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Seit ihren Anfängen gehören Literatur und Globalisierung zusammen. Denn durch Autoren und Reisende, durch Weitererzähltes und Übersetztes beeinflussen sich Literaturen in vielen Dimensionen. Dieser Prozess hat sich seit der Moderne beschleunigt und intensiviert. Heute bündelt sich die Vielfalt von Lebenserfahrung, Lebensentwürfen und literarischen Traditionen in Werken, die in mehreren Kulturen wurzeln. Und doch wird Literaturgeschichte als Nationalgeschichte geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter hingegen erzählt die Geschichte deutschsprachiger Literatur erstmals als…mehr

Produktbeschreibung
Seit ihren Anfängen gehören Literatur und Globalisierung zusammen. Denn durch Autoren und Reisende, durch Weitererzähltes und Übersetztes beeinflussen sich Literaturen in vielen Dimensionen. Dieser Prozess hat sich seit der Moderne beschleunigt und intensiviert. Heute bündelt sich die Vielfalt von Lebenserfahrung, Lebensentwürfen und literarischen Traditionen in Werken, die in mehreren Kulturen wurzeln. Und doch wird Literaturgeschichte als Nationalgeschichte geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter hingegen erzählt die Geschichte deutschsprachiger Literatur erstmals als Weltgeschichte und macht die unterschiedlichen Einflussfaktoren in den jeweiligen Epochen transparent - von den mittelalterlichen Minnesängern bis hin zu deutschen Nobelpreisträgern wie Herta Müller. Eine spannende Erkundung durch mehr als ein Jahrtausend Dichtung.

Ausstattung: s/w-Abb. im Text und farbige Karten
Autorenporträt
Richter, SandraSandra Richter, geboren 1973, studierte Literaturwissenschaft und Politik, arbeitete an Universitäten in London und Paris und ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Sie veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, wurde mehrfach ausgezeichnet und schreibt u. a. für die ZEIT.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017

Möge das die Programmschrift für Marbach sein

Mal Flaute, mal Sturm: Sandra Richter beschreibt die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Frühen Neuzeit.

Von Ilija Trojanow

Neulich begrüßte mich in Freetown, Sierra Leone, eine vor kurzem abgeschobene Frau mit dem Satz: "Ick bin eine Berlinerin." Inmitten von Staub, Hitze und Stromausfall erklärte sie mir, sie fühle sich als Deutsche. In einem Brief des Malers August Macke von der Westfront steht der bemerkenswerte Satz: "Was mich aber am meisten quält, ist, dass ich auf jene schießen muss, von denen ich alles gelernt habe." Denn dem Bonner Künstler war die französische Malerei künstlerische Heimat. Solche vermeintlichen Paradoxien sind jenen, denen die multiplen Realitäten der Globalität vertraut sind, eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Literaten, die schwer an einer Bindestrich-Identität tragen ("türkisch-deutsch", "russisch-deutsch", "äthiopisch-deutsch"), kennen das Anrennen gegen die trägen Windmühlen der rostigen Kategorien und Zuschreibungen zur Genüge. Wo gehört man hin, und muss man irgendwo dazugehören?

Man muss den provokanten Befund von Feridun Zaimoglu, die "Migrationsliteratur" sei ein "toter Kadaver" (zur Auswahl standen auch "leblose Leiche" oder "postmortale Mumie"), nicht teilen, um zu erkennen, dass die eingefahrenen Begriffe nicht greifen. Sandra Richter, Professorin für Germanistik in Stuttgart, schreibt in ihrer "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" daher zu Recht: "Das Etikett ,deutschsprachige Literatur' ist für solche Literatur, die aus zwei oder mehr Ländern kommt und mindestens in diese hineinwirken will, zu eng."

Um die hiesigen Literaturen aus dem nationalstaatlichen Getto zu befreien, holt Sandra Richter weit aus, beginnt mit der Erfindung des Buchdrucks und den ersten gedruckten Ausgaben von Tacitus' "Germania" in der Frühen Neuzeit. Im Parforceritt durch die Jahrhunderte und über Kontinente hinweg erzählt sie von der Wirkung auf Deutsch verfasster Literatur jenseits aller Landesgrenzen. Wobei sie gleich am Anfang den Begriff "Exportgut" einführt, um klarzustellen, dass sie zwar "eine weitläufige Rezeptionsund Adaptionsgeschichte" im Auge hat, ihren Schwerpunkt aber weniger - um im Bild zu bleiben - auf den Import legt. Die vielfältigen Einflüsse auf die deutschsprachige Literatur, die schon im Mittelalter von islamischen Muwashshala- und jüdischen Zajal-Liedern über die provenzalische Liebeslyrik zum Minnesang führten, werden bestimmt noch in anderen Werken nachgezeichnet werden, wenn denn Sandra Richters Buch, wie zu hoffen ist, in der noch zu selten über den eigenen Tellerrand schauenden Germanistik Schule macht.

