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Leningrad, November 1961. Am Morgen nach den Revolutionsfeierlichkeiten tobt der Wind durch die ausgestorbene Stadt, reißt das Fenster eines kleinen Palais auf und entdeckt den Philologen Ljowa Odojewzew tot am Boden seines verwüsteten Arbeitszimmers liegend, eine Duellpistole Puschkins in der Hand.
Mit dieser Szene beginnt Andrej Bitows legendärer Roman, der neben Nabokovs Gabe, Bulgakows Meister und Margarita und Jerofejews Moskva - Petuski zu den prägenden Büchern einer neuen Autorengeneration in Rußland gehörte. Ljowa, Sproß eines Adelsgeschlechts, ein indifferenter "Held unserer Zeit",
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Produktbeschreibung
Leningrad, November 1961. Am Morgen nach den Revolutionsfeierlichkeiten tobt der Wind durch die ausgestorbene Stadt, reißt das Fenster eines kleinen Palais auf und entdeckt den Philologen Ljowa Odojewzew tot am Boden seines verwüsteten Arbeitszimmers liegend, eine Duellpistole Puschkins in der Hand.

Mit dieser Szene beginnt Andrej Bitows legendärer Roman, der neben Nabokovs Gabe, Bulgakows Meister und Margarita und Jerofejews Moskva - Petuski zu den prägenden Büchern einer neuen Autorengeneration in Rußland gehörte. Ljowa, Sproß eines Adelsgeschlechts, ein indifferenter "Held unserer Zeit", zwischen verschiedenen Frauen hin- und hergerissen, hat sich in der Gelehrtenexistenz eingerichtet. Erschüttert von der Begegnung mit dem Großvater, der dreißig Jahre in Arbeitslagern zugebracht hat, wählt Ljowa dennoch den Weg seines Vaters. "Väter und Söhne" verbindet die Einsicht, daß Flucht, Untreue und Verrat lebensnotwendig sind...

Es sei das größte Übel, in einer fertigen und erklärten Welt zu leben, heißt es auf den letzten Seiten. Deshalb wurde der Literatur selten soviel zugetraut wie im Puschkinhaus: Gestalten, Motive, Fragen russischer Dichter bevölkern das "Romanmuseum" mit seinen vielräumigen Abteilungen. Held und Autor erleiden eine widernatürliche Gegenüberstellung. Die Gegenwart wehrt sich dagegen, permanent Vergangenheit oder Zukunft sein zu sollen. Seit Lawrence Sterne, für Bitow neben Puschkin der größte Avantgardist, hat es kaum ein so ironisches, originelles Romanwerk gegeben.
Autorenporträt
Bitow wurde 1937 in Leningrad geboren, veröffentlichte seit 1959 Erzählungen, Essays, Romane sowie Reiseberichte. 1990 erhielt er den russischen Puschkin-Preis. Mit dem Roman Das Puschkinhaus ist Bitow 1978 (dt. 1983) weltweit bekannt geworden. In deutscher Sprache erschienen darüber hinaus Das Licht der Toten (1990), Mensch in Landschaft (1994), Puschkins Hase (1999) und Armenische Lektionen (2002). Bitow starb am 3. Dezember 2018 in Moskau. Rosemarie Tietze, geboren 1944, eine der renommiertesten und vielfach ausgezeichneten Übersetzerinnen aus dem Russischen, u. a. des Werks von Andrej Bitow, Gaito Gasdanow und Lew Tolstoi. Ihre Neuübersetzung von Anna Karenina (2012) wurde ein Bestseller. Rosemarie Tietze, geboren 1944, eine der renommiertesten und vielfach ausgezeichneten Übersetzerinnen aus dem Russischen, u. a. des Werks von Andrej Bitow, Gaito Gasdanow und Lew Tolstoi. Ihre Neuübersetzung von Anna Karenina (2012) wurde ein Bestseller.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2008

Imperium der Worte
Erstmals vollständig: Andrej Bitows "Puschkinhaus"

