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Im April 1849 beginnt Jakob Grimm mit der Ausarbeitung der ersten Artikel für »Das Deutsche Wörterbuch«, das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache. Er wendet sich den Buchstaben A, B, C zu, Bruder Wilhelm steigt beim D in die Arbeit ein - und es beginnt ein lexikographisches Martyrium. Erst 1971 wird das Werk mit Band 33 abgeschlossen, darin zeugen ca. 320.000 Stichwörter auf 34.824 Seiten von einem geradezu unfaßbaren Sprach-Reichtum.Das Grimmsche Wörterbuch ist die Wunderkammer und das Wortgedächtnis der Deutschen Sprache. Alleine schon das durch das Alphabet vorgegebene…mehr

Produktbeschreibung
Im April 1849 beginnt Jakob Grimm mit der Ausarbeitung der ersten Artikel für »Das Deutsche Wörterbuch«, das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache. Er wendet sich den Buchstaben A, B, C zu, Bruder Wilhelm steigt beim D in die Arbeit ein - und es beginnt ein lexikographisches Martyrium. Erst 1971 wird das Werk mit Band 33 abgeschlossen, darin zeugen ca. 320.000 Stichwörter auf 34.824 Seiten von einem geradezu unfaßbaren Sprach-Reichtum.Das Grimmsche Wörterbuch ist die Wunderkammer und das Wortgedächtnis der Deutschen Sprache. Alleine schon das durch das Alphabet vorgegebene Zusammentreffen der aus den unterschiedlichsten Bereichen und Zeiten stammenden Wörter verleiht ihm eine unvergleichliche Poesie. »Und jeder Eintrag im Grimm ist eine kleine Sitten- und Stilgeschichte.« (Adolf Muschg) Entdecken Sie mit uns unbekannte Wortschönheiten, anzügliche Kuriositäten und märchenhaft-exotische Wortkreationen aus den vergessenen Magazinen dieses unvergleichlichen Wortmuseums.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2018

Der Fernseher gilt nichts im eigenen Wohnzimmer
Geilreizige Fatzbuben: Peter Graf versammelt Kleinode aus dem Grimmschen Wörterbuch und ist über einige Fundstücke höchst irritiert

Ein Hausbuch sollte ihr Wörterbuch sein, wünschten sich die Brüder Grimm, in dem abends im Kreise der Familie geschmökert wird. Doch dafür war das am Ende auf dreiunddreißig Bände angewachsene Mammutwerk viel zu unhandlich. Jetzt ist eine abgespeckte Version erschienen, die den volkstümlichen Zweck erfüllen könnte. Der Verleger Peter Graf hat sich durch die fast 35 000 Seiten des Deutschen Wörterbuchs gearbeitet und seine Lieblingsausdrücke samt Erläuterungen und Belegen in einem schön gestalteten Band zusammengestellt, der etwa ein Hundertstel des Wörterbuchumfangs ausmacht. Von "abmurzeln" (absäbeln) über "lippeln" (mit den Lippen kosten) bis "Zwingburgbrecher" sind hier lexikalische Kleinode versammelt. Man lernt den "Furzklemmer" (Geizhals) kennen, begegnet dem "geilreizigen" "Fatzbuben" (Lotterbub) und erfährt, dass ein "Fernseher" ein Prophet ist - viel "Zungenhonig" zum Genießen also. Aber Graf nennt in seinem Vorwort auch dunkle Seiten, auf die er beim Durchblättern stieß: Es sind Einträge aus dem Geist des Nationalsozialismus mit Belegzitaten aus Quellen wie "Mein Kampf" und dem "Völkischen Beobachter".

Sie finden sich in den Abschnitten, die zwischen 1933 und 1943 entstanden, als die Druckerei des Wörterbuchs und viele Manuskripte zerstört wurden. Für Graf ist es "skandalös", dass diese Belege sich immer noch unkommentiert im Wörterbuch finden, und er hat seiner Empörung auch in mehreren Interviews Luft gemacht. Streckenweise konnte so der Eindruck entstehen, erst er habe diesen Sachverhalt aufgegriffen. Doch man kann sich über die Auswirkungen des NS-Regimes auf die Wörterbucharbeit in einigen Untersuchungen informieren, die seit den sechziger Jahren erschienen sind. Sie zeigen, dass dieser Einfluss sich vor allem in der Quellenauswahl niederschlug. Missliebige Schriftsteller wie Heine oder Thomas Mann wurden immer weiter zurückgedrängt, nationalsozialistische Autoren oder solche, die der "Bewegung" nahestanden, bevorzugt.

Einer Bestandsaufnahme des Grimm-Lexikographen Peter Schmitt zufolge wird Hitlers "Mein Kampf" in 96 Artikeln zitiert, Goebbels erscheint dreizehnmal, Alfred Rosenberg viermal. Hinzu kommen Autoren, die dem Regime verbunden waren wie Werner Beumelburg oder Hans Grimm. Ein Teil dieser Belegzitate ist ideologisch neutral, hier sollte die bloße Wahl der Autoren die Ergebenheit gegenüber den Machthabern demonstrieren. Aber daneben finden sich Einträge, die auch inhaltlich von der nationalsozialistischen Gesinnung geprägt sind. Stichwörter wie "Stirnarbeiter" oder "Sturmabteilung" und Unterartikel zu "Glaube" oder "Sünde" liefern Beispiele dafür.

