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  • ISBN-13: 9783552041233
  • Artikelnr.: 24854435
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2006

Das Rittmeisterehrenwort
Nicht vergessen, aber neu zu lesen: Leo Perutz als Romanautor

Gäbe es Perutzjahre, wie es Schiller- oder Brechtjahre gibt, so kämen wir im kommenden Jahr aus dem Feiern und Gedenken gar nicht mehr heraus. Denn der 25. August 2007 ist der fünfzigste Todestag des Romanciers Leo Perutz, und kurz darauf, am 2. November, jährt sich der Tag seiner Geburt zum 125. Mal. Doch für Klassikerweihen sind seine Bücher wohl zu spannend und unterhaltsam, was hierzulande immer noch leicht den Verdacht mangelnder literarischer Seriosität erweckt. Dabei hat Carl von Ossietzky schon 1925 in Sachen Perutz klargestellt: "Er ist ein Dichter mit der Fähigkeit, ungewöhnlich fesselnde Romane zu schreiben. Ich betone: ein Dichter."

Zu den vergessenen Autoren zählt der gebürtige Prager Jude, der in Wien zum Schriftsteller wurde, 1938 ins Exil nach Tel Aviv gehen mußte und bei einem Sommeraufenthalt in Bad Ischl 1957 starb, indes schon lange nicht mehr. Das ist vor allem den Neuausgaben seiner Bücher im Wiener Zsolnay Verlag zu danken, wo sie von dem Hamburger Germanisten Hans-Harald Müller, einem Pionier der akademischen Perutz-Forschung, herausgegeben werden. Nun erscheint dort wieder "Der Meister des Jüngsten Tages". Auch hier zeigt sich Perutz - bei aller Neigung zum Sensationellen - als "Großmeister der subtilen Narration", wie ihn Müllers Kölner Kollege Erich Kleinschmidt nennt: Eine raffinierte Handlungskonstruktion verbindet sich mit einer sorgsamen, von starkem Rhythmusgefühl getragenen Erzählsprache.

Der atmosphärisch ungemein dichte Roman, unter dessen mehr oder weniger kauzigen Gestalten Frauen, wie meistens bei Perutz, nur Nebenrollen spielen, stammt aus dem Jahre 1923. Die Handlung spielt aber bereits im Herbst des Jahres 1909 in jenem Wien vor dem Ersten Weltkrieg, durch das kurz zuvor Schnitzlers Leutnant Gustl nächtens gelaufen ist. Auch der Ich-Erzähler des "Meisters des Jüngsten Tages" ist ein Offizier, der Rittmeister Gottfried Freiherr von Yosch. Dieser wird nach dem Suizid des Schauspielers Eugen Bischoff von dessen Schwager Felix beschuldigt, Bischoff in den Tod getrieben zu haben, indem er den Schauspieler rüde mit der Nachricht vom Zusammenbruch der Bank konfrontiert habe, auf der dieser sein Geld deponiert hatte. Das Motiv sei Eifersucht gewesen: Felix' Schwester Dina, die Gattin des Verstorbenen, war vor ihrer Eheschließung Yoschs Geliebte.

Freilich würde kein Gericht einen Menschen verurteilen, weil er jemanden davon unterrichtet hat, daß seine Bank pleite gegangen ist. Zur vermeintlichen Sache auf Leben und Tod wird die Angelegenheit für den Rittmeister erst dadurch, daß er die Vorwürfe bestreitet und dies mit seinem Ehrenwort bekräftigt. Ein falsches Ehrenwort eines Offiziers erforderte von diesem nach dem damaligen Ehrenkodex, sich zu erschießen. Dem Baron kommt der Ingenieur Waldemar Solgrub zu Hilfe, der von Yoschs Unschuld überzeugt ist und einen Zusammenhang zwischen Bischoffs Tod und zwei anderen Selbstmorden sieht, von denen der Schauspieler kurz vor seinem Ableben berichtet hat.