Ihr Breitwandpanorama verzichtet auf ein ideengeschichtliches Destillat, auf die Beschreibung einer spezifischen DNA (es ist fraglich, ob dies überhaupt zu leisten ist, denn höchst populäre Gesamtschauen wie etwa Yuval Noah Hararis "Eine kurze Geschichte der Menschheit" wirken so, als würde sich ein Musiker mit einem einzigen Ton begnügen). Die Bewegung von Sandra Richters Untersuchung ist eher zentrifugal, das beschert den Lesern viele Überraschungen, aber kein konsistentes Narrativ. Wer selbiges erwartet, wird wohl eher enttäuscht die Lektüre beenden, wer sich aber einer historischen Reise anvertraut, auf der immer wieder an unvorhergesehenen Häfen Anker geworfen wird, der wird Mal ums Mal mit Gewinn anlanden.

Über die tatsächliche Wirkung deutschsprachiger Texte dürften sich die meisten Leser oft verwundert die Augen reiben. August von Kotzebue etwa war viel populärer als Friedrich Schiller, Salomon Gessners "Tod Abels" ein europäischer Bestseller (sogar Diderot und Rousseau "verfielen" diesem Werk), das einzige deutschsprachige Buch, das selbst kleine englische Buchläden führten - also der Timur Vermes des achtzehnten Jahrhunderts.

Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Weltgeschichte mit der Schilderung der vielschichtigen Rezeption von Lessings "Nathan der Weise". Je nach Epoche und Kulturkreis wurde das Werk als Instrument oder gar Waffe verwendet, um sich etwa gegen jüdische Akkulturation oder faschistische Vereinnahmung deutscher Geistestradition zu wehren. Bedauerlicherweise wurde es eher selten als Plädoyer für ein gemeinsames spirituelles Erbe wahrgenommen, weswegen das Drama "in Israel unerwünscht, in der islamischen Welt fast unbekannt" sei.

Goethes "Werther" hingegen war international wirkungsmächtig, wenn auch auf fast skurrile Weise. So propagierten englische Autorinnen die Lektüre, um ihre männlichen Landsleute zu erweichen - quasi als Hausmittelchen für den Gefühlswuchs. Da konnte der Spott natürlich nicht ausbleiben. Neben unzähligen Wertheriaden erschienen bald satirische Umdeutungen und Burlesken - am Ende "schießt sich Werther in den Hut statt in den Kopf". "Faust" hingegen wurde allerorten verehrt, die amerikanischen Transzendentalisten erhoben ihn sogar "zur Kultfigur". Spannend ist in diesem Zusammenhang die Reflexion, inwieweit in Kulturen ohne Teufelsvorstellung die Essenz des Dramas übersetzbar ist. Obwohl der "Faust" in Japan von dem bedeutenden Romancier Mori Ogai übertragen wurde, erfolgte Breitenwirkung erst durch die Aneignung des Stoffs in mehreren Manga.

Sandra Richter zeigt erfrischenderweise keine Scheu vor der sogenannten Unterhaltungsliteratur sowie popkulturellen Bezügen. Charles Sealsfield, Karl May und Felix Dahn werden ebenso ausführlich behandelt wie das Phänomen Vicki Baum, der es als Exilantin gelang, erfolgreich ins Englische zu wechseln: "Sie verliebte sich auf der Stelle in New York, versuchte, sich anzupassen, setzte sich auf Diät, rasierte die Augenbrauen und färbte die Haare platinblond, um dem Chic der Zeit zu entsprechen. Ihr Alter mogelte sie um sechs Jahre herunter. ,Keine Goethezitate mehr' war die Devise - und fortan nannten die Zeitungen sie vertraulich ,Vicki' und verliebten sich endlich auch in sie. Baum wurde zur ,ersten multimedial vermarkteten Bestsellerautorin'." Das erinnert an die gegenwärtigen Inszenierungen von Christian Kracht, der sich mit Hilfe des marktbeherrschenden Agenten Andrew Wylie selbst als Weltautor inthronisiert.

