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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 239
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 436g
  • ISBN-13: 9783549057803
  • ISBN-10: 3549057806
  • Artikelnr.: 24698862
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2000

Der Feind ist maskiert und lauert überall
Wenn aus dem Sehen erst einmal ein Spähen geworden ist: Verschwörungstheorien und der Wahn von der großen bösen Absicht

Zum frivolen Wissen eines modernen Intellektuellen gehören Verschwörungstheorien. Man lese die Romane von Thomas Pynchon, einem Klassiker der Postmoderne, die regelrecht um eine "kosmische Verschwörung" (Heinz Ickstadt) kreisen: Von "W.A.S.T.E", einem geheimen Kommunikations- und Zeichensystem, erzählt - zur Musik der "Paranoids" - Pynchons "Versteigerung von NO 49". Ist W.A.S.T.E am Ende gar die Literatur selbst (waste = Abfall)? Aber Vorsicht! Da, wo eine solche Frage primär gestellt und mit guten Gründen verneint wird, im Feuilleton also, herrschen "lauter Doktor Mabuses der Kulturindustrie", die "immer neue Pläne zur Überwältigung der Öffentlichkeit aushecken".

So schrieb Richard Herzinger in einem witzigen Beitrag über "Kulturkonspirateure" für das legendäre Kursbuch 124 zu den "Verschwörungstheorien". Anders als amerikanische Romanciers beschäftigen sich deutschsprachige Literaten heute primär mit Feuilleton-Verschwörungen. Erinnerlich ist Martin Walsers Irritation über die "Meinungssoldaten", die den "Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen". In seinen jüngsten Aufzeichnungen aus Jugoslawien vermutet wiederum Peter Handke hier einen "Zeit-Hinterhalt" und sieht dort die mit der Nato-Propaganda "wie geschmiert zusammenspielenden Medien". Wenig trennt eine hohe Sensibilität für Tendenzen und Strömungen von einem hybriden Kampf gegen die Macht "der Medien", "des Systems": "Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis", formulierte die "Dialektik der Aufklärung". Gerade Walser weiß darum. In seinem Roman von 1996 wittert der Beamte Fink eine gigantische politische Verschwörung hinter seiner Versetzung. "Finks Krieg" gegen die Intriganten aus der Hessischen Staatskanzlei wird bald zu einem "gigantomanen Kleinbürgerkrieg", wie sein Schriftsteller-Freund hinterrücks kolportiert. Fink droht der "Verfolgungswahn".

Man kennt das aus der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte: Der Held des Kafka-Kenners Walser erinnert stark an den Bankangestellten Josef K. Ein weiterer "Kleinbürger" (nach Bert Brecht), der in einem 1925 veröffentlichten "Prozeß" unschuldig schuldig gesprochen wurde. Während seiner ersten Vernehmung entdeckt K., daß die Anwesenden heimlich dieselben "Abzeichen" tragen. Gehören die "scheinbaren Parteien links und rechts" also zu einer "großen Organisation", die "hinter der Verhaftung" steckt? Hat K. sich diese Verschwörung nur eingebildet? Oder ist er der heimlichen Wahrheit auf der Spur? Schwer zu sagen, denn im Verlauf seines Prozesses können Leser und Romanfiguren immer weniger erkennen, wo "Freund und wo Feind" ist. So lassen sich Verschwörungstheorien kaum noch formulieren, liegt ihnen doch ein extremer Dezisionismus zugrunde. Carl Schmitt, der große Dezisionist, schätzte die "Augenblicke", in "denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird".

In der hier mitgedachten Annahme, daß der Feind sich in der Regel verstellt und maskiert, kommt eine "Verschwörungsmentaliät" (Serge Moscovici) zum Ausdruck, die unter den Intellektuellen der Zwischenkriegszeit verbreitet war. So wollte Schmitt im "Kampf gegen den jüdischen Geist", wie er formulierte, 1936 einen "Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit" erkennen. Verschwörungstheorien gehören wesentlich zu den modernen Ausprägungen des Judenhasses: Bis heute wirft der Antisemitismus seine schwarzen Schatten auf den Konspirationsdiskurs. Daneben ist die Verschwörungsmentalität Teil einer "Sozialgeschichte des Mißtrauens" (Peter Sloterdijk), die in der Weimarer Republik gewaltigen Stoff findet.

