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Der Band bietet einen Überblick über die Sexualitätsgeschichte im deutschsprachigen Raum vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Es wird die ganze Bandbreite sexueller Äußerungen vorgeführt und in einem gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen interpretiert die Praktiken der bäuerlichen Bevölkerung und der städtischen Arbeiterschaft; der aufklärerische Onanie-Diskurs und die Geschlechterdebatte des 18. und 19. Jahrhunderts; die Entstehung des modernen sexuellen Subjekts und die sexuellen Wurzeln der bürgerlichen Gesellschaft. Homosexualität, Prostitution und andere Formen der "Abweichung" von…mehr

Produktbeschreibung
Der Band bietet einen Überblick über die Sexualitätsgeschichte im deutschsprachigen Raum vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Es wird die ganze Bandbreite sexueller Äußerungen vorgeführt und in einem gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen interpretiert die Praktiken der bäuerlichen Bevölkerung und der städtischen Arbeiterschaft; der aufklärerische Onanie-Diskurs und die Geschlechterdebatte des 18. und 19. Jahrhunderts; die Entstehung des modernen sexuellen Subjekts und die sexuellen Wurzeln der bürgerlichen Gesellschaft. Homosexualität, Prostitution und andere Formen der "Abweichung" von Sittlichkeit und Moral werden in ihren sozialen und individuellen Dimensionen vorgestellt.
Autorenporträt
Franz X. Eder lehrt als ao. Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Sexualitätsgeschichte hat das Problem, ihren traditionell als schlüpfrig betrachteten Gegenstand seriös in den Griff zu bekommen: das historische Modell der "Sittengeschichte", halb pikant und halb moralisch, ist längst überholt. Dann kamen Foucault und der Sozialkonstruktivismus. Mit ihnen, so Milos Vec, hält es auch der Autor. Ein bisschen schade findet es der Rezensent, dass alles Evolutionsbiologische für keiner weiteren Auseinandersetzung würdig befunden wird. Interessante Ergebnisse gibt es dennoch: etwa die Beschreibung der zunehmenden "Entkriminalisierung des Sexuellen" bei gleichzeitig fortschreitender "juristischer Normierung" auf anderen Gebieten. Es ergibt sich ein "breites Panorama", das freilich den Untertitel "Geschichte der Sexualität", so Vec, nicht rechtfertigt. Die Entstehung des Buches aus diversen Aufsätzen kann bei der Lektüre nicht unbemerkt bleiben. Zur grundsätzlichen Tendenz, den Gegenstand aus der Perspektive einer "verhaltenen Fortschrittsgeschichte" zu erzählen, hat der Rezensent eine ebenso ambivalente Haltung, wie, könnte man sagen, zum Buch als ganzem.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Abschied vom Dampfkessel-Modell
Für Franz X. Eder läßt sich die Geschichte der Sexualität politisch korrekt erzählen / Von Milos Vec

Daß der Wechsel theoretisierender Zugänge ganz neue Erzählmuster hervorbringt, wird gerade bei der jungen Disziplin der Sexualitätsgeschichte deutlich. Das Buch des Wiener Sozial- und Wirtschaftshistorikers Franz X. Eder gibt die Abhängigkeit der akademischen Sexualitätsgeschichte von der Sexualwissenschaft offen zu: Der historisierende Zugang zur Sexualität wurde stets vom moralischen Selbstbild der Gesellschaft bestimmt. Nach zahlreichen Aufklärungswellen, die nicht nur die Gesellschaft gebeutelt haben, stehen auch die Sexualitätshistoriker nun informiert, aber verunsichert vor ihrem Gegenstand. Die sexuelle Revolution ist in der Sexualitätsgeschichte gewiß passé, doch ein dominantes Nachfolgeparadigma scheint nach der Befreiung wissenschaftlich noch nicht in Sicht.

Den Anfang der Historiographie der Sexualität bildete die legendäre "Sittengeschichte", die aber weder mit der "Sittlichkeit" im Sinne Kants zu tun hatte noch mit den "guten Sitten" der Juristen. Dieses im Antiquariatskatalog zählebige Genre war seit seinen Ursprüngen vielmehr der Versuch, Sexualität so zu beschreiben, daß entweder moralisch-didaktische Absichten zum Leser gelangten oder sich dieser am erotischen Reiz delektieren konnte. Eder hingegen liebt es weder pikant noch moralisch. Er gibt sich als selbstgewisser Vertreter einer verunsicherten Wissenschaft.

