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Was zeigt uns Piero della Francescas »Madonna del parto«, wenn sie ihr blau-wallendes Kleid über dem Bauch mit grazilen Fingern zu einem langen Schlitz öffnet? Diese Frage mag der Ausgangspunkt von Hubert Damischs Studie gewesen sein, in der er uns einen zugleich kunsthistorischen, psychoanalytischen und anthropologischen Zugang zum Werk des berühmten Renaissance-Malers und Mathematikers eröffnet. Als Hommage an und in impliziter Abkehr von Freuds legendärem Aufsatz »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« will Damisch nicht den »Menschen Piero« analysieren, sondern vielmehr ein…mehr

Produktbeschreibung
Was zeigt uns Piero della Francescas »Madonna del parto«, wenn sie ihr blau-wallendes Kleid über dem Bauch mit grazilen Fingern zu einem langen Schlitz öffnet? Diese Frage mag der Ausgangspunkt von Hubert Damischs Studie gewesen sein, in der er uns einen zugleich kunsthistorischen, psychoanalytischen und anthropologischen Zugang zum Werk des berühmten Renaissance-Malers und Mathematikers eröffnet. Als Hommage an und in impliziter Abkehr von Freuds legendärem Aufsatz »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« will Damisch nicht den »Menschen Piero« analysieren, sondern vielmehr ein Kunstwerk verstehen, das wie eine Kindheitserinnerung aufgebaut ist und die wohl älteste Frage der Menschheit in Szene setzt: Woher kommen wir? Und vor allem: Woher kommen die Kinder?
Autorenporträt
Damisch, HubertHubert Damisch war Philosoph und Kunsthistoriker und lehrte über dreißig Jahre an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris, wo er 1967 den Cercle d'histoire/théorie de l'art, heute CEHTA (Centre d'histoire et théorie des arts) gründete. Mit der von ihm begründeten »iconologie analytique« und seinen zahlreichen Werken über Malerei, Architektur, Fotografie, Kino und das Theater hat er die Kunstgeschichte und Ästhetik in Europa und den USA nachhaltig geprägt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Das Rätsel der schwangeren Madonna

Woher kommen die Babys? Hubert Damisch widmet sich dem Maler Piero della Francesca, parodiert Freud und gibt dabei auch der Kunstgeschichte ein paar Winke.

Ein Geheimnis zu lüften hat schon manchen ins Unglück gestürzt. Aber welchem Kunsthistoriker, der die tiefere Bedeutung eines Gemäldes zu enthüllen versuchte, ist es schon so ergangen wie Ödipus, als er die Verbrechen am Königshof zu Theben aufdeckte? Wer sich nach Arezzo, Monterchi oder Urbino begibt, um den Sinn von Piero della Francescas träumendem Konstantin, seiner schwangeren Maria oder der drei prominenten Nebenfiguren der "Geißelung" zu enträtseln, hat allenfalls die Reisebusse auf den kurvenreichen Gebirgsstraßen des "Piero Trail" zu fürchten.

Aber warum zieht ausgerechnet Piero della Francesca, der Maler klar umrissener Volumina, der auch die Nacht in die Helligkeit der Geometrie zu tauchen verstand, das Interesse kunsthistorischer Detektive auf sich? Woher rührt der Erfolg von Deutungen, die sich als Entschlüsselungen verborgener Botschaften ausgeben? Sind Zeichnung, Proportion und Farbe, die Piero in seinem epochalen Traktat "De prospectiva pingendi" als die drei Hauptprinzipien der Malerei definiert hat, bloßer Schein, der ein Rätsel verbirgt, dem seine Kunst ihre eigentliche Bedeutung verdankt? Eine ebenso kunstvolle wie ironische Antwort bietet der französische Kunsttheoretiker Hubert Damisch in seinem 1997 erstmals publizierten und nun auf Deutsch vorliegenden Essay "Eine Kindheitserinnerung von Piero della Francesca".

Die "Madonna del Parto", ein Fresko, das Piero vermutlich um 1460 für die Kirche Santa Maria di Momentana in Monterchi geschaffen hat, steht im Zentrum des schmalen Bandes, dessen Titel offensichtlich an Freuds "Leonardo" angelehnt ist. Erwartet uns eine neue Variation des psychoanalytischen Romans über das Genie am Rockzipfel der phallischen Frau? Die auf dünner Quellengrundlage oft behauptete Beziehung des Madonnenbildes zu Pieros Mutter, die vermutlich in Monterchi geboren wurde, böte Stoff für eine derartige Neubearbeitung. Erleichtert nimmt man das Motto zur Kenntnis, das Damisch in Samuel Becketts "Molloy" gefunden hat: "Und dann lassen wir gefälligst meine Mutter aus diesen Geschichten heraus, wenn Sie gestatten."

Auch der Titel rückt mit einem kleinen Eingriff von seinem Vorbild ab: Wo Freud mit dem Genitiv unmissverständlich behauptet, dass die Kindheitserinnerung der psychischen Realität des Künstlers angehört, fügt Damisch die Präposition "von" (im französischen Original "par") ein, um die Kindheitserinnerung als Werk und den Maler als ihren Autor zu bestimmen.

