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Herbert Wehner, der langjährige Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, lebte von 1937 bis 1941 als Kandidat des Politbüros der KPD im Moskauer »Hotel Lux«. Über diese Jahre im Exil gab er allerdings nur ungern Auskunft.
Seine bereits 1946 entstandenen autobiographischen »Notizen«, die Wehner selbst als Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen der Moskauer Jahre sah, veröffentlichte er erst 1982. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial zeigt Reinhard Müller, dass Wehners Selbstdarstellung als Opfer des stalinistischen Terrorapparats und mitfühlender Helfer verfolgter…mehr

Produktbeschreibung
Herbert Wehner, der langjährige Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, lebte von 1937 bis 1941 als Kandidat des Politbüros der KPD im Moskauer »Hotel Lux«. Über diese Jahre im Exil gab er allerdings nur ungern Auskunft.

Seine bereits 1946 entstandenen autobiographischen »Notizen«, die Wehner selbst als Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen der Moskauer Jahre sah, veröffentlichte er erst 1982. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial zeigt Reinhard Müller, dass Wehners Selbstdarstellung als Opfer des stalinistischen Terrorapparats und mitfühlender Helfer verfolgter Genossen, eine »Schönschrift« und eine Verdrängung seiner tatsächlichen Rolle ist. 1937 lieferte Wehner der Geheimpolizei Stalins ausführliche Informationen zu einzelnen KPD-Mitgliedern und oppositionellen Gruppen, die zu einem NKWD-Direktivbrief entscheidend beitrugen. Dieser »Brief« löste eine große Säuberungswelle unter den deutschen Emigranten aus. Selbst im Ausland wurden die sogenannten »Trotzkisten« von NKWD-Agenten verfolgt.
Autorenporträt
Reinhard Müller, Historiker und Soziologe war von 2010 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich »Theorie und Geschichte der Gewalt«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Fanatischer Trotzkistenjäger
Herbert Wehner und die Moskauer Mordmaschinerie im Jahr 1937 / Von Jochen Staadt

An Herbert Wehner schieden sich die Geister. Zuletzt nannten ihn manche in der SPD, die ihn gut kannten, den "Onkel". Das war zu Zeiten, als seine Parteikarriere dem Ende zuging und er selbst zur Altersmilde neigte. Einige Jahre vorher galt der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag und stellvertretende SPD-Vorsitzende vielen noch als Zuchtmeister seiner Partei, mit dem man sich besser nicht anlegte. Wer es dennoch tat, mußte gute Gründe und eine eigene Hausmacht mit Stehvermögen haben.

Von linken Schwärmern hielt Wehner nichts. Er war kein Theoretiker. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) bekam das 1961 zu spüren. Die SPD hatte sich 1959 mit ihrem Godesberger Programm endgültig vom Marxismus verabschiedet, um als westdeutsche Volkspartei regierungsfähig zu werden. Dagegen opponierte ihr akademischer Nachwuchs im SDS. Zudem hatten in einigen Ortsgruppen des Studentenbundes Leute aus dem Umfeld der illegalen KPD das Sagen. Auf Antrag Wehners beschloß der SPD-Parteivorstand im Oktober 1961 die Unvereinbarkeit der SDS-Zugehörigkeit mit der SPD-Mitgliedschaft. Mehrere hundert hoffnungsvolle Jungsozialisten flogen aus der Partei, wurden heimatlos und formierten sich in den sechziger Jahren zunächst mit mäßigem Erfolg als Neue Linke.