Solgrub stellt nun Ermittlungen an, deren Ergebnisse Anklänge an Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Erzählung "Der Teufelsfuß" aufweisen. Auf die Holmes-Bezüge macht Perutz deutlich aufmerksam, indem er dem Ingenieur als Begleiter den Arzt Doktor Gorski an die Seite stellt. Äußerlich aber ist es der Rittmeister, der vom Autor mit Holmes-Attributen ausgestattet wird: Er raucht eine - im Handlungsverlauf wichtige - "englische Pfeife", ist auch anderen Drogen nicht abgeneigt und spielt Geige. Auf dramatische Weise erklären sich schließlich Yoschs Andeutungen vom Beginn seines Berichts über "die Verfolgung eines unsichtbaren Feindes, der nicht von Fleisch und Blut war, sondern ein furchtbarer Revenant aus vergangenen Jahrhunderten" und die mysteriöse Farbe Drommetenrot ("ja, Gott helfe mir, ich habe sie gesehen"). Auch der Titel des Buches wird nunmehr verständlich. Ganz am Ende meldet sich jedoch ein "Herausgeber" zu Wort, der behauptet, Yoschs Darstellung entspreche nur am Anfang, "was die rein äußeren Geschehnisse betrifft, dem wirklichen Verlauf der Dinge", sei in der Folge hingegen "abenteuerliche Erfindung". Hatte der Baron verkündet: "Ich habe die volle Wahrheit geschrieben", so nimmt nun der Herausgeber für seine in wenigen Sätzen dargelegte Version in Anspruch: "Das ist der wahre Sachverhalt." Tatsächlich hat Yosch im Laufe des Textes einige Male Anlaß dazu gegeben, in ihm einen "unzuverlässigen Ich-Erzähler" zu erblicken, und gelegentlich sogar Visionen eines anderen Handlungsverlaufs eingefügt. Allerdings sind bei Perutz auch die Kommentare von Herausgeberfiktionen und selbst von auktorialen Erzählern notorisch fragwürdig; man denke nur an die verblüffende Mitteilung im Roman "Turlupin", es gehöre "zu den großen Rätseln der Menschheitsentwicklung", daß die Französische Revolution nicht schon 1642 ausgebrochen sei. Auch der anonyme Herausgeber im "Meister des Jüngsten Tages" gibt einigen Anlaß, seine Behauptungen nicht für unbedingt überzeugend zu halten. Und wenn er empfiehlt, Yoschs Ausführungen als "Roman" aufzufassen, was sein heutiger realer Nachfolger Hans-Harald Müller in seinem Nachwort zu einer plausiblen, aber nicht zwingenden Deutung ausbaut, so weiß der Leser natürlich ohnehin, daß die "Schlußbemerkungen des Herausgebers" genauso Teil eines fiktionalen Erzähltextes sind. Was Müller für Yoschs Bericht konstatiert, kann somit für Perutz' Roman im ganzen gelten: "daß er zwei widersprechende Mitteilungen zugleich enthält".

Damit folgt "Der Meister des Jüngsten Tages" einem Konzept, das auch andere Romane von Perutz prägt und das man als Prinzip konkurrierender Realitäten bezeichnen kann. Gerade dadurch, daß die Konkurrenz sich nicht endgültig entscheiden läßt, selbst wenn man einer Seite zuneigen mag, gewinnen diese Bücher ihren spezifischen Reiz. Doron Rabinovici hat hierfür den treffenden Vergleich mit den Bildern von M. C. Escher gefunden: "Der Blick wechselt zwischen verschiedenen Dimensionen und Perspektiven, die einander widersprechen und dennoch beide auf gleiche Weise möglich sind." Im Wettstreit zweier Realitäten spiegelt sich auch die fruchtbare Konkurrenz der beiden literarischen Seelen in der Brust des Autors Perutz: So unzweifelhaft er der Moderne angehörte - von seiner Neigung her war er Romantiker.

