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Medea, die zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis ist die Hauptfigur in Christa Wolfs Roman. Nachdem sie dem Mord an der Tochter des korinthischen Königs Kreon auf die Spur gekommen ist, wird sie aus Korinth verbannt. Ihr tragisches Schicksal - von ihr selbst und fünf Menschen ihrer Umgebung, Freunden wie Feinden, in Monologen erzählt - läßt vermuten, daß sich die Verhaltensweisen der Gesellschaft nur wenig geändert haben, seit Geschichte überliefert und geschrieben wird.

Produktbeschreibung
Medea, die zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis ist die Hauptfigur in Christa Wolfs Roman. Nachdem sie dem Mord an der Tochter des korinthischen Königs Kreon auf die Spur gekommen ist, wird sie aus Korinth verbannt. Ihr tragisches Schicksal - von ihr selbst und fünf Menschen ihrer Umgebung, Freunden wie Feinden, in Monologen erzählt - läßt vermuten, daß sich die Verhaltensweisen der Gesellschaft nur wenig geändert haben, seit Geschichte überliefert und geschrieben wird.
Autorenporträt
Christa Wolf, 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, lebt mit ihrem Mann Gerhard Wolf in Berlin. Sie zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart; ihr umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR (1963), dem Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1977), dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (1980), dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur (1985), dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (1987), dem Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur (1987), der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Brüssel (1990), dem Orden Officier des Arts et des Lettres (1990), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1999) und dem Nelly Sachs-Preis (1999). 2009 wurde Christa Wolf zur Ehrenpräsidentin des P.E.N. ernannt. 2010 erhielt sie den Thomas-Mann-Preis für ihr Lebenswerk.
Im Dezember 2011 verstarb Christa Wolf in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.1996

Honecker heißt jetzt Aietes
Aber Medea wird verteufelt human: Christa Wolf schreibt den Mythos neu · Von Manfred Fuhrmann

Die griechischen Mythen dürfen umerzählt werden: Davon leben sie, davon haben sie ihre leuchtenden Spuren die Jahrtausende hindurch hinterlassen. Christa Wolfs neue "Medea" befolgt dieses Prinzip, sie befolgt es so entschieden, daß sie sich gründlich von ihren etwa zweihundert Vorgängerinnen unterscheidet: Aus der bösen Zauberin und Verbrecherin, aus der Mörderin ihrer eigenen Kinder ist eine makellose, fast möchte man sagen "verteufelt humane" Heldin geworden.

Aristoteles hätte Bedenken geäußert (er gilt auf diesem Felde noch stets als Autorität): Er erlaubte Veränderungen, aber nicht die Verkehrung eines Mythos in sein Gegenteil. Er meinte in seiner "Poetik", daß man die altüberlieferten Fabeln nicht "auflösen" dürfe: Klytämnestra müsse durch die Hand Orests sterben. Man könnte hiergegen einwenden, daß Medeas ärgste Tat, die Ermordung der beiden Söhne, gar nicht "altüberliefert" sei: Wir wissen, daß erst Euripides diesen Zug erfunden hat; in der ursprünglichen Fassung hatten die Leute des Königs von Korinth die Kinder umgebracht. Was Euripides knüpfte, darf ein Nachfolger wieder lösen, und vor allem: In der Kunst beweist das Ergebnis, ob etwas erlaubt ist oder nicht. Die neue Version gewinnt der vielverwendeten Geschichte mit verblüffend einfachen Mitteln unerwarteten Glanz ab. Der Roman destruiert das traditionelle Medea-Bild und baut zugleich Stück für Stück ein anderes auf: nicht durch Beiseiteschieben der Tradition, sondern durch deren Umdeutung. Die neue Version mag den alten Mythos ins Gegenteil verkehren, sie tut dies jedoch, indem sie zugleich ein hinlängliches Maß an Kontinuität wahrt. Die verwandelte Medea ist immer noch Medea.

