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In seinem zweiten Roman 'Geister' erzählt Thomas von Steinaecker davon, wie das eigene Leben in Bildern stattfindet und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.
Spurlos ist Jürgens kleine Schwester verschwunden und geht seither wie ein Gespenst umher. Ein Filmemacher dreht eine Dokumentation über das Mädchen, eine Comiczeichnerin macht sie und Jürgen zu fiktiven Figuren ihrer Geschichte. Ist das Leben ist ein Doku-Film, eine sehnsüchtige Phantasie, eine verlorene Erinnerung, ein Comic?

Produktbeschreibung
In seinem zweiten Roman 'Geister' erzählt Thomas von Steinaecker davon, wie das eigene Leben in Bildern stattfindet und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.

Spurlos ist Jürgens kleine Schwester verschwunden und geht seither wie ein Gespenst umher. Ein Filmemacher dreht eine Dokumentation über das Mädchen, eine Comiczeichnerin macht sie und Jürgen zu fiktiven Figuren ihrer Geschichte.
Ist das Leben ist ein Doku-Film, eine sehnsüchtige Phantasie, eine verlorene Erinnerung, ein Comic?
Autorenporträt
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2008

Keine Erlösung trotz Kunst und Liebe
Thomas von Steinaecker erzählt von einem armen Kerl und startet ein literarisches Experiment. „Geister” muss man vielleicht nicht als „Graphic Novel” bezeichnen, aber Gattungsgrenzen werden schon mal überschritten
Mit dem Sprechen hat Jürgen so seine Schwierigkeiten. Öffnet er den Mund, purzeln die Worte mitunter wie ungeordnete Bauklötze hervor. Mühelos gelingt es ihm aber, Bilder in seinem Kopf zu entwerfen. Schon als Schüler imaginiert er bis ins Detail seine Zukunft: Er wird Psychologie studieren, eine Künstlerin, die Installationen macht, heiraten, schließlich an Lungenkrebs sterben. Später, als er sich beruflich und privat arg verfranst hat, sehnt er sich nach einer Existenz als Guru: „Wie man ohne Nahrung lebt, wie man levitiert, wie man heilt, durch bloßes Handauflegen, Jürgen kann das jetzt alles, er beschließt, damit kein Geld zu verdienen und nicht nach Deutschland zurückzukehren, er wandert, durch Indien, nach China, Tibet, wird legendär, die Einwohner der Dörfer flüstern ehrfürchtig seinen Namen, »Jogi«.”
Als „Schnellvorlauf” bezeichnet Jürgen für sich dieses Ausleben eines übermäßig stark ausgeprägten Möglichkeitssinnes. Wenn ihm alles zu schnell geht, spürt er dagegen das Verlangen, auf Zeitlupe zu schalten. Am Anfang des Romans sitzt er als junger Mann in einem Kino und schaut Bilder seiner Geburt an, mit denen ein Film schließt, den ein Dokumentarist über ihn und seine Familie gedreht hat. Als 40-Jähriger spielt er zu einem Guns & Roses-Video in allen denkbaren Posen Luftgitarre und grübelt, ob der Schlagzeuger der Band schon bei „Appetite for Destruction” oder erst bei „Use your Illusion” ausgewechselt wurde. Ohne kulturkritische Aufgeregtheiten zeichnet Thomas von Steinaecker seine Hauptfigur als einen Träumer im Zeitalter der medialen Durchdringung des Lebens.