Dieses Buch riecht nach Winter. Draußen nieselt Schneeregen, und durch die sechshundert Buchseiten meint der Leser, den scharfen Petersburger Wind über die zugigen Brücken und Plätze der Stadt pfeifen zu hören. Ein "Wetter, wie schmutzige, nasse Watte". Allen Klischees über laue weiße Nächte zum Trotz ist Petersburg eine Winterstadt und Russland eine Gegend, in der man Geschichte in Winterzeit misst: vom Aufstand der adligen Offiziere im Dezember 1825 über den Blutsonntag im Januar 1905 bis hin zur Oktoberrevolution, die nach dem neuen Kalender bekanntlich eine Novemberrevolution war. Das literarische Russland bildet keine Ausnahme: Lew Tolstoj starb im November auf einer Bahnstation, und Alexander Puschkin, der als Begründer der modernen russischen Nationalliteratur gilt, fand im Winter 1837, nach einem Duell mit seinem Widersacher d'Anthès, der es auf die schöne Dichtergattin abgesehen hatte, einen die Nation erschütternden Tod.

Einhundert Jahre später, in einem für Russland und seine Intellektuellen nicht weniger schicksalhaften Jahr, erblickte der Schriftsteller Andrej Bitow das blasse Licht der Newa-Stadt, die längst in Leningrad umbenannt worden war. Die Stadt mit europäischer Fassade und russischem Geist, die heute wieder ihren alten Namen trägt, ist ein Symbol für die Mimikryfertigkeiten der Russen und ihrer Kultur, deren Kern ebenjene wunderbare, reiche Sprache bildet, die Puschkin, dieser 1799 geborene Jahrhundertverschlepper, seinen Landsleuten noch mit auf den Weg in die an Katastrophen reiche Moderne geben konnte. Sie sei das Einzige, das sich erfolgreich allen tragischen Erfahrungen der jüngsten Geschichte widersetzte, durch die Sprache, so meinte Andrej Bitow in einem Interview, rette sich das Volk.

Sein Schriftstellerleben lang ist Bitow Puschkin und der Sprache auf den Spuren, ihm geht es stets um die zähe Widerständigkeit der Wörter, darum, wie "das WORT beschaffen sein muss, damit sein Klang nicht zerrieben wird im unechten Gebrauch". Dieser Satz aus den letzten Zeilen des nun erstmals unzensiert, vollständig und in neuer, überaus eleganter deutscher Übersetzung vorliegenden Klassikers "Das Puschkinhaus" aus dem Jahr 1971 könnte als Motto für die ganze russische Literatur dienen. Wie in kaum einem anderen Land war sie weniger Zerstreuung denn Zuflucht, Hoffnungsträger und ein letzter Halt, ein Obdach, für Schreibende und Lesende - und für die Worte selbst.

Das Puschkinhaus ist jedoch nicht nur Metapher, es ist auch ein reales Gebäude in Petersburg, in dem der Roman auf pathetische Weise beginnt und endet, und zwar am Morgen eines 8. November in den sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Am Boden des ehemaligen Wohn- und Sterbehauses Puschkins, das inzwischen Museum und Forschungsstätte ist, liegt ein Mann mit einer Pistole in der Hand, in deren Lauf eine Zigarettenkippe steckt. Mann und Saal befinden sich in deplorablem Zustand, ein Fenster steht offen, Manuskriptseiten fliegen durch die Luft, Vitrinen und die Totenmaske des Dichters sind zerbrochen. Eigentlich hatte sich der Literaturwissenschaftler und Junggeselle Ljowa Odojewzew, der zum Wachdienst im Museum eingeteilt war, im verwaisten Gebäude an den Feiertagen seiner Dissertation widmen und ein wenig die Wunden des Liebeskummers lecken wollen. Doch was wäre die russische Literatur ohne dämonische Doppelgänger? Als solcher wusste Ljowas Kollege, Schulfreund und Konkurrent in Liebesangelegenheiten Mitischatjew, wie man in den heiligen Hallen der Kunst ein ordentliches Besäufnis organisiert. Der Alkoholexzess endet im besagten Duell, bei dem die Museumsobjekte aus Puschkins Tagen zum Einsatz kommen. Bekanntlich wiederholt sich die Geschichte nur als Farce. Ljowa bleibt am qualvollen Morgen danach nichts anderes übrig, als in die hässlichen Trabantenstädte zu fahren, wo das Volk inzwischen lebt. Will er seine Karriere nicht komplett in den Petersburger Sumpf setzen, muss er Glaser und Schreiner finden, die den Schaden vor Ablauf der Feiertage beheben.