Gemessen an den insgesamt 350 000 Artikeln des Wörterbuchs, ist die Zahl solcher Belege nicht hoch, aber natürlich wiegt jeder Fall schwer. Grafs Forderung nach einer Kommentierung ist also durchaus sinnvoll und die Internetversion ließe sie technisch auch zu. Dass es sie trotzdem noch nicht gibt, liegt daran, dass bislang die fachliche Perspektive der Sprachwissenschaftler und Historiker die Rezeption des Wörterbuchs dominiert. Für sie ist das Grimmsche Wörterbuch nicht nur ein sprachgeschichtliches Nachschlagewerk, sondern selbst ein historisches Zeugnis, in dem sich die Umbrüche und Verwerfungen seiner hundertzwanzig Jahre Entstehungszeit abgelagert haben. Dabei hat nicht nur die NS-Zeit Spuren hinterlassen, sondern zum Beispiel auch der Stalinis-mus, wie man am Eintrag zum Stichwort "Weltrevolution" gut sehen kann.

Doch mittlerweile hat "der Grimm" die Grenzen der akademisch eingehegten Welt längst überschritten. Zuerst als Taschenbuchausgabe, jetzt in digitaler Form ist er tatsächlich zu einem Volkswörterbuch geworden. Das aber wird genutzt, als sei es ein Nachschlagewerk aus einem Guss, eine Art Duden für die Sprachgeschichte. Viele Grimm-Freunde legen - bei aller nostalgischen Freude am verwunschenen Wörterwald - die politischen Maßstäbe ihrer Gegenwart an, ohne die verschiedenen historischen Hintergründe einzubeziehen.

Grafs Buch, das nach seinem Bekunden "ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch" entstanden ist, steht für ebendiese Herangehensweise. So wünschenswert nun eine Kommentierung wäre, so unklar ist, wie weit sie gehen, was alles sie abdecken müsste. Auch ein Stichwort wie "Stoßtrupp" beispielsweise? Das darauf basierende "Stoßtruppunternehmen" gefiel Graf so gut, dass er es in seine Blütenlese aufgenommen hat, offenbar ohne sich am lexikographischen Kontext zu stören: Die Artikel zu "Stoßtrupp" und zu "Stoßtruppunternehmen" entstanden 1934. Als Belege werden Heeresberichte von 1917 angeführt, in denen deutsche Stoßtrupps englische Schützengräben "säubern". Einer der zitierten Autoren ist Erich Ludendorff, ein früher Verbündeter Hitlers. Das alles lässt sich historisch erklären - aber dass gerade Graf angesichts seiner Entrüstung über sprachpolitische Abgründe des Wörterbuchs und seiner Versicherung, in seinem Buch finde sich "von alldem natürlich nichts", das "Stoßtruppunternehmen" zu den "Wortschönheiten" zählt, erstaunt schon.

Historischen Informationsbedarf verrät auch die mittlerweile verbreitete Verklärung von Jacob Grimm als demokratischer Lichtgestalt, für die auch Graf ein Beispiel liefert. Grimm erscheint bei ihm als antinationalistischer Freiheitskämpfer und Identifikationsfigur einer demokratischen Leitkultur, weil er die deutsche Einheit auf "Freiheit" gründen wollte. Doch die Vorstellungen der Grimms von "Freiheit" und "Volk" hatten mit der politischen Realität ihrer und erst recht unserer Zeit wenig gemein, dafür viel mit ihrem romantischen Geschichtsbild. "Republikanische Gelüste" lehnte Jacob Grimm ebenso ab wie den Grundrechte-Katalog der Französischen Revolution, stattdessen beschwor er altgermanische Rechtsgrundsätze. Als Abgeordneter im Paulskirchenparlament erstrebte er ein vereintes Deutschland unter preußischer Führung in Form einer verfassungsgebundenen Monarchie.

Grimms "einende Kraft" der deut-schen Sprache, in der Graf den Gegenpol zu einem nationalistisch begründeten Deutschland-Konzept sieht, war politisch mehrdeutig. Indem Grimm nämlich die begrifflichen Grenzen zwischen "deutsch" und "germanisch" verwischte, legte er machtpolitische Folgerungen nahe, die schon etliche seiner Zeitgenossen irritierten. Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Brüder bleibt von alldem unberührt, aber für bundesrepublikanische Selbstfindungsdiskurse eignen sie sich nicht.

WOLFGANG KRISCHKE

Peter Graf (Hrsg.):

"Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter

Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch".

Verlag Das kulturelle

Gedächtnis, Berlin 2017.

352 S., geb., 25,- [Euro].

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