Dafür dass Jürgen sich vor den Zumutungen der Wirklichkeit gerne ins Blaue flüchtet, gibt es aber noch einen weiteren Grund. Seine Schwester verschwand mit sechs Jahren von der Wiese hinter dem elterlichen Haus und tauchte nie wieder auf. Wurde sie entführt oder ermordet? Jürgen hat Ulrike nie kennen gelernt, dennoch geht sie in seinem Leben um wie ein Geist. Sie ist der geheime Ursprung der kunstvoll geschilderten Fehlleistungen und Wiederholungen: Seine langjährige Freundin, dann seine Frau, die ihn verlässt, ähneln der sommersprossigen Ulrike, und um seine kleine Tochter schwebt er in steter Sorge.
Ein Ausweg scheint sich anzudeuten, als Cordula, eine Zeichnerin, Kontakt zu ihm aufnimmt. Sie hat eine Figur namens Ute erfunden, in deren Geschick sie ein Leben, wie die Verschollene es hätte leben können, ausspinnt. Jürgen ist von den Comics begeistert, erst recht, als er sich selbst in ihnen begegnet. Er besucht Cordula in Berlin, und sie geht sogar mit ihm ins Bett. Eine plötzliche Erlösung durch Kunst und Liebe? Das kann nicht sein: Jürgen ist in einem Netz gefangen, das sich, wenn er entkommen will, nur enger zusammenzieht. Und daher ändert sich bis zum abrupten Ende im Grunde nichts an seiner prekären Verfassung.
Der Auftritt Cordulas ist mit einer formalen Überraschung verbunden. Die Comics, die sie an Jürgen schickt, werden nicht etwa beschrieben, sondern sind – toll gezeichnet von der Münchener Künstlerin Daniela Kohl – tatsächlich zu sehen. Anders als der Klappentext behauptet, verwandelt sich der Roman dadurch zwar nicht in eine Graphic Novel. Das Nebeneinander von Prosa und sequentiellen Bildern hat aber Konsequenzen. Einerseits gewinnen die Comics durch das Umfeld eine Plastizität, die sie, fände man sie in einem Album, nicht besäßen. Andererseits wird dadurch die Faszination nachvollziehbar, die sie für Jürgen besitzen. So vermag „Geister” den Leser doppelt zu fesseln: als Studie eines armen Kerls und als gelungenes literarisches Experiment, das sich um Gattungsgrenzen erfrischend wenig schert.
CHRISTOPH HAAS
Thomas von Steinaecker
Geister
Roman. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2008. 204 Seiten, 19,80 Euro.
Jürgen ist fasziniert von den Comics, die Cordula ihm schickt. Gezeichnet hat sie tatsächlich die Künstlerin Daniela Kohl. Abb.: FVA
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Recht eingenommen ist Beatrice von Matt von Thomas von Steinaeckers zweitem Roman. Wie in dem Vorgänger "Wallner beginnt zu fliegen" sieht sie auch in "Geister" einen Protagonisten im Mittelpunkt, der an mangelnder Bodenhaftung, an Unfähigkeit im wirklichen Leben zu leben, es wirklich zu erleben, leidet. Sie bescheinigt dem Autor, ein "plausibles Psychogramm" dieses Mannes zu entwerfen, das zugleich ein Epochen- und Generationenbild darstellt. Mehr noch als die Figur des Jürgen hat sie die der Comiczeichnerin Ute berührt, die Jürgens Leben zeichnet, so dass dieser erstmals wirklich erfährt, wie er lebt und fühlt. "Ein komplexes Gebilde zwischen Schrift und Zeichnung", so von Matt, "erzählt diesen ergreifenden Teil der Geschichte." Die Figur der Ute verdeutlicht für sie einmal mehr, dass gerade die Frauenfiguren des Autors dessen Könnerschaft als Schriftsteller bezeugen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008