Wäre Wehner, wie Brigitte Seebacher-Brandt unter Bezugnahme auf Reinhard Müllers Buch "Moskau 1937" meint, immer ein Mann der Sowjets in der SPD gewesen, so ließe sich schwerlich erklären, warum er mit solcher Vehemenz den Hinauswurf des linken Studentenverbandes aus der SPD betrieb. Umgekehrt betrachtet wird freilich ein Schuh daraus. Gerade weil Wehner als ehemaliger Mann Moskaus und Funktionär der Kommunistischen Internationale die Unterwanderungsstrategien gegen die westeuropäische Sozialdemokratie kannte, gehörte er mit Erich Ollenhauer und Willy Brandt zu jenen, die 1961 mit aller Entschiedenheit den Trennungsstrich zum linken Rand gezogen haben. Es gehe im Falle des Unvereinbarkeitsbeschlusses gegen den SDS nicht darum, "ob Persönlichkeiten mit marxistischen Vorstellungen in der Sozialdemokratischen Partei mitwirken können, sondern darum, ob sie organisatorische Maßnahmen anwenden, mit denen sie einen Ausschließlichkeitsanspruch ihrer Vorstellungen durchsetzen wollen", schrieb Wehner damals in einer Hamburger Wochenzeitung.

Was "organisatorische Maßnahmen", mit denen Marxisten einen Ausschließlichkeitsanspruch durchsetzen wollen, im Extremfall bedeuten konnten, wußte Wehner aus eigener Exilerfahrung und aus seiner früheren Mitarbeit in der Moskauer KPD-Führung nur zu genau. In einem Interview mit Günter Gaus offenbarte er im Januar 1964, daß er 1933 nach Hitlers Machtergreifung "einige Jahre die gesamte illegale Arbeit" der KPD in Deutschland geleitet hatte, und fügte diesem Bekenntnis die aufschlußreiche Bemerkung hinzu: "Dann habe ich in dieser deutschen Wirklichkeit so etwa 49 Prozent des Totalitarismus kennengelernt, die übrigen 51 Prozent habe ich in der kommunistischen Wirklichkeit, in der sowjetischen kennengelernt, einschließlich der kommunistischen Wirklichkeit im Untergrund."

Als Walter Ulbricht in Ost-Berlin diese Äußerungen seines ehemaligen Mitkämpfers hinterbracht wurden, ordnete der SED-Chef eine "internationale Kampagne" gegen Wehner an. Zur Unterstützung dieser Kampagne erhielten die SED und ihr Ministerium für Staatssicherheit aus den Moskauer Geheimarchiven des KGB knapp zweitausend Seiten mit Ablichtungen der NKWD-Akten über Herbert Wehner. Teile dieses Materials kamen 1969 vor den Bundestagswahlen in Westdeutschland zum Einsatz. Der eng mit der SED und dem DDR-Staatssicherheitsdienst kooperierende Journalist Hans Frederik brachte damals unter dem Titel "Gezeichnet vom Zwielicht seiner Zeit" ein 640 Seiten starkes Pamphlet gegen Wehner heraus, das in linken und konservativen Kreisen auf regen Zuspruch stieß und mit einer Auflage von weit über hunderttausend Exemplaren über die westdeutschen Ladentische ging. Das Machwerk enthielt eine geschickte Mischung aus Fakten und Erfindungen über Wehners Exiljahre in Moskau und Schweden sowie ein langes Kapitel, in dem Herbert Wehners 1946 verfaßte autobiographische "Notizen" als Legende "entlarvt" wurden. Wehner hatte die "Notizen" maschinenschriftlich gefertigt und nur wenige Kopien davon ausgewählten Personen zukommen lassen. Eine davon - der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher - glaubte Wehner und sorgte durch seine Protektion für seinen raschen parteipolitischen Ein- und Aufstieg.

