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Unter der Vielzahl 'neuer Menschen', die das anthropologische Experimentierfeld der Moderne hervorgebracht hat, hat einzig der ökonomische Mensch überlebt ... Grund genug, diesen Typus, seine Herkunft und seine Konjunktur zum Gegenstand einer historischen Analyse zu machen. Joseph Vogls Studie untersucht die weitläufigen Austauschverhältnisse zwischen Ökonomie, politischer Theorie, Anthropologie und Literatur bzw. Ästhetik und schlägt einen Bogen vom Barock über die Aufklärung und Romantik bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Es geht dabei um eine Poetologie des Wissens, die die…mehr

Produktbeschreibung
Unter der Vielzahl 'neuer Menschen', die das anthropologische Experimentierfeld der Moderne hervorgebracht hat, hat einzig der ökonomische Mensch überlebt ... Grund genug, diesen Typus, seine Herkunft und seine Konjunktur zum Gegenstand einer historischen Analyse zu machen. Joseph Vogls Studie untersucht die weitläufigen Austauschverhältnisse zwischen Ökonomie, politischer Theorie, Anthropologie und Literatur bzw. Ästhetik und schlägt einen Bogen vom Barock über die Aufklärung und Romantik bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Es geht dabei um eine Poetologie des Wissens, die die diskursiven Strategien einer ökonomischen Wissenschaft ebenso verfolgt wie die ökonomische Durchdringung literarischer Formen, ein Wechselverhältnis von ökonomischem Text und textueller Ökonomie. Gemeinsam ergeben sie jene Szene, die der 'homo oeconomicus' bis auf weiteres beherrscht: als jenes Exemplar, das sich angeschickt hat, nichts Geringeres als der Mensch schlechthin zu werden.
Autorenporträt
Vogl, JosephJoseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2003

Vom Abenteuer zum Risiko
Joseph Vogls kluge Poetik des ökonomischen Menschen
Einst sah der ,homo oeconomicus’ etwa so aus wie Benjamin Franklin, dem in seiner Autobiographie die Lebenszeit zum Kapital wird, das es klug zu bewirtschaften gilt, soll es am Ende Zinsen abwerfen. Geburtshelferin des ökonomischen Menschen, der unablässig als Rechnungsprüfer seines Lebens und seiner religiösen Pflichten Bilanzen zog, war die protestantische Ethik, seine Erfolgsgeschichte war die der innerweltlichen Askese.
Nur en passant, aber an entscheidender Stelle setzt sich Joseph Vogl in seiner als Habilitationsschrift entstandenen Studie zur Genealogie des homo oeconomicus von Max Weber ab: „Weniger eine asketische Ethik, als eine pathische und sympathetische strukturiert jenen Wallungsraum und jenes wohltemperierte Milieu, in dem die Akteure nicht zur Unterdrückung ihrer Leidenschaften, sondern zur Moderation ihrer Beziehungen aufgerufen sind.” Aus der Perspektive dieser Abgrenzung ist der Titel des Buches zu lesen. Kalkül und Leidenschaft sind darin nicht Rivalen, sondern Partner, beide zusammen bestimmen zwischen dem 17. und dem frühen 19. Jahrhundert die Innenausstattung einer Zentralfigur der modernen Welt.
In den letzten Jahrzehnten haben Philosophie-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte den Aufschwung der Anthropologie seit dem mittleren 18. Jahrhundert nachverfolgt und als dessen dynamisches Zentrum die gegen den Leib-Seele-Dualismus profilierte Figur des „ganzen Menschen” erwiesen. Dieser „ganze Mensch” wurde im Prozess seiner Bestimmung ebenso sehr produziert wie entdeckt. Er erwies sich als ein Mischwesen wie auf ästhetischem Gebiet der Roman. Literaten wurden zu Physiologen, Mediziner zu philosophischen Ärzten, um ihm auf die Spur zu kommen.
Vogl zieht aus der jüngeren Geschichtsschreibung der Anthropologie eine doppelte Konsequenz. Zum einen ist sein „ökonomischer Mensch” kein Partialwesen, das sich allein am kühlen Pol des Rechnungswesen, der Rationalisierung, Bürokratisierung und der Dämpfung der Triebe ansiedelt, sondern eben der „ganze Mensch” der modernen Anthropologie. Zum anderen sind für diesen „ökonomischen Menschen” nicht etwa nur die Kameralistik oder, später, die Nationalökonomie zuständig. Zuständig ist eine Disziplin, die allenfalls in Umrissen existiert, als eine Art „Verkehrswissenschaft” der Zirkulation des Wissens und seiner Formen. Einer ihrer Gewährsmänner ist Gilles Deleuze mit seiner Formel: „Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen.” Hier liegt der programmatische Akzent des Buches. Es will die Künste nicht lediglich als Resonanzraum, sondern als Akteure in der Geschichte des Wissens behandeln; und es will zugleich das theoretische Wissen als Akteur in der Geschichte der Künste und ihrer Formen kenntlich machen.