Im Daumenkino der Möglichkeiten
Geborgte Leben: Thomas von Steinaecker schickt seinen Helden in den Schnellvorlauf / Von Hubert Spiegel

Sein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist ihm völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend nachzudenken oder zu sprechen. Jürgen Kämmerer, die Hauptfigur des zweiten Romans des 1977 geborenen Schriftstellers Thomas von Steinaecker, ist ein Lord Chandos unserer Tage. Wie Hugo von Hofmannsthal, der sich 1902 als junger erfolgreicher Schriftsteller die Maske eines anderen jungen und erfolgreichen Schriftstellers aufsetzte, um wortgewaltig über das Verstummen zu reden, treibt auch Thomas von Steinaecker ein Spiel mit Rollen und Masken. Aber wo Hofmannsthal seinem Chandos die Worte im Mund zerfallen ließ wie modrige Pilze, geht es bei von Steinaecker in erster Linie um Bilder. Denn jetzt, nach dem iconic turn, sind es die Bilder, die uns zu Staub zerfallen, weil es immer schwerer fällt, im Bildarchiv in unseren Köpfen das Erlebte vom Ersehnten, die Realität von der Fiktion und die Vergangenheit von ihrer Fixierung in den verschiedenen Bildmedien zu unterscheiden.

"Was du nicht siehst", so lautet die Überschrift des ersten von vier Teilen, in die sich der Roman gliedert. Er beginnt mit einer Filmvorführung: "Jürgen sieht seiner Geburt zu", so lautet der erste Satz. Die Geburtsszene ist Teil einer Dokumentation über die Familie Kämmerer, die vor Jürgens Geburt einen Schicksalsschlag erleiden musste, den keiner ihrer Angehörigen je verwinden wird. Jürgens Schwester Ulrike wurde entführt und vermutlich getötet, als sie sechs Jahre alt war. Weil der Leichnam nie gefunden wird, geben die Eltern die Hoffnung nicht auf, ihre Tochter eines Tages wiederzusehen. Unsichtbar, aber allgegenwärtig lebt Ulrike wie ein Geist inmitten der Familie Kämmerer weiter und wird ihrem Bruder, der sie nur von Fotografien kennt, irgendwann als der realste Teil seines eigenen Lebens erscheinen.

In der Schule ist Jürgen ein Träumer, der nicht leicht Anschluss findet und sich nie so geben kann, wie er eigentlich ist. Am wohlsten fühlt er sich in der Verkleidung des Heavy-Metal-Fans. Jürgen agiert in seinem Leben wie ein drittklassiger Schauspieler bei den Dreharbeiten zu einem Film, dessen Drehbuch er nicht gelesen hat: Nie weiß er, warum etwas passiert, was es zu bedeuten hat und was als Nächstes kommen könnte. Dass sein Improvisationstalent darüber erblühen würde, lässt sich leider auch nicht sagen.

So ist die Lage, und im zweiten Teil, mittlerweile ist Jürgen verheiratet und arbeitet als Physiotherapeut, gerät alles aus den Fugen. Ein Filmteam lockt Jürgen nach Budapest, wo seine Schwester angeblich lebt. Aber die blonde Ulrike Ligeti, geborene Kämmerer, an der Jürgen sofort die Augen seiner Mutter erkennen will, als er ihr gegenübersteht, ist nicht seine Schwester, sie trägt nur zufällig denselben Namen. Nach dieser Episode ist Ulrike untoter als je zuvor.

Als Monika, seine Frau, ihn verlässt und die Tochter Carla mit sich nimmt, wechselt Jürgen Job und Stadt und zieht nach Prien am Chiemsee, wo er in einer Rehabilitationsklinik arbeitet, einem trostlosen Zauberberg mit Wellness Center. Auch hier bleibt er weitgehend isoliert, ein harmloses, langweiliges und zunehmend verschratendes Scheidungsopfer am Rande der Verwahrlosung - so müssen ihn seine Kollegen wahrnehmen.

Von Lord Chandos hat Jürgen den Verlust jeglichen Vertrauens in die Realität der Dinge und des täglichen Lebens, von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" übernimmt er den Möglichkeitssinn, den Musil definiert als die Fähigkeit, "alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist". Seinen Möglichkeitssinn hat Jürgen an seiner Schwester, die nicht ist, aber in der Familie wichtiger genommen wird, als er, der existiert, so sehr trainiert, dass ihm darüber die eigene Existenz oft wie ein schales kleines Daumenkino der Möglichkeiten erscheint. Dann liegt er auf dem Bett, und sieht im Schnellvorlauf verschiedene Existenzen an sich vorüberziehen: Jürgen in Indien, wo er in Auroville einige glückliche Wochen verbracht hat, als Nachfolger seines Massagelehrers Meister Pratick; Jürgen selbständig und vermögend mit eigener Praxis; Jürgen als berühmter Guru, der durch Indien, China und Tibet pilgert. Meistens endet dieses Existenzkino mit Jürgens Tod, und so haben diese Visionen alternativer Existenzen immer auch Züge einer Auslöschungsphantasie an sich.

Ziemlich exakt nach der Hälfte des zweihundertseitigen Romans hat Jürgen einen Lichtblick: "Es ist schon ein schmaler Grat, auf den er da geraten ist: Nicht nur die Version der Vergangenheit, an die er immer glaubte, kann sich innerhalb von Sekunden, bei näherer Betrachtung, als Fiktion herausstellen - auch die Gegenwart, wie er gerade hier so herumliegt: Schon morgen wird ihm das, wenn er es sich ins Gedächtnis ruft, seltsam unwirklich vorkommen."

