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Produktdetails
  • Verlag: Fest
  • Originaltitel: Mich're ha-kerach
  • Seitenzahl: 284
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 446g
  • ISBN-13: 9783828600683
  • ISBN-10: 3828600689
  • Artikelnr.: 08855366
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2001

Das Ende im Bug
Aharon Appelfelds
Lager-Roman „Die Eismine”
Aharon Appelfeld, der in Israel rund dreißig Bücher veröffentlicht hat, wird immer wieder und zu Recht mit Primo Levi und Imre Kertész verglichen. Da sein Werk weniger spektakulär, weniger auffällig ist, hat es länger gedauert, bis dieser Schriftsteller auch in Deutschland die ihm gebührende Aufmerksamkeit fand. Nach einer kleinen Odyssee durch die Verlage – die Romane „Badenheim” und „Zeit der Wunder” erschienen bei Ullstein, „Tzili”, „Der unsterbliche Bartfuß” und „Für alle Sünden” bei Hoffmann und Campe – kam Appelfeld mit dem Roman „Der eiserne Pfad” zum Alexander Fest Verlag, der nun auch Die Eismine” herausgebracht hat.
Dieser Roman, dessen hebräische Originalausgabe 1997 erschien, handelt von den vielen Mustern des Selbstbetrugs, aber auch von der Wahrheit, „kalt wie Eis”. Was Aharon Appelfeld immer wieder beschäftigt, ist ein unlösbarer Widerspruch: dass der Massenmord in seinem ganzen Ausmaß erst durch das „Labyrinth von Illusionen und Versprechungen” möglich wurde und dass gleichwohl nur jene das Lager überleben konnten, die sich weigerten, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Der Roman steuert, in ruhiger, klarer, völlig unprätentiöser Prosa, immer wieder auf die Momente plötzlichen Bewusstwerdens zu, in denen ein Mensch mit einem Schlag jede Hoffnung und damit den Halt verliert. In dem Arbeitslager, von dem Appelfeld erzählt, bedeutet das den Tod: oft den durch eigene Hand. Auf die eiskalten Wasser des Flusses Bug, über den die Gefangenen Brücke um Brücke bauen, richtet sich dann die „betörende Sehnsucht”.
Das Leben im Ghetto erscheint Erwin, dem Protagonisten und Ich-Erzähler im Rückblick nach zwei Monaten im Lager wie eine warme Insel relativen Glücks. Mit Vater und Mutter hatte er dort in einer Uniform-Näherei. gearbeitet. Als Ida, seine siebzehnjährige Freundin, schwanger geworden war, hat ein Rabbiner sie und Erwin heimlich getraut. Weil Schwangere und Kinder sofort deportiert werden, plante das junge Paar die Flucht. Doch da wurde Erwin abgeholt: Angeblich sollte er, seiner besonderen Leistungen wegen, in eine Näherei nach München versetzt werden. Die Zugfahrt endete im Lager, irgendwo am Bug.
Überlebenshelfer
Aharon Appelfeld verknüpft die autobiografischen Elemente mit einer deutlich von Typologien geprägten Figurenzeichnung. Es geht weniger um die Bewältigung eigener Erfahrung als um eine Art Recherche möglicher Verhaltensformen. Die Täter lässt er nur am Rande in Erscheinung treten. Umso deutlicher geraten jene Menschen in den Blick, die ihre Fähigkeiten für das gemeinsame Überleben einsetzen. Die Eismine” ist auch ein Monument des Anstands, an Menschen erinnernd, die sich durch Güte, Nachsicht und Rücksichtnahme auszeichneten.