"Der Meister des Jüngsten Tages", selbst von Theodor W. Adorno als "genialer Spannungsroman" anerkannt, war von Anfang an eines der erfolgreichsten Bücher von Leo Perutz. Der Autor selbst sah das nicht unbedingt mit Begeisterung. In seinem Tagebuch bezeichnete er den Roman ungerechterweise gar einmal als "Bockmist". Er verübelte dem Buch, daß es mehr Aufmerksamkeit erlangte als der weniger spektakuläre "Turlupin". Ferner störten ihn wohl im nachhinein die Elemente des Detektivgenres, denn als Krimiautor wollte er nicht gelten, wie er einmal in einer Replik auf eine Bemerkung Walter Benjamins bekundete.

Später jedoch dürfte Perutz den Erfolg des Romans mit milderen Augen betrachtet haben, denn "Der Meister des Jüngsten Tages" brachte ihm einen der wenigen Lichtblicke in finsterer Zeit. Als der Autor, durch die Nationalsozialisten erst von der deutschen, dann auch von der österreichischen Leserschaft abgeschnitten, in Tel Aviv saß, zusätzlich isoliert durch seine bewußte Distanz zu den Organen der Exilliteratur und zum Zionismus, gelang es einem nach Buenos Aires emigrierten Wiener Literaturagenten-Ehepaar, Perutz auf dem argentinischen Buchmarkt zu etablieren. Vor allem die spanische Übersetzung des "Meisters des Jüngsten Tages" reüssierte dort, nicht zuletzt aufgrund der Fürsprache von Jorge Luis Borges.

Für das kommende Jahr, das ein Perutzjahr wäre, wenn es so etwas gäbe, bleibt zu wünschen, daß der Zsolnay Verlag auch den derzeit nicht in gebundener Form vorliegenden Roman "St. Petri-Schnee", eines der Meisterwerke des Autors, in einer Neuausgabe herausbringen möge. Denn noch besser als mit Jubelfeiern und Festreden läßt sich ein Schriftsteller dadurch würdigen, daß seine Bücher verlegt und gelesen werden.

HARDY REICH

Leo Perutz: "Der Meister des Jüngsten Tages". Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans-Harald Müller. Zsolnay Verlag, Wien 2006. 217 S., geb., 19,90 [Euro].

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"Wer aus dem (...) Roman von Leo Perutz, 'Der Meister des jüngsten Tages' (...), das Gruseln nicht lernt, der lernt es gewiß nimmermehr. Selbstmorde, sämtlich unter den gleichen rätselhaften Umständen verübt, sind schon an sich unheimlich genug; wieviel unheimlicher noch, wenn man von Anfang an ihren mysteriösen Zusammenhang ahnt, ohne ihn doch vor Ablauf der Ereignisse unzweideutig ergründen zu können. Zweifel, Grauen, Spannung so lange wachzuhalten, ist eine nicht geringe Virtuosität aufgeboten. (...) ein Buch, das rein als Spannungsroman nicht leicht übertroffen werden kann." Siegfried Kracauer in 'Frankfurter Zeitung'

"Niemand arbeitet sorgfältiger als dieser Fruchtbare. Aus seinen historischen Romanen können die Geschichtsprofessoren lernen. Er liebt historische Themen, weil er das Bunte und Romantische liebt, am meisten, wenn ein bißchen Wüstheit und Rauferei in dem Milieu liegt. (...) Andere Erzähler sensationell gefärbter Stoffe walzen eine vereinzelte Grundidee breit aus. Perutz fühlt sich am wohlsten in einem Labyrinth von Hindernissen; er frißt mit einem kannibalischen Vergnügen Schwierigkeiten."Richard A. Bermann in 'Der Tag' "Die Geschehnisse sind ineinandergekapselt und grausam aufgeschlitzt. Es ist ein 'Roman', den man offenen Mundes durchrast und den man mit einem Donnerwetter der Erschütterung aus der Hand legt."Hans Reimann in 'Das Tage-Buch'
Das wunderbare Sittenportrait einer lasziven Wiener Gesellschaftsschicht. Ingrid Müller-Münch WDR 5 20130427