Es ist an der Zeit, dass wir besser verstehen, was Afghanistan ausmacht und was uns mit ihm verbindet. Das neue Buch von Andreas Baum macht hierzu einen brillanten Anfang. Feinfühlig ziseliert und wortgewaltig zugleich, piratorisch im positiven Wortsinne, eignet sich Andreas Baum eine zunächst fremd
erscheinende Materie an und schafft es, mit einem scharfen Blick die Unschärfen und auch Abgründe…mehrEs ist an der Zeit, dass wir besser verstehen, was Afghanistan ausmacht und was uns mit ihm verbindet. Das neue Buch von Andreas Baum macht hierzu einen brillanten Anfang. Feinfühlig ziseliert und wortgewaltig zugleich, piratorisch im positiven Wortsinne, eignet sich Andreas Baum eine zunächst fremd erscheinende Materie an und schafft es, mit einem scharfen Blick die Unschärfen und auch Abgründe einer künstlich stabilisierten Gesellschaft aufzuzeigen, die eigentlich ganz anders tickt, als der zivile Westen sich das wünscht und ausmalt. Er zeichnet die Spuren der Geschichte sorgsam nach, die Besatzung der Russen, die zum Scheitern verurteilt war „Wir haben an jedem Tag einen von ihnen getötet“, das Regime der Taliban, der mühsame Kampf um mehr Demokratie und Bildung, versinnbildlicht in der Figur des Lehrers, der auch dann noch bleibt, vielleicht auch bleiben muss, wenn es brenzlig wird. Das Buch “Hier bist du sicher: Eine afghanische Novelle” von Andreas Baum ist somit zum einen zeitlos und trotzdem brandaktuell.
Natürlich ist es der westliche Blick, aus dem wir – und auch der Autor – nicht herauskommen. Und auch der Protagonist in der Geschichte kann nur ahnen, was ihm eigentlich in Wirklichkeit zustößt. Was ist es, was sein Gastgeber, Studenten und Bediensteten eigentlich tatsächlich meinen? Damit gleicht der Protagonist einem Käfer im kafkaschen Sinne, der auf dem Rücken liegt und so den Verwerfungen in einem ihm fremden Land mehr oder weniger ausgeliefert ist. Aber nicht der Protagonist verwandelt sich, sondern die Umgebung wird zusehends bedrohlicher: Wer ist Freund? Wer ist Feind? Wer ist die Geisel? In der Geschichte weiß man es nicht so genau, im Afghanistan der Gegenwart sind die Dinge vielleicht ebenfalls verworren und unklar. Von diesem diffusen Gefühl berichtet die Novelle – und natürlich von einem faszinierenden Land, das in vielen Punkten so völlig anders ist, als wir vermuten würden.
Und das ist natürlich auch als Allegorie zu verstehen: auf das Leben, wer sicher ist, der ist oft auch nicht mehr im Geschehen, nur noch Beobachter. Und auch auf unser westliches Unvermögen, denn Kulturen wie die afghanische zu verstehen, was sich erst kürzlich beim Fall von Kabul wieder gezeigt hat. Nicht mal die Geheimdienste haben offenbar verstanden, was tatsächlich los war. Der Westen tappte im Dunklen. Was also hat die westliche Welt hier zu suchen? Das Fazit aus der Lektüre: nichts, und schon gar nicht mit militärischen Interventionen, verbunden mit einem hehren Anspruch eines auf westlichen Werten basierten Nation Building. Dennoch, das Buch “Hier bist du sicher” ist kein politisches Sachbuch, sondern eben eine Novelle, ein Stück spannender Literatur, das sich an einem (fokussierten) Abend zu Ende lesen lässt, eine sorgsam und mit viel Sprachgefühl arrangierte hochauthentische Geschichte, die sich so anfühlt, als wäre man selbst dort gewesen.
Der Titel “Hier bist du sicher” erscheint zunächst doppelbödig, jedoch ist es zunächst einmal ganz anders gemeint: In den Innenhöfen der Häuser und Herbergen zeigt das Land sein menschliches Antlitz, draußen wäre es gefährlich. Ein Gast erlebt ein Land, als wäre er auf dem Mars: lebensfeindlich für den uneingeweihten und mit tiefen menschlichen Zügen für den Eingeladenen. Natürlich nur so lange, wie die Situation nicht kippt, nicht gefährlich, nicht lebensgefährlich wird. Doch das tut sie dann, am Anfang kaum wahrnehmbar wie ein riesiger Eisberg, der sich vom Eisschelf der Antarktis löst, und dann – erst langsam und dann immer schneller – dramatisch ins Wasser stürzt. Aus meiner Sicht ein klarer Kauf!