Der am Hamburger Reemtsma-Institut beschäftigte Historiker Reinhard Müller hat bereits vor elf Jahren mit seinem Buch "Die Akte Wehner - Moskau 1937 bis 1941" für Unruhe unter sozialdemokratischen Wehner-Forschern gesorgt. Die meisten Einwände, die damals gegen die These von einer aktiven Mittäterschaft Wehners im stalinistischen Terrorsystem erhoben wurden, kann Müller in seiner nunmehr vorliegenden, geradezu detailversessenen Untersuchung über Wehners Moskauer Verstrickungen widerlegen. Im umfangreichen Dokumentenanhang seines Buches belegt Müller, daß Wehner im Moskauer Exil ein fanatischer Trotzkistenjäger war und in eigenen Hetzschriften eine Vielzahl sogenannter "Abweichler" namentlich denunzierte. Vor allem aber weist er nach, daß Wehners Informationen 1937 in einen Befehl der Geheimpolizei NKWD "zur Liquidierung von Trotzkisten" Eingang fanden. In einer detaillierten Text- und Konkordanzanalyse am Ende des Dokumentenanhangs untermauert Müller seine These von Wehners Zuträgerschaft für einen folgenschweren "Vernichtungsbefehl", den der damalige sowjetische Geheimpolizeichef Nikolai Jeschow im Februar 1937 über die "Spionagetätigkeit der deutschen Trotzkisten im Auftrag der Gestapo" erließ. Müller hebt dabei insbesondere auf den kurz zuvor von Wehner verfaßten "Beitrag zur Untersuchung der trotzkistischen Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung" ab.

Mit Empörung reagiert der Geschäftsführer des in Dresden ansässigen Herbert-Wehner-Bildungswerks, Christoph Meyer, auf diese Darstellung Müllers. Es handele sich "nicht um das abgewogene Urteil eines die Regeln der wissenschaftlichen Arbeit streng beachtenden Historikers", sondern um das Werk eines "Anklägers", der einseitig nach Belastungsmaterial gesucht habe. Meyer sucht in Müllers Buch nach Entlastungsmaterial für den Namensgeber seines Bildungswerks. In dem von Müller ausgewerteten Direktbefehl Jeschows gegen deutsche Trotzkisten entdeckte Meyer 115 namentlich genannte Personen, in Wehners "Beitrag" 45 und in beiden Texten zugleich vorkommend 24 Personen, von denen sich die meisten nicht in der Sowjetunion befanden. Keiner der von Wehner erwähnten habe dort, behauptet Meyer, Repressionen erlitten.

Selbst wenn letzteres zutrifft, konnte Wehner zum Zeitpunkt der Abgabe seines "Berichts" wohl kaum wissen, ob die von ihm der "Schädlingsarbeit" bezichtigten Dissidenten nicht doch irgendwann dem Zugriff des NKWD ausgesetzt sein würden. Ihm war wie allen Spitzenfunktionären der Kommunistischen Internationale wohlbekannt, daß der sowjetische Dienst auch im Ausland operierte. Vor allem aber lieferte Wehner dem NKWD die Informationen über Geschichte und Zusammenhänge von linken Splittergruppen, deren ehemalige Mitglieder oder Sympathisanten, sofern sie in die Sowjetunion emigriert waren, später reihenweise den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen.

Müller räumt durch sein mehr als faktengesättigtes Buch letzte Zweifel darüber aus, auf welche Weise Herbert Wehner im Jahr 1937 als Schreibtischtäter in die Moskauer Mordmaschinerie verstrickt war. Der Autor zeigt freilich auch, daß die Verfolgung von einigen hundert deutschen "Politemigranten", an der Wehner Anteil hatte, im Kontext einer Anweisung Stalins vom Juli 1937 zu betrachten ist, nach der "alle Deutschen in unseren Rüstungsbetrieben, halbmilitärischen Betrieben und Chemiewerken, in Elektrokraftwerken und Baustellen in allen Gebieten zu verhaften" waren. Bis Jahresende 1938 wurden infolge dieses Befehls 55 005 deutschstämmige Sowjetbürger abgeurteilt.

Leider beläßt es Müller nicht dabei, die ohnehin harten Fakten über Wehners sowjetische Exilzeit sprechen zu lassen. Er schießt über das Ziel hinaus und macht seine profunden Forschungsergebnisse über die Emigrationsjahre Wehners zur Folie einer Interpretation seines gesamten Lebenswegs. Für Müller war das ein gerader Weg, war Herbert Wehner vom Anfang bis zum Ende seines politischen Wirkens ein eiskalt berechnender Stratege und Parteikarrierist. Für Müller sind die "Notizen" von 1946 "inszenierte Erinnerung", ein "geschickt verfertigtes mixtum compositum aus Fakten, Fiktionen und Verdrängungsmustern". Sollte am Ende also zutreffen, was Hans Frederik und die hinter ihm stehenden SED- und Stasi-Leute schon 1969 über den SPD-Politiker so erfolgreich unter das interessierte Publikum gebracht haben?