Der verlorene Weltkrieg und eine rasende Inflation steigerten den Argwohn enorm, neusachliche Literaten wie Walter Serner oder Ernst Jünger setzten ihre Helden einer "Fahndungsöffentlichkeit" (Helmut Lethen) aus. Ein paar gute Gründe gab es schon, mißtrauisch zu sein. So beklagte Erich Ludendorff, daß sich der belgische Landsturm nur "zu oft im bürgerlichen Gewand" getarnt habe, als er für die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Belgien geradestehen sollte. Auch General a.D. Ludendorff, der vom Publizisten Willy Haas 1929 ausdrücklich mit einer Kafka-Figur verglichen wurde, glaubte sich und sein deutsches Volk zu Unrecht angeklagt. Obwohl er stets das Gute wollte, trieb ihn eine böse Macht ins Unglück. In diesem manichäischen Geist kolportierte er 1919 die "Dolchstoßlegende". Später schrieb er zahlreiche Bücher und Broschüren gegen die "überstaatlichen Mächte" mit so sprechenden Titeln wie "Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse" (1927).

Dabei leuchtete Ludendorff die "Hintergründe dieser okkulten Gebilde mit dem unbarmherzigen Scheinwerfer seiner Aufklärung ab", schrieb einer seiner Anhänger aus dem "Tannenbergbund". Die Metaphorik verweist auf eine Ästhetik des Scharfblicks. In der Verschwörungsmentalität wird jedes Sehen sofort zu einem Spähen. Die "Freund-Feind-Theorie ist eine Wahrnehmungsprothese", bemerkt Helmut Lethen in seiner epochalen Studie zu den "Verhaltenslehren der Kälte" (Frankfurt am Main 1994). Über den Paranoiker, den nächsten Verwandten des Verschwörungstheoretikers, urteilte schon Sigmund Freund, daß er "schärfer" als andere sehe, weil ihm die "Kategorie des Zufälligen" fremd sei. Dem Verfolgungswahnsinnigen mangelt es, modern gesprochen, an Kontingenztoleranz. Eine Welt voll böser Absichten, wie sie der Paranoiker wahrnimmt, akzeptierte Freud freilich nur als Zerrspiegel des Wahns.

Was aber, wenn ein Paranoiker für einmal wirklich verfolgt wird? Zuweilen hat man auch eine Verschwörungstheorie mit dem schlichten Hinweis auf eine Projektion abgetan. So ignoriert man die Einsicht vieler Denker, daß ohne ein Projizieren gar kein Erkennen möglich ist. "Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin", folgern denn auch Horkheimer und Adorno, wenn sie über den enormen Erfolg der um 1900 gefälschten und dann in Umlauf gebrachten "Protokolle der Weisen von Zion" nachdenken, die eine jüdische Weltverschwörung behaupten.

Leider ist auch Zynismus ein reflexives Verhalten: Wenn ihr zu Walther Rathenau gefragt werdet, dann "sagt irgend etwas, das die Leute verstehen, die gewohnt sind, ihren Morgenblättern zu glauben. Sagt meinetwegen, er sei einer von den Weisen von Zion". So ähnlich hat später auch ein Goebbels gedacht. Hier aber läßt der Schriftsteller und Konspirateur Ernst von Salomon Erwin Kern sprechen. Kern war der Kopf der "Organisation Consul", kurz: "O.C.", die im Juni 1922 den Außenminister Rathenau erschossen hatte und angeblich auf die berühmt-berüchtigte Losung: "Verräter verfallen der Feme!" eingeschworen war. War dieser Femebund nur ein Gerücht, um die "Verschwörungspsychose ins Ungemessene zu steigern" und die Republik zu destabilisieren, wie von Salomon dann behauptete? Wie weit gespannt das heimliche Spinnennetz der rechten Verschwörer um 1920 tatsächlich war, hat der Historiker Martin Sabrow jüngst anhand von neuem Quellenmaterial aufgezeigt. Nicht jede Verschwörung ist also nur eingebildet. Und nicht jede Einbildung ist ein eitler Wahn. In diesem Sinn forderte der Kulturphilosoph Arthur Trebitsch, ein jüdischer Zeit- und Schicksalsgenosse von Otto Weininger, in seiner "Geschichte meines ,Verfolgungswahnes'" (1923) eindringlich, ihn nicht länger für einen Wahnsinnigen zu halten. Die "Erreichung eines psychopathologischen Zustandes" sei ja gerade das Ziel der elektromagnetischen Angriffe der "Alliance Israélite Universelle" auf seine Nerven gewesen. Daß man ihn für paranoid hält, beweist ihm also, daß er wirklich verfolgt wird. Robert A. Wilson spricht von einer "seltsamen Schleife" in der Konstruktion einer Verschwörungstheorie, die jeden Beweis gegen sie ebenso zum Beweis für sie macht.

