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Der Völkermord an den Armeniern ist eines der international brisantesten Geschichtsthemen. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisieren in diesem Band den Stand der Forschung, die Erschliessung neuer Quellen und den historiographischen Umgang mit diesem Thema. Es geht dabei um den gesellschaftspolitischen Stellenwert der historischen Forschung, die Verantwortung Europas und die Bedeutung der Menschenrechte. Die Autorinnen und Autoren loten verschiedene, auch literarische Zugänge zu einem Trauma aus, für das noch keine gemeinsame Sprache gefunden werden konnte. Die…mehr

Produktbeschreibung
Der Völkermord an den Armeniern ist eines der international brisantesten Geschichtsthemen. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisieren in diesem Band den Stand der Forschung, die Erschliessung neuer Quellen und den historiographischen Umgang mit diesem Thema. Es geht dabei um den gesellschaftspolitischen Stellenwert der historischen Forschung, die Verantwortung Europas und die Bedeutung der Menschenrechte. Die Autorinnen und Autoren loten verschiedene, auch literarische Zugänge zu einem Trauma aus, für das noch keine gemeinsame Sprache gefunden werden konnte. Die offizielle Türkei weigert sich bis heute, die historische Verantwortung für die Vernichtung ihrer damaligen osmanischen Mitbürger wahrzunehmen. In letzter Zeit aber, im Zusammhang mit der Annäherung an Europa, sind die Dinge in Bewegung geraten. Vermehrt melden sich Stimmen aus der Türkei zu Wort, die die alten Tabus und Denkverbote ablehnen und eine kritische Aufarbeitung der Geschichte in Angriffgenommen haben.The Armenian genocide is one of the most explosive historical topics internationally. In this book reputed scholars examine the state of research, explore new sources and reflect on the historiography of the event. They discuss the place of human rights, Europe's responsibility, and the political status of historical research. The authors employ different approaches, including literary ones, to study a trauma for which a common language has not yet been found. Until today Turkish officialdom has refused to take responsibility for the mass destruction of its own citizens during World War I. Recently however, in the context of Turkey's efforts to join the EU, things have started to move. More and more intellectuals from Turkey openly refuse old taboos and bans on free thought, promoting a critical revision of Turkey's most traumatizing period.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2007

Von Aleppo nach Auschwitz?
Band zum Genozid an Armeniern tappt in Teleologie-Falle

Als sie nach Aleppo gingen, war Heranush zehn Jahre alt. Die kleine Armenierin aus einem Dorf in Südanatolien sah mit an, wie ihre Großmutter zwei ihrer Cousins ertränkte und sich anschließend verzweifelt selbst in den Fluss stürzte. Männer trennten Heranush von ihren Verwandten. Ein türkisches Ehepaar adoptierte das Kind und nannte es Seher. Heranush verlor ihren armenischen Namen. Aber sie merkte sich jede Kleinigkeit, die auf dem Todesmarsch im Jahr 1915 geschehen war. Den Kindern aus ihrer Ehe mit einem Türken erzählte sie nichts davon. Erst ihrer Enkelin vertraute sie das Geheimnis ihrer Herkunft an.

Die Enkelin heißt Fethiye Çetin und hat 2004 das Buch "Anneannem" veröffentlicht, "Meine Großmutter". Die Istanbuler Anthropologin Ayse Gül Altinay zeigt in dem vorliegenden Sammelband, wie das familienhistorische Werk die Wahrnehmung des Völkermords an den Armeniern in der Türkei beeinflusst hat. "Anneannem" habe viele Türken bei ihrer Neugier gepackt: Wer sind eigentlich meine eigenen Großeltern? Durch das öffentlich gewordene Schicksal von Heranush/Seher sei die klare Trennung zwischen "Türken" und "Armeniern", Freund und Feind aufgebrochen. Eine türkische Studentin gibt in Altinays Aufsatz zu Protokoll, die umstrittene Armenier-Konferenz in Istanbul 2005 und die türkeikritischen Aussagen des Schriftstellers Orhan Pamuk zum Völkermord an den Armeniern hätten ihren Glauben, dass es den Völkermord an den Armeniern nicht gegeben habe, nur noch verstärkt. Erst "Anneannem" habe die "Wolke des türkischen Nationalismus und Patriotismus" in ihrem Kopf gelüftet.

Dass sich der Umgang vieler Türken mit dem Völkermord gewandelt hat, zeigen gleich mehrere Beiträge. Die offizielle Haltung der türkischen Regierung "und einiger ihr botmäßiger Wissenschaftler" (Micha Brumlik) bleibe davon indes unberührt. Andere Aufsätze erörtern oder streifen methodische und historiographische Fragen der Genozidforschung. Der Züricher Historiker Jakob Tanner schreibt, dass zwar auch die Geschichtswissenschaft dazu beitragen könne, die internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zu verstärken. Aber der Historiker sei kein Richter: Er dürfe sich nicht nur ins Leid der Opfer einfühlen, sondern müsse auch die Logik der Täter durchschauen.