Ein besonderer Reiz liegt im Auftritt vieler Nebenfiguren, die bei entsprechender Ausrichtung der Wissenschaft in zukünftigen Publikationen eine Hauptrolle spielen könnten, etwa des vornehmen Miguel Sáenz als spanischer Übersetzer von Grass und Bernhard, der wie mit einem Stethoskop jahrzehntelang die deutschsprachige Literatur abgehorcht hat. Wie viele andere Übersetzerinnen und Übersetzer zählt er zu den bislang zu selten besungenen Helden dieser Geschichte.

Eine derartige Kärrnerarbeit kann natürlich nicht ohne Fehler gelingen, was Sandra Richter bewusst ist; ihr Werk sei "auch eine Geschichte von Wissenslücken, von historischen und aktuellen Missverständnissen - und ist selbst nicht vor solchen Wissenslücken und Missverständnissen gefeit". So war etwa Hermann Hesse nie in Indien, ein Missverständnis von durchaus exemplarischer Bedeutung, denn 1913 erschien zwar sein Buch "Aus Indien", in dem er aber von einer mehrmonatigen Tour nach Indonesien erzählt, mit kurzem Stopp im damaligen Ceylon (ein Rezeptionist in Kandy hat vor einigen Jahren stolz darauf bestanden, mich in Hesses damaligem Zimmer unterzubringen). In Indonesien fand Hesse - welche Überraschung - das von seinem Großvater verklärte Indien nicht wieder. Trotzdem erschien 1922 "Siddhartha", ein Buch, das in Indien weiterhin sehr geschätzt wird. Allerdings ist es kein "Indien-Epos", sondern eine an den Jatakas angelehnte moderne Heiligenlegende über den Buddha.

Sandra Richters Mut zur Lücke ist verständlich, aber nicht immer nachvollziehbar. Als meine literarisch gebildeten Eltern als Asylanten in Deutschland ankamen, sprachen sie ihre ersten deutschen Bekannten voller Begeisterung auf Erich Maria Remarque und seinen Roman "Im Westen nichts Neues" an, nur um verwundert zu erfahren, dass dieser Autor im eigenen Land keineswegs jene Hochachtung genoss, die sie in ihrem kleinen Koffer mitgebracht hatten. Remarque war der deutsche Weltbestsellerautor und galt in Ländern wie Bulgarien als ein Gigant der deutschen Literatur. Er hätte einen Platz in dieser Abhandlung verdient.

In dem leider sehr kurzen Kapitel über Afrika fehlt ein Hinweis auf die hierzulande fast unbekannte deutschsprachige Literatur aus Namibia, an erster Stelle auf den jüngst verstorbenen Giselher Hoffmann, der mit "Die Erstgeborenen" einen der bedeutendsten transkulturellen Romane der letzten Jahrzehnte verfasst hat. Es wird auch außerhalb Mitteleuropas auf Deutsch geschrieben, wie das faszinierende Beispiel des Argentiniers Robert(o) Schopflocher ebenfalls belegt.

Aber solche Unschärfen stören nicht weiter, weil sie den Impetus des Buches nicht schmälern, das etwas miefige deutsche Haus zu lüften, die Gardinen aufzuziehen, die Fenster zu öffnen und die wechselhaften Monsunund Passatwinde von Geschichte und Gegenwart hereinzulassen (an dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber vermerkt, dass der Rezensent sich und seinen Roman "Der Weltensammler" gewürdigt fand). Noch sind wir beim Umgang mit deutschsprachiger Literatur weit entfernt von einem selbstverständlichen weltliterarischen Blick, aber mit diesem Buch immerhin auf dem richtigen Weg.

Vom nächsten Jahr an wird Sandra Richter die Nachfolge von Ulrich Raulff als Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach antreten. Man kann guter Dinge sein, dass die Schubladen des dortigen Archivs aufspringen werden, damit sich Gleiches zu Fremdem gesellen kann, denn dies ist die natürliche Nachbarschaft literarischer Produktion, wie ihr Buch nachdrücklich belegt.

Sandra Richter: "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur".