Die Frage ist zu verneinen, denn auch für Wehner trifft zu, was für viele Biographien des zwanzigsten Jahrhunderts gilt und gleichsam zum lebensweltlichen Erbe dieser zerrissenen Zeit gehört. Die Abkehr von einer quasireligiösen totalitären Weltanschauung war für jeden, der diesen Weg ernsthaft einschlug, kein kleiner Schritt, sondern ein langjähriger Lernprozeß. Die Biographie Herbert Wehners, mit ihren weiten Umwegen vom Anarchismus über den Bolschewismus bis zur Sozialdemokratie, kann nicht über den Leisten von knapp fünf Moskauer Exiljahren geschlagen werden, selbst wenn diese schwerer wiegen als einiges davor und manches danach. Nicht einmal der seltsame Umstand, daß er am Ende seiner politischen Laufbahn eine innige Beziehung zu seinem früheren politischen Lehrjungen Erich Honecker herstellte, ist mit dem Moskauer Koordinatensystem von 1937 zu erklären. Viele vertrackte Lebenswege des zwanzigsten Jahrhunderts fügen sich nicht so einfach in ein schlichtes Theoriekorsett, das sich die Nachgeborenen in ihren Schulddiskursen zusammengebastelt haben. Das gilt für Herbert Wehner ebenso wie für einen erheblichen Teil seiner Zeitgenossen von der anderen Feldpostnummer - es waren nicht gerade wenige ehemalige Wehrmachtsoffiziere und NSDAP-Mitglieder, die in der SPD, in der CDU und in der FDP seit 1949 politische Verantwortung für den Neuanfang übernahmen, um in der Bundesrepublik Demokratie zu wagen. Die meisten von ihnen haben ihre Vergangenheit beschwiegen. Herbert Wehner fällt da mit seinem anderen totalitären Erfahrungshintergrund aus dem Rahmen. An ihm werden sich die Geister noch eine Weile scheiden.

Reinhard Müller: "Herbert Wehner - Moskau 1937". Hamburger Edition, Hamburg 2004. 570 S., 35,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Dieses Buch hat Herbert Wehner "nicht verdient", wettert Rezensent Hermann Weber, für den der alleinige Zweck dieser Studie Reinhard Müllers in der "Verunglimpfung" des Politikers liegt. Müller wolle auf der Grundlage einer "Expertise" für Moskau von 1937 die Verstrickung Wehners in die Verfolgung und Ermordung deutscher Trotzkisten nachweisen. Dabei versucht er, mittels Dokumenten, die "seit 10 Jahren bekannt" seien, "ein Leben voller Brüche glatt zu bügeln" und Wehner auf einen "Verräter" zu reduzieren, ereifert sich der Rezensent. Er protestiert gegen die "unseriöse Methode" des Autors, wirft ihm vor, mit längst entkräfteten Vorwürfen aufzuwarten und ärgert sich über die in dem Buch als Tatsachen dargestellten Spekulationen, die auch durch eine "Überfülle an Details und Namen" sowie vielen Fußnoten auch nicht glaubwürdiger würden. Dabei räumt Weber ein, dass Wehner 1937 als treuer Stalinanhänger durchaus "Mittäter" war. Doch anstatt als "Antreiber oder gar Initiator" der Verhaftungswelle, wie der Autor Wehner zeichnet, will der empörte Rezensent den Politiker als "eines der vielen Schräubchen" im stalinistischen Terror verstanden wissen und verurteilt deshalb dieses nach seiner Einschätzung vollkommen "verzerrte Wehner-Bild" aufs schärfste.

© Perlentaucher Medien GmbH
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