt und alle mitnimmt. Nun werden sie kujoniert und ausgenommen: Wer zahlt, darf gehen. Petrowitsch hat nichts außer seiner Wut. Er dreht den Spieß um und schlägt den Polizisten, weil er dessen überhebliches Grinsen nicht länger erträgt.
Grün und blau geprügelt, landet Petrowitsch in der Zelle, inmitten von Betrunkenen, die, im eigenen Urin liegend, ihren Rausch ausschlafen. Kaum zwanzig Seiten umfaßt dieses Kapitel, das mit einer Meditation über Malewitsch und das Schlangestehen beginnt und über die Unfähigkeit der Russen, den wahren Wert dieser Tätigkeit zu erkennen: "Wir gewinnen dem Gedanken nichts ab, daß in den langweiligsten Minuten des Stehens, gestern wie heute, das Allerwichtigste in uns geschieht: Die Seele lebt." Und sie lebt auch, als Petrowitsch nachts in der Zelle erwacht und einen Betrunkenen beobachtet, "die fröstelnde, unglückliche Gestalt eines Menschen, der auf einem Bein tänzelte und mit dem anderen in das Hosenbein zielte". Ist das nicht schwarz lackierter Kitsch? Nein. Denn Makanin versteht es meisterhaft, Petrowitsch mit all seinen widersprüchlichen Eigenschaften glaubwürdig darzustellen: Dieser gefallene Held des Untergrunds ist nicht böse, er will nicht schlecht sein, ihm fehlt allerdings auch jeder Ehrgeiz, besser zu sein, als die Umstände erlauben. Das Ergebnis: ein Mensch, der sich treiben läßt, weil er glaubt, daß er in einer Gesellschaft lebt, in der er seine Würde nur erhalten kann, wenn er auf sie verzichtet. Als Künstler geht er keinen Kompromiß ein, nicht der Zensur oder den Verlagen gegenüber, nicht gegenüber dem Westen und auch nicht der Kunst gegenüber. Er ist ein Autor ohne Publikation, aber nicht ohne Werk. Nicht daß er unbeugsam und kompromißlos war, sondern daß er als unbeugsam und kompromißlos gilt, ist sein künstlerisches Vermächtnis, ein Nachruhm. Erst wenn er den Lockrufen der Kollegen und Verleger nachgäbe und tatsächlich etwas schriebe, verlöre er seine Würde.
Die eindringlichsten Passagen des Romans spielen in der Psychiatrie, wo Petrowitsch zunächst seinen Bruder besucht, bevor er selbst in die Fänge einer verbrecherischen Ärzteschaft gerät. Auch Wenja, der Maler, ist eine Legende. Wegen einer Lappalie geriet er schon als Student ins Visier des KGB, den er herausforderte, sorglos, stolz und überheblich. Er landet in der geschlossenen Anstalt, wo Regimekritiker und Verbrecher mit Neuroleptika behandelt werden, die irreparable Hirnschäden hervorriefen. Auch Wenja, ein sabberndes, radebrechendes Wesen, ist ein Held seiner Zeit.
Am Ende dieses ausufernden und monströsen, verstörenden und anrührenden Buches bringt Petrowitsch seinen Bruder nach einem gemeinsamen Ausflug zurück in die Psychiatrie, an jenen Ort, an dem sich das menschenzerstörende System der Sowjetzeit gänzlich unverhüllt zeigte. Beide sind am Ende ihrer Kräfte, nun kriechen sie auf allen vieren den Folterknechten in ihren Ärztekitteln entgegen. Zwei große russische Seelen und zwei Künstler ohne Werk, Doppelgänger, die um Haaresbreite dasselbe schreckliche Schicksal geteilt hätten: im Namen der Kunst um den Verstand gebracht zu werden. Wenja erscheint dabei als der wahre Künstler, ein Gottesnarr, aus der großen Tradition Dostojewskis von einem großen Autor in das geschundene, chaotische Rußland der Gegenwart versetzt.
Wladimir Makanin: "Underground oder Ein Held unserer Zeit". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 701 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Sebastian Handke ist beeindruckt von diesem Roman, der seiner Zählung nach von mehr als 100 Figuren bevölkert wird und trotzdem ein schlüssiges "psychohistorisches Tableau" der Moskauer Gegenwart entwirft. Im Mittelpunkt steht Petrowitsch, ein Schriftsteller und Wächter eines Hochhauskomplexes, der nie literarische Anerkennung erfahren hat und der deswegen sein Leben konsequent in einer existenzialistischen und beobachtenden Haltung verbringt. Dieser Erzähler ist es auch, der dieses riesige Romanpersonal verwaltet, und "dem keine menschliche Regung und kein sarkastischer Kommentar fremd ist". Neben diesem komplexen Unternehmen schafft es der Autor Wladimir Makanin in den Augen des Rezensenten noch, einen "größenwahnsinnigen Metaroman über russische Literaturgeschichte" in seinem Roman unterzubringen, der voller Referenzen an literarische Einflüsse steckt. Das klingt ein bisschen überfrachtet. Doch Handke hat seinen Spaß an dem Buch: ihn lässt dieser Roman atemlos, aber offensichtlich glücklich zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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