Verlag C. Bertelsmann, München 2017.728 S., Abb., geb., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Ilija Trojanow ist hocherfreut über Sandra Richters elanvolles Aufreißen verstaubter Schubladen, um die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Neuzeit zu präsentieren. Das weite Ausholen der Autorin, ihr geschwinder Schritt durch die Jahrhunderte und ihr Blick über den Tellerrand machen hoffentlich Schule in der Germanistik, meint Trojanow. Dass dem Buch kein konsistentes Narrativ zugrunde liegt, kann der Rezensent verkraften, ebenso manche Lücke in der Erzählung (Remarque!). Zu sehr beglücken ihn die vielen überraschenden, bei uns eher unbekannten Autoren, die durch ihre enorme Wirkung im Ausland plötzlich ins Licht rücken, oder einfach die Schilderung der Rezeption von Lessings Nathan durch die Epochen und Kulturkreise. Auch dass Richter vor Unterhaltungsliteratur (Karl May!) nicht Halt macht, gefällt ihm.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.12.2017

Feuerwerke globaler Wirkung
Sandra Richter schreibt eine Weltgeschichte der deutschen Literatur. Da ein Fokus fehlt, verfällt sie der Abhak-Philologie
Es ist ein Titel, der erst einmal verblüfft: „Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur“ nennt die Stuttgarter Germanistik-Professorin und künftige Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter, ihr mehr als 700-seitiges Buch. Die „Weltgeschichte“ auf dem Einband ist rot und fett gedruckt, doch bei den Porträts darunter – Goethe, Kafka, Thomas Mann, Karl May, Hertha Müller und, zentral, Mephisto – handelt es sich zweifellos um Landsleute. Dass sie ihre Verdienste haben, wird niemand bestreiten; doch wie käme hier die Welt ins Spiel?
Richter macht zunächst klar, was sie nicht im Sinn hat: nämlich keineswegs Weltliteratur, Sektion Germany. Der von Goethe und seinen Mitstreitern ins Spiel gebrachte Begriff scheint ihr in mehrfacher Hinsicht unbrauchbar zu sein: weil er den Leser durch die schiere Masse dessen, was er umfassen soll, überstrapaziert; weil er dem autoritären Kanon nahesteht; weil auch die Nazis ihn für sich besetzten; und weil er im Zeitalter der Globalisierung vor allem die englischsprachige und nach ihrem Vorbild gemodelte Literatur begünstigt. Stattdessen will die Autorin „beobachten, wie deutschsprachige Literatur in der Welt wahrgenommen wird“, und weiter: „Dieses Buch will sich dem bekannten und unbekannten Anderen nähern. Es riskiert das Scheitern am Unmöglichen – bewusst, weil es, so meine Überzeugung, das Risiko wert ist.“
Das Projekt ist freilich nicht ganz so neuartig und riskant, wie Richter glauben machen möchte. Sie bewegt sich vielmehr in den gut ausgefahrenen Gleisen der Rezeptions-, Motiv- und Stoffgeschichte, und wenn dem Buch eine Gefahr droht, dann am ehesten, dass es zu viel Altbekanntes wiederholt. Versprochen werden Fallbeispiele und ausgewählte Erzählungen, und teilweise auch wirklich geliefert; gleich am Anfang zum Beispiel die Geschichte des Einflusses, den der „Faust“ auf Mary Shelleys Frankenstein-Roman gehabt hat. Aber das Buch folgt dem Vorsatz, die ganze deutsche Literatur seit dem Mittelalter ins Auge zu fassen, vom Nibelungenlied bis Yoko Tawada und Feridan Zaimoglu. Da erweist sich rasch, dass 700 großformatige Seiten zwar viel sind, wenn man sie am Stück lesen soll, aber deutlich zu wenig, sobald es ums Einzelne geht. Sandra Richter verfällt, wie wohl nicht anders möglich, dem Geburtsfehler aller Literaturgeschichten: der Abhak-Philologie.
Es hört sich so an: „In die Romanszene kam nach 1989 rege Bewegung. Die sogenannte Berlin- und Popliteratur (Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre) feierte die neue Freiheit. Kritischer und dezenter widmete sich die Wendeliteratur Themen wie Heimat und Utopie sowie autobiografischen Reflexionen. Uwe Tellkamps ,Turm’ (2009) erhielt gleich nach Erscheinen Rezensionen im gesamten westeuropäischen Ausland; Guntram Vesper überraschte mit dem späten Wenderoman ,Frohburg‘ (2016). Dabei waren Wendeliteratur und Erinnerungsdiskurs eng miteinander verbunden: DDR-Reflexion ließ sich ohne den Blick auf die Nazi-Zeit nicht betreiben. Julia Francks preisgekrönter und viel übersetzter Roman ,Mittagsfrau‘ (2007) fügte wie in einem Vexierbild alle großen Themen zusammen: den Krieg, die deutsch-jüdischen Beziehungen, das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, dargeboten am Beispiel einer Mutter, die ihren kleinen Sohn auf einem Bahnsteig zurücklässt.“
