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"Dieter Forte ist ein Erzähler von ganz großem Format, er zieht seine Leser in seine Geschichten, in das Leben seiner Figuren hinein." (Elke Heidenreich, Der Spiegel)
"Kaum je (...) hat die unmittelbare deutsche Nachkriegsgeschichte einen schonungsloseren und wortmächtigeren Chronisten als Dieter Forte gefunden. Unter seinem erinnernden Blick wird unsere oft so erinnerungslose Wohlstandswelt gleichsam durchsichtig hin auf die Trümmer, aus denen sie sich erhebt." (Markus Schwerig, Kölner Stadtanzeiger)
Streifzug durch die deutsche Geschichte
Italienisch-französische Seidenweber
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Produktbeschreibung
"Dieter Forte ist ein Erzähler von ganz großem Format, er zieht seine Leser in seine Geschichten, in das Leben seiner Figuren hinein." (Elke Heidenreich, Der Spiegel)

"Kaum je (...) hat die unmittelbare deutsche Nachkriegsgeschichte einen schonungsloseren und wortmächtigeren Chronisten als Dieter Forte gefunden. Unter seinem erinnernden Blick wird unsere oft so erinnerungslose Wohlstandswelt gleichsam durchsichtig hin auf die Trümmer, aus denen sie sich erhebt." (Markus Schwerig, Kölner Stadtanzeiger)
Streifzug durch die deutsche Geschichte

Italienisch-französische Seidenweber einerseits, polnische Bauern und Bergleute andererseits - ihre Geschichte erzählt Dieter Forte in dieser Trilogie. Er begleitet zwei Familien, die einander durch Heirat verbunden sind, auf ihrem Weg durch mehrere Jahrhunderte deutscher Geschichte. Gemeinsam durchleben und durchleiden sie im Rheinland das Dritte Reich und die ersten Nachkriegsjahre.
"Das Haus auf meinen Schultern" - hinter diesem Titel verbirgt sich eine Roman-Trilogie, die einem Streifzug durch die deutsche Geschichte gleichkommt. Die Jahrhunderte andauernde Wanderschaft einer italienisch-französischen und einer polnischen Familie quer durch Europa ist Thema des ersten Teils mit dem Titel Das Muster. Der Mittelteil der Trilogie, Tagundnachtgleiche, zeigt, wie die beiden Familien im Rheinland verschmelzen und in einer kuriosen Mischung der Mentalitäten die dreißiger Jahre und den Zweiten Weltkrieg durchleben. Aus der vom Bombeng zerstörten Stadtlandschaft berichtet der dritte Teil: In der Erinnerung richtet den Blick auf die Trümmer der Nachkriegsjahre, die von zustiefst verstörten Menschen bewohnt werden, und auf die Absurditäten und die anarchischen Züge eines Lebens nach dem Zusammenbruch aller staatlichen Regeln. Bis sich die ersten Anzeichen einer Widerherstellung gesellschaftlicher Ordnung erkennen lassen.

Autorenporträt
Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, lebt heute in Basel. Im S. Fischer Verlag erschien seine große Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern"; sein Drama "Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung" war ein Welterfolg. Über seine Arbeit gibt Auskunft "Vom Verdichten der Welt. Zum Werk von Dieter Forte".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2004

Sprache ohne Angst vor Nebenwegen
Trost des Erzählens: Dieter Fortes große Romantrilogie

Wenn ein Großroman, der Zeiten und Länder überspannt, der von Italien nach Polen, vom Hohen Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert ausgreift, der sich die Zeit nimmt, dreihundert Seiten lang die Geschicke zweier Familien parallel zu erzählen, und sie miteinander verwebt, bis aus beiden Familien schließlich die Hauptfigur des Buches hervorgeht - wenn also ein solch großangelegtes Panorama wie Dieter Fortes "Das Haus auf meinen Schultern" mit der Schilderung einer Weberei beginnt, ist das kein Zufall.

Und weil spätestens seit "Wilhelm Meisters Wanderjahre" die enge Verwandtschaft von Text und Textilien, von Wort und Webstuhl in der Literatur notorisch geworden ist, kann Forte, wenn er diese Metaphorik im schönen Bild jenes Musterbuchs der Seidenweberfamilie Fontana extrem verdichtet, auf das Verständnis des Publikums setzen: In jenem Buch nämlich, durch die Jahrhunderte gerettet, halten die Mitglieder der Familie Fontana nicht nur alle Erlebnisse auf dem Weg von Italien nach Düsseldorf fest, sondern kleben auch die besonders gelungenen Seidenmuster darin ein oder notieren deren Struktur. Der abgegriffene Foliant ist also beides: Schriftliche Erzählung und materielles Gewebe, zusammen liefern sie den Stoff für jene Hälfte des ersten Teils von Fortes Trilogie, die von der Familiengeschichte der väterlichen Linie der Hauptfigur handelt, von den Fontana.

Was die mütterliche Linie auf ihrem Weg von Polen ins Ruhrgebiet erlebt hat, ist dagegen mündlich überliefert worden, und Maria Lukacz, die Mutter des Helden, kennt den Trost des Erzählens schon als Kind sehr genau: "Maria hatte in ihrem jungen Leben erfahren, daß man die Wahrheit erfinden und an sie glauben muß, wie an eine schöne Geschichte, eine gute und wahre Geschichte, die man immer wiederholen mußte, bis aus dem Traum das Leben wurde und das Leben einen Sinn bekam, so wie in jeder richtigen Geschichte."