Das Volk begegnet ihm brummig und widerwillig, haut ihn übers Ohr, flickt am Ende aber alles wieder zusammen, so dass der Zauber des Authentischen neu entsteht. Auf den vierhundert Seiten dazwischen breitet Bitow in polyphoner, nie linearer, stets offener Erzählweise ein Panorama der Tauwetterjahre aus, die mit Stalins Tod 1953 begannen und Mitte der sechziger Jahre in eine neue bleierne Zeit mündeten; jene Atempause im Kommunismus, als die Zeit plötzlich wieder "geschwätzig" wurde, als die Angst, ein ständiger Begleiter der Russen über Jahrzehnte, für einen kurzen Moment von ihrer Seite wich und sie zu glauben begannen, dass sie endlich umziehen könnten aus der ständigen Nachbarschaft zum Unglück in die Nähe des Glücks.

Die Revolution habe, so Ljowas Großvater, das Alte ja nicht zerstört, ganz im Gegenteil, der Bruch habe die Konservierung erst ermöglicht, der Kanon der russischen Literatur sei unversehrt, Russland verändert sich immer, und doch verändert es sich nie. Dieses Motiv wird im Roman an verschiedenen Themen aus der russischen Literatur exerziert, die überaus geistreich und amüsant zu lesen sind und die Bitow, auch das gehört zur Methode, mit einem später entstandenen literatur- und zeitgeschichtlichen Kommentar versehen hat, der erstmals auf Deutsch zu lesen ist.

Das Buch ist eine Hommage an die russische Literatur und die Russen, die stets gegen Eiszeiten anschrieben und lasen und die wie Bitow selbst vor allem auf die Zeit vertrauten, die das Wort wie ein eisernes Hemd schützt, "damit alle Geschosse falscher Bedeutungen neben dem behexten wahren Sinn einschlagen!" Und es ist eine Hommage an die Sprache, nicht nur die russische, an die Imperien der Worte, die es als einzige zu bewahren gilt, weil sie uns überstehen.

Das Nachwort von Rosemarie Tietze liefert heute, wo diese "Epoche minderer Güte", wie Joseph Brodsky das Ende des Tauwetters einmal nannte, fast vergessen ist, Einblicke in die schmerzhafte, immer wieder verzögerte Drucklegung des Romans. Wer meint, den reichen literarischen Bezügen des Puschkinhauses - von Fjodor Tjutschew über Lew Tolstoj bis hin zu Alexander Block - nicht gewachsen zu sein, der sei auf den Kommentar des Autors verwiesen: Es handele sich hier um nichts anderes als den Schulstoff zur Erlangung der mittleren Reife. Da möchte man einen berühmten Zeitgenossen Puschkins in Abwandlung zitieren: "Russland, du hast es besser . . ."

SABINE BERKING

Andrej Bitow: "Das Puschkinhaus". Roman. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 590 S., geb., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Den Winter riechen kann Rezensentin Sabine Berking an Andrej Bitows Roman "Das Puschkinhaus", der nun erstmals unzensiert und in neuer Übersetzung vorliegt. Nachdem Berking ihre Rezension als Einführung in den russischen Zusammenhang von Jahreszeit und Politik hat beginnen lassen (alle wichtigen Ereignisse seien im Winter geschehen, orakelt sie), lobt sie die "überaus elegante" deutsche Übersetzung und freut sich über den an literarischen Bezügen reichen Klassiker als "Hommage an die russische Literatur und die Russen", ja, als "Hommage an die Sprache" selbst. Die Geschichte um den Literaturwissenschaftler und Junggesellen Ljowa Odojewzew, der nach einer durchzechten Nacht im Puschkinhaus (in dem er eigentlich als Wachmann angestellt war) alle Hebel in Bewegung setzen muss, um die Schäden eines im Alkoholexzess veranstalteten Duells zu beheben, bietet der Rezensentin tiefe Einblicke in die sogenannten Tauwetterjahre, die das Nachwort von Rosemarie Tietze noch einmal in Erinnerung ruft.

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