Nun mag man das für schiere "Pop-Dämonologie" halten. Aber auch im seriösen Bestreben, etwa die antisemitische Weltverschwörungstheorie zu widerlegen, treten erhebliche Zweifel auf: Geht das überhaupt? Manche Historiker haben sich in den gesunden Menschenverstand geflüchtet. Genauer argumentiert Daniel Pipes, der das Kriterium der Wahrscheinlichkeit vorschlägt. Verschwörungstheorien sind demnach nicht wahr oder falsch, sondern mehr oder weniger wahrscheinlich. Ihre Plausibilität sinkt mit der steigenden Komplexität des Handlungszusammenhangs. So gesehen, ist eine Intrige in der Staatskanzlei eine sehr wahrscheinliche Angelegenheit, ein Komplott der Medien ein zwar mögliches, aber wenig wahrscheinliches Ereignis und eine jüdische Weltverschwörung ein extrem unwahrscheinlicher Fall. Eine solche strukturelle Nähe zum "Wunder" macht Verschwörungen zu einem krypto-religiösen Phänomen. Wirklich ist ja der Teufel "der Verschwörer katexochen hochkultureller religiöser Imagination" (Dieter Groh): Zu den betrüblichen Lehren Eric Voegelins aus der "politischen Geschichte des Teufels" gehört die kurz vor seinem Exil 1938 publizierte Einsicht, daß der gezielte "Aufbau einer Haßeinstellung" den Zusammenhalt der "Massen" unter Umständen mehr fördert als friedvolle Gemeinschaftsrituale.

Ein Ende dieser Geschichte ist nicht abzusehen. Begonnen hat sie vielleicht am Freitag, dem 13. Oktober 1307 - seither ein Unglückstag -, als der Großmeister Jacques de Molay und 123 seiner "Tempelritter" von der französischen Inquisition verhaftet wurden. Neben dem Vorwurf des Satanismus lautete die Anklage gegen den reich gewordenen Orden auch auf die "widernatürlichsten Schandtaten"; von einem "Geheimbunde zur Beförderung der Päderastie" sah sich später nicht nur ein Patient des Psychiaters Kraepelin verfolgt. Eine tabuisierte Homosexualität gab auch den Verschwörungstheorien über Ernst Röhms "SA" Nahrung, die im Sommer 1934 zerschlagen wurde. Die Templer waren der erste abendländische Geheimbund, der den Verdacht einer Verschwörung auf sich zog. Sogar für die Französische Revolution - die eine erste Welle von Verschwörungstheorien auslöste - wurden sie dann verantwortlich gemacht. In den Freimaurerlogen hätten sie heimlich fortgewirkt, wo dann im Bunde mit Adam Weishaupts "Illuminaten" und den "Philosophes" der Sturz des Königs geplant wurde. Letzteres hatte Abbé de Barruel breit dargelegt, der auch die deutsche politische Romantik beeinflußte.

Die "Templer" selbst inspirierten noch Stefan George zu einem Gedicht dieses Titels, das einen Bund von Männern preist, der nicht den "sitten und den spielen" der anderen folgt. Wer "es" darin lesen wollte, der las es auch. Mit der Beschwörung eines "geheimen Deutschlands" (Ernst Kantorowicz) im George-Kreis war die Faszination der Dichter und Denker für Geheimbünde und Verschwörungen in der klassischen Moderne auf ihrem Höhepunkt angelangt. Gleichzeitig setzt da und dort ein geistreich-ironischer Umgang mit Verschwörungstheorien ein: In Thomas Manns "Zauberberg" (1924) läßt Leo Naptha, der scharfzüngige Jesuit, so lange alle denkbaren Verschwörungstheorien über den 1819 ermordeten Dichter Kotzebue Revue passieren, bis sein Kontrahent Settembrini, dieser ein Freimaurer, die Geduld verliert. Noch in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" hatte Mann 1918 rhetorisch gefragt, welche "Rolle das internationale Illuminatentum, die Freimaurer-Weltloge" bei der "Entfesselung des Weltkriegs gegen Deutschland" gespielt habe, er besitze hier seine "genauen und unumstößlichen Überzeugungen". Wie zehntausend andere hatte nämlich auch er "den Wichtl", Friedrich Wichtls "Weltfreimaurerei - Weltrevolution - Weltrepublik", gelesen.