Jason fordert von seinem Onkel Pelias die ihm von Rechts wegen zustehende Herrschaft über Jolkos. Pelias erklärt sich bereit abzutreten, wenn Jason ihm das Goldene Vlies bringe, das Fell eines Widders, das im fernen Kolchis am Ostufer des Schwarzen Meeres bewahrt wird. So kommt es zur Expedition der Argo, für die Jason fünfzig Helden zu gewinnen vermag. Nach mancherlei Zwischenfällen am Ziel angelangt, bittet er den dortigen König um das Fell - und sieht sich vor weitere Hindernisse gestellt: Er muß mit feuerschnaubenden Stieren pflügen und gegen Männer kämpfen, die aus Drachenzähnen hervorgegangen sind. Hier beginnt der Part der Königstochter Medea: Sie verliebt sich in Jason und hilft ihm mit ihren Zauberkünsten, die Hindernisse zu überwinden, auch den Drachen, der das Fell bewacht.

Die Argonauten fliehen mit Medea und deren Bruder Absyrtos. Um die sie verfolgenden Kolcher aufzuhalten, tötet Medea den Bruder und wirft die Leiche stückweise ins Meer: Die Verfolger verlieren Zeit durch das Einsammeln. Wieder in Jolkos, wird Jason enttäuscht: Pelias denkt nicht daran, vom Throne zu weichen. Jason und Medea finden Zuflucht in Korinth; aus ihrem Bunde gehen zwei Knaben hervor. Dann aber verläßt Jason seine Frau, um Glauke, die Tochter des Königs von Korinth, zu heiraten. Medea, des Landes verwiesen, rächt sich zuvor noch furchtbar: Ein giftiges Gewand vernichtet Glauke, und die Knaben werden von der Mutter mit eigener Hand umgebracht.

So in groben Zügen der Stoff, aus dem die euripideische "Medea" gemacht ist: ein schlimmer Stoff mit barbarischen, grausigen Ingredienzen. Die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit, auch in der griechischen Tragödie im allgemeinen erlaubt, ja gefordert, verbietet sich hier. Die euripideische Medea ist ein Horrendum, paradoxerweise gerade deshalb nicht unerträglich, weil sie sich durch ihre Entrückung als Wesen offenbart, das nicht mit menschlichen Maßen gemessen werden darf.

Die späteren Zeiten mochten von der faszinierenden Gestalt nicht lassen, wobei sie versuchten, sie, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch einer Rechtfertigung anzunähern. Jasons schnöde Untreue war von Anfang an gegeben; Seneca fügte hinzu, daß die Verbannte ihre Kinder nicht mitnehmen darf. Dies ist der Hintergrund, dessen Kenntnis Christa Wolf beim Leser voraussetzt. Schon die Form ihrer "Medea" bricht mit der Tradition. Denn bisher war diese Gestalt (von Ovid abgesehen) ganz aufs Drama fixiert. Christa Wolf präsentiert ihre Geschichte als Roman besonderer Art: Es gibt keinen epischen Erzähler: es treten insgesamt sechs Beteiligte auf, die sich in abgezirkelter Reihenfolge monologisierend zum Geschehen äußern. Die Zeit schreitet von Monolog zu Monolog fort. Diese Form hat im Briefroman mit mehreren Personen ihr nächstes Analogon. Sie erinnert zugleich an die "Kassandra": doch während dort die Titelfigur mit einem einzigen großen Monolog das Ganze bestreitet, sind hier der Bericht und die Reflexionen dazu auf mehrere Rollen verteilt.

Der Inhalt demontiert das überkommene Medea-Bild. Schon der erste Monolog der Titelheldin bringt eine Überraschung: Nicht aus Liebe zu Jason verließ Medea ihre Heimat, sondern deshalb, weil sie dort, "in diesem verlorenen, verdorbenen Kolchis nicht bleiben konnte". Das erstgenannte Motiv wurde ihr lediglich von ihrer Umgebung unterstellt: "Ich mußte ihm, Jason, unrettbar verfallen sein. So sehen sie es alle, die Korinther sowieso; für die erklärt und entschuldigt die Liebe der Frauen zu einem Mann alles."