Das Zitat musste so lang geraten, um einen Eindruck vom Habitus und vom Duktus dieses Buchs zu geben – zugespitzt formuliert, um exemplarisch zu langweilen. Die Autorin beschwört die Kraft des Narrativs, erzählt aber nicht (höchstens erzählt sie nach), sondern benutzt die gleichförmige Reihung als vorherrschendes kompositorisches Prinzip. Da so das deutschbürtig Besondere nicht zu seinem Recht kommt, verbleibt auch das, was die anderen draus machen, im Unbestimmten. Die außerdeutsche Rezeption hat ihre liebe Mühe, sich überhaupt Gehör zu verschaffen; man erfährt von ihr im zitierten Abschnitt gerade mal so viel, dass Tellkamp im Ausland rezensiert und Franck viel übersetzt wurde – aber nicht, wie das geschah. (Nebenbei bemerkt, scheint Richter nicht zu wissen, was ein Vexierbild ist.)
Richter spricht eingangs von der Unbescheidenheit ihres Vorhabens und Titels. Das Problem war ihr also klar. Sie hätte es auf zwei Arten in den Griff bekommen können: entweder durch die entschiedene Konzentration auf ein paar ausgewählte Fälle; oder durch eine sorgsam durchdachte, mehrdimensional angelegte Methode. Beides hat sie nicht getan. Trotz mancher bemerkenswerter Einzelfunde (zum Beispiel der japanische Kaugummi „Lotte“, der auf den „Werther“ rekurriert und „der Geliebte / die Geliebte deines Mundes“ zu werden verheißt), begnügt sie sich, sobald sie das Ganze ins Auge fasst, mit einfachen statistischen Verfahren. Eine zentrale Rolle spielen Anzahl und Orte der Übersetzungen. Ein kartografischer Appendix stellt die weltweite Wirkung von „Nathan dem Weisen“ oder der „Duineser Elegien“ als ein dynamisch aussehendes Feuerwerk dar, das vom Sprengpunkt Deutschland aus in alle Welt explodiert; dabei spiegelt es bloß das simple Faktum wider, dass Rilke außer in Island auch in Buenos Aires in die Landessprache übertragen wurde.
Dem Buch fehlt es an einem Fokus, der es über andere, allzu ähnliche Werke sowie über das, was sowieso jeder weiß oder leicht nachschlagen könnte, hinaushöbe. Wie ein solcher aussehen könnte, davon findet man immerhin an zwei Stellen eine Andeutung: bei Richters Interpretation des Bildes von M.D. Oppenheim, „Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn“, wo sie die missionarische Zudringlichkeit Lavaters sehr sinnfällig macht; und dann bei einigen ihrer „Fünfundzwanzig Thesen“, die einen weiteren Anhang bilden. Da findet sich, These 2: „Starke Figuren wandern besonders oft in die Literatur anderer Länder ein.“ Ferner, in These 6: „Biografismus hilft der Kulturermittlung.“ Außerdem, These 10: „Literaturrezeption bedarf des Milieus, oder: Ein fremdsprachiger Text kommt selten allein.“
Thesen sollten erst aufgestellt, dann erhärtet werden. Dass Sandra Richter es umgekehrt macht, dass sie ihre Thesen dem Buch nicht vorausschickt oder integriert, sondern sie zum Nachklapp gestaltet, lässt erkennen, wie außerordentlich schwer es ihr wurde, die Früchte ihres Fleißes – Anmerkungen und Literaturverzeichnis umfassen jeweils rund hundert Seiten – in ein zusammenhängendes Werk zu organisieren.
BURKHARD MÜLLER
Die gleichförmige Reihung
ist hier das vorherrschende
kompositorische Prinzip
„Starke Figuren wandern
besonders oft in die
Literatur anderer Länder ein.“
Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. C. Bertelsmann, München 2017, 728 Seiten, 36 Euro. E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Dies ist nicht einfach nur eine Literaturgeschichte, sondern eine erhellende Analyse der Wechselbeziehung zwischen Globalisierung und literarischer Genese.« DIE ZEIT