Produktdetails
  • Verlag: btb
  • ISBN-13: 9783442772049
  • Artikelnr.: 62895099
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2014

DIE KRIMI-KOLUMNE
Menschsein heißt
morden
Einerseits ist der neue Roman von Håkan Nesser mehr ein Krimi als viele seiner Vorgänger, darunter die fünf Romane mit und um den Kommissar Barbarotti, die zwischen 2006 und 2012 erschienen sind. Andererseits könnte man aber auch von einer Krimiparodie sprechen, denn so ganz unsympathisch bleibt die Romanfigur, die den Turning-point-Mord begeht, nicht, ganz im Gegenteil. Kommt hinzu, dass ein Kommissar erst auf Seite 456 von 461 Seiten auftaucht. Was die Verlässlichkeit der literarisch zu sichernden Instanzen in einem Krimi keinesfalls befestigt.
  Maria Holinek ist gebildet und schön, im mittleren Alter und Mutter einer Tochter. Und erfolgreiche Fernsehmoderatorin. Dass sie auf ihren gebildeten und gutaussehenden Mann Martin an ihrer Seite dann und wann auch gern verzichten könnte, kann man ihr nicht verdenken. Der Mann ist Literaturwissenschaftler und ein – absolut in unsere Zeit passender – erfolgreicher Möchtegernschriftsteller. Seine erotische Disposition ist sehr weitläufig und macht, einschließlich eines medial breitgetrampelten Vergewaltigungsvorwurfs, das Zusammenleben zuweilen sehr anstrengend für Maria.
  So der Versuchsaufbau Nessers. Doch von diesem Aufbau und der mit ihm beabsichtigten Konstruktion ist nichts zu spüren in diesem ebenso leichten wie eleganten Roman, der die meiste Zeit in Winsford, Grafschaft Somerset mit der Heide Exmoor spielt. Und folglich mit jeder Menge literarischer Bezüge, William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Lord Byrons Tochter Ada Lovelace. Ja, in dieser Gegend ist es in Herbst und Winter grau und neblig, feucht und unheimlich. Selbst eine so toughe Frau wie Maria hat dort manchmal Schiss, obwohl sie sich offenbar völlig freiwillig sich nach Winsford in ein altes Cottage (Kaminfeuer, Portwein, Bücher, Wolldecken, ein Hund namens Castor) zurückgezogen hat. Die Zwänge, unter denen dieser Rückzug stattfindet, werden durch Rückblende auf mehreren Zeitebenen deutlich – nie als Behauptungen oder Beschreibungen, immer nachgerade magisch aus den Reflexionen Marias und der disponierenden Klugheit des allwissenden Erzählers im Fluss der Geschichte sich entwickelnd. Es geht nach Polen, auf die Insel Samos und nach Marokko. Und ganz zum Schluss über Deutschland nach Stockholm. Da hat man allerdings schon verstanden, warum Martin nicht nach England mitgereist sein konnte.
  Dies ist auch ein Roman über Geschlechterrollen und die damit zusammenhängenden sozialen Fragen. Es ist ebenso ein Landschaftsroman und eine Erzählung über Möchtegernkünstler. Und mit allem verwoben sind sehr kluge Gedanken darüber, was das Menschsein ausmacht. Wobei immer damit zu rechnen ist, dass die Verhältnisse, mit denen ein solches Menschsein zu rechnen hat, durchaus auch ein Verbrechen umfassen können.
STEPHAN OPITZ
          
Håkan Nesser: Die Lebenden und die Toten von Winsford. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. btb Verlag, München 2014. 464 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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