Von Verunsicherung war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch nichts zu spüren. Mit Freuds psychoanalytischen Beschreibungen von Repression im Bücherregal und ihren Gegenstücken unter der Ladentheke ließ sich Befreiung von bürgerlichen Zwängen im historiographischen Gewand einfordern. Klischeehafte Vorstellungen vom "freizügigen Mittelalter" oder von den "unverdorbenen Sitten der einfachen Landleute" in der Vormoderne wurden gegen die Zivilisierungsversuche der Moderne ausgespielt. Irgendwo mußte sich ja der Druck kanalisieren, den die Selbst- und Fremdzwänge erzeugten. Die methodischen Schwächen der Studien standen dabei ihrer Popularisierung nicht im Wege. Eder beschreibt, wie dieses Dampfkessel-Modell bis in die späten siebziger Jahre hinein die Wissenschaft dominierte.

Dann erschien Foucault und irritierte mit der These, daß die Identität des modernen Menschen durch den Diskurs der Humanwissenschaften sexualisiert worden sei. Statt "essentialistischer Begründungen" oder gar soziobiologischer Zugänge zur Sexualität waren nun sozialkonstruktivistische Theorien im Schwang. Sie beobachteten die Interaktion von sozialer Praxis und Diskurs und fragten nach der Erzeugung von Wissens- und Glaubenssystemen. Das ist bis heute so geblieben - auch Eder huldigt nun einem vielfach Rücksicht nehmenden, aber auch gebrochenen Sozialkonstruktivismus. In seinem wissenschaftspolitischen Epilog wird vor allem eine negative Programmatik des Fachs sichtbar, die sich gegen die vermeintlichen Plattheiten der Evolutionstheorie abgrenzt. Im Gegenzug liest man immer wieder Selbstversicherungen der Zunft, die sich als Teil der Fortschrittsgeschichte begreift und nun die Avantgarde sexueller Korrektheit sein will. Das hat nachteilige Konsequenzen für den historischen Erzählduktus.

Untersucht werden Gesetze, Selbstzeugnisse und historische Lehrbücher der Medizin. Eder geht dabei nicht chronologisch, sondern in acht Kapiteln topisch vor. Dieser Aufbau ist allerdings weniger einer inneren Überzeugung als der Tatsache geschuldet, daß es sich bei der überwiegenden Zahl der Texte um Nachdrucke von bereits erschienenen Aufsätzen handelt. Nicht nur insoweit ist der Untertitel zu großspurig geraten. Die ausgesuchten Blicke auf einige wenige Landstriche Mitteleuropas in den letzten fünf Jahrhunderten bilden gewiß keine "Geschichte der Sexualität", auch wenn sich die moderne Sexualitätsgeschichte hier ihre Bezugspunkte gesucht hat. Sieht man von dieser zeitlichen und geographischen Engführung ab, überzeugt Eder darstellerisch durch ein breites Panorama von Aspekten. Er schildert das Sexuelle in seiner Beziehung zur Entwicklung der Medizin, zur Moral, zum Recht, zur Politik und zu ökonomischen Faktoren. Irritierende Entwicklungslinien werden dabei deutlich, die noch der Erklärung harren: Vor dem Hintergrund einer überwiegenden Verrechtlichung der Gesellschaft zieht sich das Strafrecht gegenwärtig aus der Regulierung der Sexualität zurück.

Eder beschreibt in einem Längsschnitt die juristische Normierung des Sexuellen vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert. Vereinfachend kann man sagen, daß auf einen frühneuzeitlichen Kriminalisierungsschub eine Entkriminalisierung des Sexuellen in der Moderne folgte. Die frühmodernen Gesetze verboten unzüchtiges Reden, unanständige Kleidung, sie schrieben Geschlechterrollen fest. Unerwünschte Sexualpraktiken ("Sodomie") oder illegitime Sexualpartnerschaften ("Ehebruch") wurden unter Strafe gestellt. Zunehmend verdrängt wurde der Anspruch der Kirche, im Bereich der Sexualität eine autonome Regelungsgewalt auszuüben. Die Ansprüche auf Sozialdisziplinierung gingen auf den Territorialstaat über.