Nicht dem Leben des Künstlers, sondern dem Werk und dessen Nachleben gilt also Damischs Interesse. In einer brillanten Analyse führt er vor Augen, wie die Öffnung des Baldachins, die von den beiden exakt spiegelsymmetrischen Engeln vollzogen wird, um die schwangere Jungfrau zu präsentieren, in eine Bewegung umschlägt, die sich nach innen wendet, als Einfaltung, die von der mehrdeutigen Geste vollzogen wird, mit der Maria den Schlitz ihres Umstandskleides zugleich bedeckt und andeutet. Aus dieser Beobachtung entwickelt Damisch seine Hauptthese, dass Pieros Fresko uns in eine Lage bringt, die mit der psychoanalytischen Situation vergleichbar sei: Hier wie da kehrt die Frage wieder, vor der einmal das forschende Kleinkind gestanden hat, als es sich wunderte, woher denn die Babys kommen. Den Stereotypen und Fehlleistungen der Rezeptionsgeschichte entnimmt Damisch eine Reihe von Hinweisen, dass es kein anderes Geheimnis ist als dieses, welches die Betrachter der Madonna del Parto beschäftigt und auch jene modernen Kunstliebhaber nach Monterchi lockt, denen das christliche Mysterium der Menschwerdung nichts mehr bedeutet.

Das Bild ist aber nicht nur eine Kindheitserinnerung, die uns wieder in den Bann jener Frage zieht, die am Ursprung aller Ursprungsrätsel steht. Es bietet auch eine Antwort, die uns ebenso wie die erfolgreiche Deutung eines Analytikers erlaubt, die infantile Phantasie auf unsere Gegenwart zu beziehen. Freud bezeichnete eine solche Deutung als analytische "Konstruktion". Damisch traut der perspektivischen eine vergleichbare Leistung zu. Indem sie die Bedingungen festlegt, unter denen wir die schwangere Maria sehen, schafft sie in unserer aktuellen Erfahrung einen Ort für dieses archaisch anmutende Bild.

Als Verbindungsglied zwischen Kunstwerk und Analyse erweist sich der Begriff der Konstruktion, der Damisch als Vehikel dient, um zwischen dem mütterlichen Monterchi und der Herzogsstadt Urbino, die im Quattrocento auch als Zentrum der Perspektivtheorie erblühte, die Serpentinen einer spekulativen Kunstbetrachtung auszukosten. Es handelt sich um einen raffinierten Eigenbau, in dem man gern mitfährt, um in rasanter Fahrt die rasch wechselnden Aussichten zu genießen, den man aber selbst nicht zu steuern vermöchte und der sicher nicht für den Einsatz als Planier- und Transportfahrzeug der kunsthistorischen Forschung entworfen wurde.

Damischs vielfältige Wirkung auf Generationen von Kunsthistorikern dies- und jenseits des Atlantiks beruht denn auch auf der Distanz, die er seinen Lesern und Zuhörern aufnötigt. Neben der legendären Dunkelheit seiner Texte kommt ihm dabei auch sein Humor zu Hilfe. Als Hommage an Freud und zugleich als Parodie auf dessen Meisterwerk der angewandten Psychoanalyse angelegt, treibt dieser "Piero" sein Verwirrspiel auch mit einer Kunstgeschichte, für die jedes Werk ein Monument ist, in dessen Kammern ungehobene Schätze auf ihre Entdecker warten. Wir kennen sie längst, klärt Damisch uns auf und verstrickt uns zugleich in die Betrachtung eines Kunstwerks, dessen Geheimnis kein Rätsel ist.

RALPH UBL

Hubert Damisch: "Eine Kindheitserinnerung von Piero della Francesca". Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 168 S., br., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Endlich kann Hubert Damischs bereits 1997 erschienene "Kindheitserinnerung von Piero della Francesca" auch auf Deutsch gelesen werden, freut sich Rezensent Ralph Ubl. Denn dieser Essay, in dessen Zentrum Francescas Fresko "Madonna del Parto" steht, besticht nicht nur durch Kunstfertigkeit, sondern auch durch die Ironie, mit der der Kunsttheoretiker Damisch sich Werk und Nachleben widmet, verkündet der Kritiker zufrieden. Als Hommage an Freud und doch auch als gelungene "Parodie" der angewandten Psychoanalyse liest Ubl diese exzellente Untersuchung, die ihm nicht nur humorvoll, sondern auch in Damischs ganz eigenem Erzählton Fehlleistungen der Rezeptionsgeschichte der "Madonna del Parto" vor Augen führt.

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»Eine brillante Analyse, ebenso kunstvoll wie ironisch ... Der Begriff der Konstruktion dient Damisch als Vehikel, um zwischen dem mütterlichen Monterchi und der Herzogsstadt Urbino die Serpentinen einer spekulativen Kunstbetrachtung auszukosten. Es handelt sich um einen raffinierten Eigenbau, in dem man gern mitfährt, um in rasanter Fahrt die wechselnden Aussichten zu genießen.« Ralph Ubl, Frankfurter Allgemeine Zeitung