Sein Material bezog der österreichische Nationalrat aus dem deutschen Auswärtigen Amt, das 1917 ohne Erfolg den Verfasser des "Golem", Gustav Meyrink, zur Niederschrift eines freimaurerfeindlichen Romans bewegen wollte. Wie die meisten Antisemiten hielt auch Wichtl die Freimaurerei für eine jüdische Sache. Houston Stewart Chamberlain treffe den Nagel auf den Kopf, wenn er rundweg erkläre: "Der Freimaurer ist ein künstlicher Jude." Diesen später von Ludendorff aufgenommenen Aberwitz - der Initiationsritus der Logen sei eine symbolische Beschneidung - untermauerte Wichtl mit dem Hinweis auf "Die Geheimnisse der Weisen von Zion" aus dem Verlag "Auf Vorposten". Diese Fassung der "Protokolle der Weisen" kaufte Anfang der zwanziger Jahre auch der Berliner Publizist Binjamin Segel. Er staunte nicht schlecht, als er las, wie jüdische "Geheimbünde" die Parlamente unterwanderten, Wirtschaftskrisen auslösten, die "öffentliche Meinung" kontrollierten, ja die "Untergrundbahnen der Hauptstädte" für ihren Terror bauen ließen. Alles in allem wollten die ,Weisen' in naher Zukunft die Weltherrschaft erobern und ein Terrorregime errichten. Der verblüffte Segel hielt das erst für ein "antisemitisches Pamphlet", dann für eine überzogene "Satire auf den Antisemitismus". Wenig später kam er wieder zu seiner ersten Ansicht. Segel legte 1924 eine erste detaillierte Analyse der "Protokolle" vor: Ganze Passagen des Textes waren einer kaum bekannten Satire über die Machtpolitik Napoleons III. entnommen.

Das schillernde Bild der Macht, das die "Protokolle" abgeben, hat wiederholt die Frage aufwerfen lassen: Qui bono? Zwar beklagt Stephen Eric Bronner zu Recht eine verkürzte "postmoderne Sichtweise" auf die "Protokolle", die den Text als pure literarische "Fiktion" neben anderen liest, nicht besser und nicht schlechter. Aber es ist eben doch ihr fiktiver Charakter, der ihre Rezeptionsgeschichte an diesem Punkt wesentlich mitbestimmte. So befand Hannah Arendt in ihrer Totalitarismus-Studie, daß Haß das Interesse der Nazis für die "Protokolle" nur zum Teil erkläre, stärker noch sei eine "Bewunderung" für die "Methoden" der Weisen gewesen. Die "Protokolle" waren wie für die Nazis geschrieben: Arendt griff ein hartnäckiges Gerücht auf, das im Februar 1934 in der Behauptung der "Deutschen Freiheit" aus dem französisch verwalteten Saarbrücken gipfelte, ein anonymer "Naziführer-Emigrant" habe das "Hitler-Geheimnis" gelüftet. Punkt für Punkt befolge der Führer die "Protokolle" und komme nur dort nicht weiter, "wo die lückenhaften Pläne der Weisen von Zion ihn im Stich lassen". Hermann Rauschning behauptete später ähnliches.

Heute noch greifen dubiose Esoteriker auf Nesta Webster zurück, die 1921 die "Protokolle" nicht den jüdischen Verschwörern, dafür aber den wundersam überlebenden "Illuminaten" zugeschrieben hat. Wilson führt diese "Austauschbarkeit der Teufelsgruppe" bis auf eine abstrahierende Tendenz unserer Sprache zurück. So ist Ahasver für das Wandern der Verschwörungen ein Name, die Templer einfach ein anderer. Bis zur allgemeinen Einsicht, daß es in einer "kosmischen Verschwörung" überhaupt kein Zentrum mehr gibt, ist es freilich noch ein langer Weg. Aber es ist schon ein kleiner und wohltuender Schritt dorthin, daß man heute auch über deutsche Kulturkonspirateure ungestraft schmunzeln kann.

MICHAEL ANGELE

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