Da ist Doktor Buchbinder, ein Gymnasiallehrer, angesehen und gebildet. Als er überraschenderweise zum diensthabenden Verantwortlichen ernannt wird, erfüllt er die ihm zugewiesene Aufgabe nur mit allergrößten Skrupeln. Abends bittet er alle, denen er Gewalt antun musste, um Vergebung. Er spricht seinen Leidensgenossen Mut zu, rät zum Durchhalten, nährt, wenn einer meint, aufgeben zu müssen, mit geschickten Worten gezielt Illusionen. Er verteilt zusätzlich ergatterte Rationen, ohne sich selbst davon zu nehmen. Bis zum Schluss hält er durch. Doch als sich nach der Befreiung einige der ehemaligen Gefangenen zusammentun, um ihn der Kollaboration zu bezichtigen, da verläßt ihn alle Lebenskraft. Er gibt auf und stürzt sich, wie viele andere vor ihm, in den Bug. Da ist Buzzi, ein Kerl wie ein Baum, der trotz allem an seinem Glauben festhält. Er nimmt den anderen Arbeit ab und versöhnt sie, so weit das möglich ist, mit der Religion. Am Ende zündet er die Baracken an und fährt wie ein Racheengel „selbst zum Himmel auf”. Oder Honig: Er, der im Ghetto heimlich ein Café in seinem Keller betrieben hat, versteht es auch jetzt noch, im Lager, den anderen aufzuhelfen und das einzig durch seine Anwesenheit. Und nicht zuletzt finden sie Trost bei einem wie dem Traumdeuter Paul aus Czernowitz. „Den Körper kann man brechen, die Seele nicht. Die Seele ist ewig, sagt Paul immer, und Träume sind die Sprache der Seele. ”
Die Wärme und in gewisser Weise auch die Versöhnlichkeit können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Appelfeld um die Beschreibung des kategorialen Bruchs ringt, der die Überlebenden ein für allemal von ihrem früheren Leben abtrennt. Während der Lagerzeit hat Erwin kaum noch Erinnerungen, nur im Schlaf gibt es Abstand von der nackten, gedemütigten Existenz, und nur der Traum hält die Verbindung zu früher aufrecht. „Am Abend flohen wir an diesem Ort, doch unser Leben blieb hier. Jeden Abend würde es aus seinem Versteck kommen, am Ufer sitzen und aufs Wasser starren, genau wie wir es getan hatten. Wir werden von hier nicht mehr loskommen, egal, wie viele Tausende von Kilometern wir uns entfernen. Wir lassen uns selbst hier zurück. Was sich langsam fortbewegt, ist nichts als der schmale Schatten, den der Körper wirft. ”
Es gibt keine Sprache, die beide Welten umfasst. Das merkt man diesem Roman an, der eine Brücke bauen will, an deren Tragfähigkeit er selbst nicht glaubt.
MEIKE FESSMANN
AHARON APPELFELD: Die Eismine. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 284 Seiten, 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Aharon Appelfeld hat seine Romane aus der eigenen Erfahrung geschrieben. 1932 wurde er in der Bukowina geboren, lebte im Ghetto Czernowitz, flüchtete später aus dem Konzentrationslager, schloss sich 1944 der Roten Armee an und emigrierte nach dem Krieg nach Palästina, informiert Dorothea Trottenberg. Die jüngst erschienenen beiden Romane über das Überleben zweier Juden möchte er als "Saga jüdischer Traurigkeit" gelesen wissen, nicht als historisches Zeugnis, berichtet die Rezensentin. Als Historiker hat er sich darin auch zurückgehalten, meint Trottenberg, was den Geschichten selbst eine umso beklemmendere Atmosphäre verleihe. Für die Rezensentin ist der Autor ein hebräischer Erzähler, der seine Wurzeln in der europäischen Moderne sieht und in der Tradition von Samuel Beckett, Franz Kafka und Franz Werfel steht.
1) Aharon Appelfeld: "Die Eismine"
In "Die Eismine" stellt der Autor den Juden Erwin in den Mittelpunkt der Erzählung. Er überlebt zwar Ghetto und Lagerleben, aber nicht als der, der er einmal war. Die Erfahrung der sozialen Isolierung, Stigmatisierung, Zwangsarbeit und Deportation werden hier sehr eindringlich beschrieben, von einem, der die Perspektive seiner Figuren einnimmt, ohne als um das Ende wissender Erzähler zu fungieren und damit eine Distanz zwischen Leser und Figuren aufzubauen, meint Trottenberg. Ohne Pathos habe Appelfeld hier die Leiden des Lagerlebens beschrieben, in einem nüchternen und klaren Stil. Beinahe unterkühlt, so die Rezensentin, doch der Schrecken ist für sie zwischen den Zeilen sehr deutlich geworden.
2) Aharon Appelfeld: "Für alle Sünden"
Diesen Roman, bereits 1993 und 1996 auf Deutsch erschienen und jetzt noch einmal neu aufgelegt, hat die Rezensentin als eine Art Fortsetzungsroman zu "Die Eismine" gelesen, obgleich das Werk früher erschienen ist. Denn er spielt in der Zeit nach der Auflösung der Lager und thematisiert das, was der Jude Erwin am Ende von "Die Eismine" anspricht: Die Entwurzelung und Desorientierung der Displaced Persons, zu denen auch der Protagonist in "Für alle Sünden", Theo, gehört, der versucht, nach Kriegsende die traumatischen Erinnerungen an das Lagerleben abzuschütteln und ein "normales" Leben zu führen. Fremdheit, existentielle Einsamkeit und Unbehaustheit sind für Theo, schreibt Trottenberg, zu einer beklemmenden Realität geworden. Wie für den Autor, fügt die Rezensentin an, der nie mehr in seine Heimat zurückgekehrt ist.

© Perlentaucher Medien GmbH
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So unvergleichlich wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Stimme, die aus einem verwundeten Bewusstsein irgendwo zwischen Vergessen und Erinnern erwächst und das, was sie erzählt, gleichzeitig Parabel und Geschichte sein läßt. Philip Roth