Sind es hier die konventionellen Betrachtungsweisen, die das Handeln Medeas falsch deuten, so scheinen sich beim nächsten Fall schon Vorurteile und böse Absichten einzumischen. Medea hilft, aber nicht durch Zauber, wie die Korinther sagen, sondern durch Kenntnisse und aufgeklärte Rationalität - "seitdem gilt sie als böse Frau". Jason (zweiter Monolog) bestätigt und erweitert diese Aussage: Medea und alle Kolcher, die mit ihr kamen, nehmen sich in Korinth fremdartig aus, wie Wilde; sie sind unterlegen und vermögen sich nicht an die neue Umgebung anzupassen.

Die dritte Transformation ist wieder der Titelfigur in den Mund gelegt (vierter Monolog): Sie hat den Bruder gar nicht ermordet, wohl aber seine Gebeine, die sie aus Kolchis mitnahm, ins Schwarze Meer geworfen. Er wurde in Wahrheit von fanatischen Frauen umgebracht, als Opfer einer uralte Rituale wiederbelebenden Reaktion; Medea sammelte die auf einem Acker verstreuten Gliedmaßen ein. In Korinth gibt es Intrigen und Machtkämpfe: Medea, die ein Arcanum der dortigen Herrschaft, die Opferung der Prinzessin Iphinoe, erspürt hat, soll kaltgestellt werden, und hierzu gedenkt man den Vorwurf zu verwenden, daß sie die Mörderin ihres Bruders sei. An der Spitze dieser Bemühungen steht eine hinzuerfundene Figur, eine Art grauer Eminenz, der undurchsichtige Akamas ("der Unermüdliche"); als seine Helfer fungieren zwei weitere, ebenfalls von der Autorin ersonnene Nebenpersonen, die Denunzianten Agameda (etwa: "die Neunmalkluge", eine Steigerung des Namens Medea, "die Ratvolle") und Presbon ("der Ehrwürdige").

So geht es fort. Dem Motiv des giftigen Gewandes, mit dem Medea die Nebenbuhlerin Glauke straft, werden sogar zwei Abwandlungen zuteil. Medea, die Heilerin, sucht Glauke von ihrer Epilepsie zu befreien; um sie aufzuheitern, nimmt sie ihr die schwarzen Kleider und schenkt ihr leuchtend farbige. Und gegen Ende, nachdem sich Glauke durch einen Sprung in den Brunnen das Leben genommen hat, verkündet Akamas die überlieferte Version als den von Amts wegen festgestellten Hergang. Schließlich die Kinder: Medea muß sie zurücklassen, und sie werden vom Pöbel gesteinigt - Christa Wolf kehrt in diesem Punkte zur voreuripideischen Fassung zurück, allerdings nicht ohne die euripideische als Gerücht unter den Korinthern zu vermelden.

Der Monolog Glaukes, ihr einziger, steht genau in der Mitte. Die Sprecherin reflektiert über ihr Verhältnis zu Medea. Ihre Krankheit ist psychisch bedingt; Medea suchte sie zu heilen, indem sie ihr den Ursprung des Traumas bewußtmachte. Jetzt sind die beiden getrennt; man hat Glauke mit Erfolg darüber belehrt, auf was für eine gefährliche Person sie sich eingelassen hatte. Sie spricht die Parolen nach, die man ihr aufgenötigt hat, und gibt zugleich unwillentlich die Verlogenheit dieser Parolen zu erkennen: ein Meisterstück doppelbödiger Rede, in der ständig Schablonen aufeinanderliegen.

Auch sonst ist die Medea-Figur nach diesem Prinzip entworfen. Der Kern ihres Wesens hat sich nicht verändert: Sie zeigt Selbstbewußtsein und Stolz. Im übrigen sind ihre traditionellen Eigenschaften und Taten nichts als Schein, Vorurteil oder Lüge; die "wahre" Medea ist hilfreich, weiß nichts von kleinlichem Kampf um Einfluß und Macht und sucht religiösem Wahn zu steuern - und bereitet sich gerade hierdurch den Untergang. Dieser Teil der Handlung, Medeas Katastrophe, sucht Archaisches zu evozieren; er wartet mit grellen, vielleicht sogar theatralischen Motiven auf, bewirkt durch hinzuerfundene Naturereignisse und Massenszenen - hier hätte sich wohl mit weniger aufdringlichen Effekten dasselbe Ziel erreichen lassen.