Der stufenlose Regler
Zunächst könnte es so scheinen, als verfolge Vogl dieses Programm vor allem auf den Wegen, die Michel Foucault durch seine Diskursanalyse vorgezeichnet hat. Die per Analogie von der Rechtstheologie des Mittelalters übernommene Formel von den „zwei Körpern” des neuzeitlichen Staates setzt dem symbolisch-repräsentativen Staatskörper, den das Naturrecht theoretisiert, den physisch-empirischen Staatskörper an die Seite, der in seiner Fülle von Einzelheiten und Daten nach den Tableaus und Enzyklopädien des kameralistischen Wissens verlangt. Mit dem Aufstieg dieses Wissens kommen Machtmechanismen in den Blick, die mit „Beherrschen” nicht identisch sind. Zwischen den beiden Sphären der Repräsentation und des Datengestöbers vermittelt in Vogls Studie aber weniger Foucaults Konzeption der gestreuten Macht als vielmehr ein Arsenal von Begriffen wie „Regulierung”, „Aussteuerung”, „Moderation” etc., die der Gesellschaftsanalyse Niklas Luhmanns entnommen oder nachgebildet sind.
In dieser systemtheoretisch entdramatisierten Diskursgeschichte erscheint die Genealogie des ökonomischen Menschen nicht als „Zurichtung”, sondern als Effekt der „Modernisierung von Steuerungstechniken”, bei denen die Regler stufenlos hochgestellt werden.
Als Beobachter dieser chromatischen Prozesse wird Vogl zum Interpreten der Details. Oft wirken in der Diskursgeschichte die poetischen Katzen etwas grau, um ihre je spezifische Färbung gebracht. Hier ist es zum Glück anders. Die Glanzlichter seiner Studie gewinnt Vogl aus subtilen Lektüren der literarischen Tradition, vom frühneuzeitlichen „Fortunatus”-Roman aus dem Jahre 1509 bis zu Goethes „Faust II”, der den Blick aufs 19. Jahrhundert öffnet. Der Professor „für Geschichte und Theorie künstlicher Welten” an der Bauhaus-Universität in Weimar ist Literaturwissenschaftler genug, um seine Thesen aus der Eigenlogik der Dramen und Romane zu entwickeln.
Die Zähmung des Zufalls
Sie sind dabei freilich nicht mit sich allein. Die Sympathie, die Apathie und die Leidenschaft des ökonomischen Menschen im 18. Jahrhundert, so könnte man meinen, werden in Adam Smith’ „Theory of moral sentiments”(1759) theoretisch erschlossen und in George Lillos bürgerlichem Trauerspiel „The London merchant” (1731) anschaulich dargestellt. Aber Vogl kann demonstrieren, dass in Smith’ Anthropologie dramatisches und in Lillos Drama theoretisches Potential steckt. Beide erkunden die „Sympathie” als Komplementärphänomen zur berühmten „unsichtbaren Hand”, als Vermögen, das die Individuen zur Bewältigung spezifisch moderner „Unordnung” und „Kontingenz” herauszubilden haben. Ihre Prägnanz gewinnt die Einsicht, „dass anstelle einer fehlenden Gesellschaftstheorie im 18. Jahrhundert schlicht Theater steht”, vor allem in der minutiösen Interpretation der Geheimnisse, Missverständnisse, finanziellen und symbolischen Ringtauschaktionen in Lessings prekärer Komödie „Minna von Barnhelm”.
Wie viele jüngere Interpreten akzentuiert Vogl am Roman des 18. Jahrhunderts die Strategien der ästhetischen wie reflexiven Bewältigung des Problems der innerweltlichen Kontingenz. Kronzeuge ist einmal mehr Leibniz, dessen „Theodizee” in ihrer systematischen Zähmung des Zufalls zugleich Darstellungsfragen hinsichtlich der Erzählbarkeit möglicher Welten aufwirft, auf die am Ende der Entwurf einer Romanpoetik zu antworten hat. Vogls Demonstration der systematischen Wechselwirtschaft zwischen poetischer und politischer Ökonomie in den Romanen selbst ist selber ein kleiner, mit Gewinn zu lesender Roman: er handelt, mit Seitenblicken auf das Versicherungswesen, von der Umwandlung des alten „Abenteuers” in das moderne „Risiko”. Hauptfiguren sind Defoes „Robinson” und seine Nachfolger, vor allem „Die Insel Felsenburg” von Johann Gottfried Schnabel, sowie die Romane Wielands, allen voran der „Agathon”.
Vogl bescheidet sich beim Blick auf die Auftritte der „unsichtbaren Hand” im „Wilhelm Meister”, auf die „romantische Ökonomie” bei Novalis, auf die frühromantische Feuerwissenschaft und ihre Auftritte in den „Wahlverwandtschaften” Goethes nicht mit literarischen Genealogien. Er hat eine kleine Geschichte der ästhetischen Attraktionen des ökonomischen Wissens in sein Buch hineingeschrieben: der Statistik und des Versicherungswesens, der Theorien von Geld, Preis und Währung, der Banknoten und des Kredits. Ihr Fluchtpunkt ist ein dichter Kommentar zum „Wissensqualm” in Goethes Faust II, aus dem der Zerfall des klassischen politischen Körpers und die neue Zauberei von Kredit und Papiergeld hervorgeht. Hier, im frühen 19. Jahrhundert, nimmt der ökonomische Mensch eine Gestalt an, die noch in unserer Welt, nicht nur an der Börse, ihr Wesen und Unwesen treibt.
Manchmal führt diese erhellende Studie durch terminologisches Dickicht. Aber der Lohn dafür ist nicht gering: selten ist die Diskursgeschichte so auf Augenhöhe mit ihren literarischen Kronzeugen wie hier.
LOTHAR MÜLLER
JOSEPH VOGL: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Sequenzia Verlag, München 2002. 390 Seiten, 25 Euro.
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»Eine brillante Studie.« Die ZEIT