Methodisch bedenklich an Eders Schilderung ist, daß sie recht einseitig die Perspektive des Gesetzgebers wiedergibt. Der Autor zitiert ausführlich die "Policey"-Normen und ihre drakonischen Strafandrohungen. Das bleibt hinter dem Problembewußtsein zurück, das die Forschung im Hinblick auf die Normsetzungsebene entwickelt hat. Über die Praxis der lokalen Obrigkeiten, je nach den "Umbständen" pragmatischere Urteile zu fällen, Sanktionen gewissermaßen mit den Betroffenen auszuhandeln, liest man zuwenig. Auch über das hochkomplexe Zusammenwirken von lokalen Bräuchen und Interessen der betroffenen Gruppen mit dem jeweiligen Gesetzgeber wäre noch manches Wort zu verlieren. Was die Obrigkeiten bei der Formulierung ihrer "Policey"-Normen noch kaum als darstellerisches Problem begriffen, bildete sich im pädagogischen Schrifttum des achtzehnten Jahrhunderts bizarr aus. Die Rede von der idealen Sittsamkeit trieb nämlich selbst unsittliche Blüten, wenn sie das Abweichende in Worte fassen wollte. Eders Studie über den Onanie-Diskurs amüsiert durch die Unentschiedenheit der zeitgenössischen Autoren zwischen Benennen und Verschweigen.

Abschreckende Körperszenarien wurden nun zunehmend naturwissenschaftlich statt theologisch gedeutet. Die Sexualgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts steht einerseits im Zeichen der Industrialisierung und Proletarisierung, andererseits der Verbürgerlichung. Die Verschärfung der gesetzlichen Heiratsvoraussetzungen erschwert den Unterschichten die Legalisierung ihrer sexuellen Beziehungen. Eder überzeugt mit seiner Kritik an Sigmund Freuds romantisierender Fehleinschätzung von der Verbreitung der "freien Liebe" im Arbeitermilieu. An deren Stelle möchte er eine historisierende Sicht des proletarischen Sexuallebens setzen, die aus autobiographischen Quellen und historischen Sexualumfragen schöpft. Zweifelhaft scheint aber die Generalisierbarkeit der Thesen, die Eder aus Einzelbeispielen ableitet, etwa jener, daß Körperlichkeit und Nacktheit bis in die siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhundert kein größeres Sittlichkeitsproblem für die Arbeiter und ihre Kinder dargestellt hätten. Ob hier nicht romantisierende Schichtenmodelle fortleben?

Auf die Verbindung von materieller Kultur und Sexualität kommt der Autor zu sprechen, wenn es um die Veralltäglichung der sexuellen Revolution in den Aktfotos der modernen Konsumgesellschaft geht. Spätestens hier schmerzt Eders zu enge Ankopplung an bereits Bekanntes. Etwas wehmütig erinnert man sich an Robert Darntons quellengesättigte Untersuchungen über den pornographischen Buchmarkt im Ancien Régime. Eders detaillierte Kenntnis der gesellschaftspolitischen Implikationen seiner Wissenschaft hat nicht nur Vorteile. Zwar beherrscht er souverän den Wechsel der verschiedenen Darstellungsebenen, doch zugleich findet man ihn oft gefangen in einem Gestrüpp von Kunstworten und disziplinären Selbstbespiegelungen.

Mit Blicken auf die Liberalisierung und Kommerzialisierung des Sex nach 1945 schließt das Buch. Die sexuelle Emanzipation der Nachkriegsgeneration gelang in der Abgrenzung gegen die Feindbilder der NS-Kulturpolitik, die auch im Nachkriegsdeutschland (West und Ost) wiederaufgewärmt wurden. Der sparsame Umgang mit den Begriffen "selbstbestimmt und angstfrei" darf nicht den Blick darauf verstellen, daß sie die heimlichen Leitmotive des Buchs sind, Eder also im Ton einer verhaltenen Fortschrittsgeschichte erzählt: An die Stelle von dichotomischen Rollenklischees soll eine Pluralität von Sexualitäten getreten sein, im Alltag ebenso wie in der historischen Forschung. So gesehen verschafft Sexualitätsgeschichte Orientierung, weil sie die Legitimität der Abweichung hervorkehrt und die Normalisierung historisiert.

Franz X. Eder: "Kultur der Begierde". Eine Geschichte der Sexualität. Verlag C. H. Beck, München 2002. 359 S., 12 Abb., br., 15,90 .

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