Der Roman spielt im Grenzbereich von Mythos und Geschichte, irgendwann in kretisch-minoischer Zeit, als die Hethiter die Ägäis beherrschten (war das je der Fall?). Griechen kommen noch nicht vor (trotz der durchweg griechischen Namen); es gibt nur Kolchis und Korinth. Medea hat, wie erwähnt, die kolchische Heimat verlassen, weil sie die dortigen Verhältnisse für unerträglich hielt. In ihrem zweiten Monolog erklärt sie genauer, warum: Einst wurde Kolchis "von gerechten Königinnen und Königen regiert"; es war "bewohnt von Menschen, die in Eintracht miteinander lebten und unter denen der Besitz so gleichmäßig verteilt war, daß keiner den anderen beneidete . . ." Unter König Aietes jedoch, einem starrsinnigen, verknöcherten alten Herrscher, ging es abwärts: Der Hof war, statt den Handel und die Landwirtschaft zu fördern, nur noch auf Prachtentfaltung seiner selbst bedacht. In Korinth muß Medea allerdings feststellen, daß ihre Flucht vergeblich war. Sie findet dort ein weit höheres Maß an Ungleichheit vor, ohne daß sich dort noch jemand daran stört. Der Roman endet mit einem kurzen Monolog Medeas in tiefer Resignation. Die letzten Worte lauten: "Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort."

Christa Wolf zitiert zu Beginn des Werkes - als Motto - die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk: daß es ein Ineinander der Epochen gebe, welches das Trennende transparent mache - "Die Leute aus den anderen Jahrhunderten hören unser Grammophon plärren, und wir sehen durch die Zeitwände hindurch, wie sie die Hände erheben zum lecker bereiteten Mahle." Christa Wolf wünscht somit, daß man auch dieses Werk so auffassen möge, wie man derartige Werke bislang aufzufassen pflegte: als Chiffre für ein eigentlich Gemeintes, als Modell nicht für vage Humanitätsvorstellungen, sondern für Erkenntnisse oder Forderungen, die sich auf eine historische Situation beziehen.

Diese Tradition der DDR-Literatur hallt in der neuen "Medea" unüberhörbar nach. Kolchis liegt im Osten und Korinth im Westen - und sollte sich hinter der Maske des verknöcherten alten Königs Aietes kein anderer verbergen als Erich Honecker? Der Roman ist indes keine Allegorie, und Bezüge auf Faktisches haben, aufs Ganze gesehen, kein großes Gewicht. Bedeutsamer scheint, daß kein Zeigen auf wünschbare Zustände mehr stattfindet: Die Lehre ist dem Bekenntnis gewichen, und das Bekenntnis lautet: Resignation. Hiermit zieht die Autorin für sich selber und für diejenigen, die denken wie sie, die Konsequenzen aus der Lage, die das Epochenjahr 1989 geschaffen hat. Die Resignation ist nobel in des Wortes eigentlicher Bedeutung, verbunden mit Gelassenheit und ohne Rechthaberei. Man bemerkt den größeren Abstand, wenn man Reaktionen der ersten Zeit danebenhält; es ist, als ob die Autorin an sich selbst erprobt hätte, was sie im Jahre 1990 in der "Zwischenrede" auf die folgende Formel brachte: "Die Literatur wird leisten müssen, was sie immer und überall leisten muß, wird die blinden Flecken in unserer Vergangenheit erkunden müssen und die Menschen in den neuen Verhältnissen begleiten."

Christa Wolf: "Medea". Stimmen. Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied 1996. 236 S., geb., 36,- DM.

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"Ganz am Anfang ihrer Karriere als Schriftstellerin formulierte Christa Wolf in einem Essay, was Literatur ihrem Verständnis nach zu leisten hat: 'Auch heute noch kommt mir insgeheim mancher Mensch wie verzaubert vor, und ich wünsche mir oft, die Literatur wäre etwas wie ein Zauberstab, um sie alle zu erlösen: Die toten Seelen zum Leben zu erwecken, ihnen Mut zu sich selber zu machen, zu ihren unbewussten Träumen, Sehnsüchtigen und Fähigkeiten'. Mit 'Medea' beweist die Autorin, dass sie sich nicht zu viel vorgenommen hat." Hannoversche Allgemeine Zeitung