Gleich drei Beiträge setzen den Völkermord an den Armeniern in Beziehung zum Judentum oder zum Holocaust. Jonathan Kreutner untersucht die Reaktion der deutschen Juden auf die Verfolgung der Armenier von 1896 bis 1939. Der Baseler Doktorand kommt zu dem Ergebnis, dass es diese Reaktion kaum gab - bis auf Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von 1933. Leider kommt die jüdische Rezeption des Genozids an den Armeniern nach dem Holocaust nicht vor.

Die Beiträge von Micha Brumlik und Mike Joseph widmen sich der schillernden Gestalt des Max Erwin von Scheubner-Richter (1884-1923). Während des Ersten Weltkriegs war Scheubner deutscher Vizekonsul im osmanischen Erzerum. Er versuchte, den Völkermord an den Armeniern zu stoppen oder wenigstens einzelne Armenier zu retten. Nach dem Krieg wurde Scheubner zum engen Vertrauten Hitlers. Beim Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 traf ihn eine tödliche Kugel. Der Waliser Journalist Mike Joseph macht ihn nun zum "personal link" zwischen dem Völkermord und Hitler. Dass Scheubner-Richter Hitler über die Genozid-Praktiken von 1915 informiert haben soll, weist Joseph aber nicht nach. Ein Dokument, aus dem er zitiert, zeigt lediglich, dass Scheubner mit Hitler über seinen Vorgesetzten im Osmanischen Reich, den späteren Botschafter in Moskau Graf Werner von der Schulenburg, gesprochen hat.

Auch Brumlik kann nicht deutlich machen, dass Hitler 1939 Worte über das Schicksal der Juden sprach, die "von den Erzählungen Scheubner-Richters nicht unbeeinflusst gewesen sein dürften". Brumlik schreibt selbst, die Methoden des Holocausts seien andere gewesen als die des Völkermords an den Armeniern: nämlich die des Todesmarschs und "noch nicht die des Konzentrations- oder Vernichtungslagers". In den Texten wird Scheubner implizit zum Ideengeber des Holocausts gemacht. Das wäre auch dann wissenschaftlich unsauber, wenn die behauptete Tatsache stimmen sollte, dass Scheubner 1915 "nur" aus einer rassischen Erwägung heraus Armenier retten wollte. Er habe, schreibt Brumlik und stützt sich dabei auf Scheubners "nationalsozialistische Hagiographen", die Ausrottung der Armenier als zu "asiatisch" empfunden, die Opfer also als rassisch höher stehend als die Täter empfunden.

In der Einleitung des Bandes schreibt der Mitherausgeber Hans-Lukas Kieser: "Die Rezeption der Armeniervernichtung in Deutschland ist ein heikles Thema, da die Frage daran anschließt, welcher Weg von daher zur Judenvernichtung führte." Das stimmt nicht. Dieses Thema ist nicht heikel, sondern spannend und wichtig. Heikel ist es allein, zwischen dem Genozid von 1915 und dem Holocaust von vornherein eine Teleologie aufzuspannen, um sie dann im Nachhinein mit schwachen Belegen zu füllen. Am Ende muss ein zwanzig Jahre vor dem Holocaust gestorbener Wirrkopf, der 1915 zufällig in Armenien weilte, für den konstruierten inneren Zusammenhang herhalten.

Interessant wäre nicht nur eine Antwort auf die Frage, warum Wissenschaftler immer wieder in derartige Analogie- und Teleologiefallen tappen. Zu wünschen ist vielmehr, dass sich endlich eine vergleichende Genozidforschung etabliert, die weder die Einzigartigkeit des Holocausts leugnet noch den Holocaust zum magischen Zentrum aller Völkermorde macht, die somit allesamt darauf reduziert werden, "bloß" Vorläufer oder Nachfolger des Holocausts zu sein.

FLORENTINE FRITZEN.

Hans-Lukas Kieser/Elmar Plozza (Herausgeber): Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. Chronos Verlag, Zürich 2006. 235 S., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen kritischen Blick wirft Rezensentin Florentine Fritzen auf diesen Sammelband zum Genozid an den Armeniern. Zwar scheinen ihr eine Reihe von Beiträgen recht interessant, etwa die über den gewandelten Umgang vieler Türken mit dem Völkermord. Aber mit der Einleitung des Mitherausgebers Hans-Lukas Kieser sowie einigen Beiträgen, die den Völkermord an den Armeniern in Beziehung zum Judentum oder zum Holocaust setzen, ist sie nicht einverstanden. Sie widerspricht Kieser, der meint, die Armeniervernichtung sei in Deutschland ein "heikles Thema", knüpfe sich doch daran die Frage nach der Judenvernichtung. Als "heikel" erachtet die Rezensentin demgegenüber, was sie diesen Beiträgen vorhält, nämlich a priori eine teleologische Beziehung zwischen dem Genozid von 1915 und dem Holocaust herzustellen, aber keine überzeugenden Belege dafür zu liefern.

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