Wo die Realität immer undeutlicher wird, bleibt nur noch die Flucht in die Wirklichkeit der Fiktion. Und jetzt, nach der Hälfte des Buches, wirft Thomas von Steinaecker mit kühnem Schwung eine neue Figur aufs Spielfeld: die Comic-Zeichnerin Cordula Maas. Sie hat vom tragischen Fall der Familie Kämmerer gehört und beschlossen, das Leben der verschwundenen Ulrike auf dem Papier weiterzuführen, als Comicfigur: "Was wäre, wenn. Man kann sagen, ich habe mir das Leben Ihrer Schwester geborgt." So schreibt sie in einem Brief, mit dem sie in Jürgens Leben tritt. Seit zehn Jahren zeichnet sie bereits die erdachte Vita Ulrikes, die bei ihr indes Ute heißt und stark autobiographische Züge der Zeichnerin trägt.

Mittlerweile hat Ute eine stattliche Fangemeinde, die im Internet an ihrem fiktiven Leben teilnimmt, und auch Jürgen wird rasch zum Teil dieser Gemeinde. Denn Utes Geschichten schränken die unzähligen Möglichkeiten, wie Ulrikes Leben vielleicht verlaufen ist oder doch verlaufen sein könnte, auf wohltuende Weise ein. Aber Ulrike bekommt nicht nur eine Biographie, sondern in der Zeichnerin Cordula auch eine Art Wiedergängerin, die auf verlockende Weise in einem Zwischenreich der Realität und der Phantasie zu leben scheint. Als Cordula ihn zum Teil ihres Werks macht, droht Jürgen sich vollends zu verlieren. Auf jede neue Folge des Comics, die Daniela Kohl für das Buch gezeichnet hat, wartet er mit der Gier des Drogenabhängigen.

Thomas von Steinaecker liebt es offenbar, die Erwartungen seiner Leser zu enttäuschen. Zunächst, am Anfang des Romans, musste man annehmen, um Ulrikes Verschwinden ranke sich ein dunkles Geheimnis, ihr Schicksal bleibt rätselhaft. Und auch die Bedeutung, die man dem häufigen Einsatz der Filmmetapher beimisst, verblasst, als Steinaecker vom bewegten Bild zum Comic wechselt, das freilich durch seine Präsenz im Internet eine zusätzliche Dimension erhält. Denn die Gemeinde, die sich um die "Ute-Comics" gebildet hat, trägt Züge der sogenannten "Cosplayer", wie sich all jene nennen, die es sich zum Hobby oder sogar zur Lebensaufgabe gemacht haben, fiktive Figuren aus Mangas und Fernsehserien in der realen Welt zum Leben zu erwecken. Diese "Costume Player", die in den Kostümen ihrer Heroen Wettbewerbe um eine möglichst detailgetreue Imitation einzelner Szenen austragen, treten den Beweis an für Oscar Wildes These, der zufolge das Leben die Kunst weitaus mehr nachahme als die Kunst das Leben. Als Jürgen Cordula bei einem solchen Wettbewerb besucht und die verschiedenen Inkarnationen Utes miteinander konkurrieren, ist er enttäuscht und peinlich berührt: Denn jetzt wirkt die Nachahmung der Fiktion in der Realität wie eine billige Kopie.

Es ist nicht zu übersehen, dass dieser Roman von geschmeidiger Intelligenz mit einer mitunter hölzernen Konstruktion geschlagen ist. Außerdem kreist er um einen wenig sympathischen Helden, und es fehlt ihm ein überzeugender Schluss. Aber wie schon in seinem vor anderthalb Jahren erschienenen Debüt "Wallner beginnt zu fliegen" zeigt Thomas von Steinaecker auch in "Geister", dass er viel mehr will, als der jüngere deutsche Durchschnittsroman sich üblicherweise vornimmt. Das macht ihn lesenswert selbst da, wo er scheitert.

Thomas von Steinaecker: "Geister". Roman. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 204 S., geb., 19,80 [Euro].

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"Es ist die subkutane Intelligenz in der Beschreibung eines nicht besonders schlau wirkenden Durchschnittsmenschen, es ist die Darstellung jener kleinen Momente der Entwirklichung, für die Thomas von Steinaecker ein besonderes Sensorium hat." -- Deutschlandradio, Wolfgang Schneider
"Ein experimentelles Spiel." TAZ, Gisa Funck