Indem sich diese beiden Linien in der Hochzeit von Friedrich Fontana und Maria Lukacz verbinden, kommen auch zwei Wege des Erinnerns zusammen: das präzise, unverändert weitergegebene schriftliche Wissen der Fontanas (das aber den Nachgeborenen schon bald die Schwierigkeit des Entzifferns alter Schriften und des Verstehens alter Sprachen aufbürdet) und der mündliche Sagenschatz der Familie Lukacz, den freilich keine Generation unverändert weitergibt, zumal eine weitere Schwierigkeit daraus entsteht, daß offenbar durch die Jahrhunderte alle Paare die Vornamen Joseph und Maria getragen haben.

 Aufschreiben, bewahren, weitererzählen, nachlesen - kein Thema ist so präsent in Fortes Werk wie das der Umsetzung von Welt in Sprache, kein anderes Vorhaben aber wird permanent als derart bedroht gezeichnet. Denn die beiden Überlieferungsstränge des ersten Buches werden im zweiten und dritten, kaum miteinander verwoben, brüsk durchtrennt: Das Familienbuch der Fontana verbrennt im Bombenkrieg, und Maria, die begnadete Erzählerin, verstummt auf einmal, weil sich ihr die Fäden verwirren, "obwohl sie sich sehr anstrengte, sie auseinanderzuhalten", schreibt Forte. Es ist das Ende einer Ära.

Fortes Romantrilogie, die aufgeteilt ist in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit, ist voll von Schilderungen, wie es denen die Sprache verschlägt, die mit einer Gewalt konfrontiert werden, gegen die sie sich nicht wehren können. Diese Gewalt kann menschliche Machtdemonstration sein oder das zerstörerische Walten der Natur - ganz schlimm kommt es, wenn die beiden sich verbünden, wenn der Bombenkrieg die Hügel zum Einsturz bringt und wenn das Schicksal, verschüttet zu werden, auf einmal nicht mehr nur die Bergleute trifft, sondern buchstäblich jeden.

Die Mechanismen, auf diese Gewalt zu reagieren, sind vielfältig, aber es ist der Sprachverlust, dem Fortes Interesse gilt, der ihn packt und nicht mehr losläßt. Da ist etwa jener namenlose Onkel, der nach zwei Verhaftungen durch die Polizei des Kaiserreichs und die entsprechenden Verhöre seinen Verstand verloren hat - zumindest scheint es so. Ganz sicher aber weigert er sich, die Ereignisse um ihn herum zu kommentieren. Da ist die Frau, die mitten im Krieg urplötzlich auftaucht und schreit: "Man hat mich erschossen", bis sie dann wirklich von den Schergen der Staatsgewalt exekutiert wird, da ist der halbblinde Kriegskrüppel, Homer genannt, der nur noch schreien kann, tagaus, tagein, da ist der Vater des Helden, der aus dem Krieg nach Hause kommt und nur noch Italienisch sprechen mag, da ist ein Soldat, der über den Schrecken des Krieges alles Persönliche vergessen hat und dessen wirre Reden jedesmal in die Frage münden: "Was soll ich machen, Junge?", und da ist schließlich der "lange Adamczik, der mit seinen schmalen Lippen alle Vogelstimmen nachmachte, sich überhaupt nur in Vogelstimmen ausdrückte, mit geschlossenen Augen trällernd, zwitschernd, jubilierend über die Straße rannte, in Löcher fiel, über Steine stolperte, Passanten umrannte, auf den Kühlerhauben der ersten Autos landete. Er trällerte, zwitscherte, jubilierte weiter, weigerte sich, die Augen zu öffnen, hatte lange Jahre in einem unterirdischen System als Zwangsarbeiter gearbeitet, blieb in der Dunkelheit, trällerte und zwitscherte und jubilierte seine Vogelstimmen. Und wenn er sich in der Nacht verlief, wenn er hilflos zwitschernd in einem Trümmerhaus stand und nicht mehr weiterwußte, mußte immer einer aufstehen und ihn da herausholen, denn die Augen öffnete er nie mehr."

Der offene Widerspruch

zwischen Wort und Welt

Nie mehr die Augen öffnen, nie mehr sich dem aussetzen, was einen so nachhaltig aus der Bahn geworfen hat, nur noch in Vogelstimmen reden - Fortes Romantrilogie, und vor allem ihr dritter Teil "In der Erinnerung", belegt, daß es andere braucht, um denen, die aus der Sprache gefallen sind, den Weg zurück zu ebnen. Der Junge, der, kurzatmig und kaum zu ausdauernden Bewegungen fähig, auf seinem Lager hinter dem Fenster der Trümmerbehausung liegt, kann da scheinbar nicht helfen, nur beobachten - doch er wird später durch sein Zuhören manchem den Weg in den Alltag wieder bereiten können. Er schreibt auf, was er sieht, läßt sich die Familiengeschichten wieder und wieder erzählen, diesmal mit dem Ziel, sie schriftlich zu fixieren.    

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, und besonders in den Schilderungen aus der Zeit des Nationalsozialismus scheint immer wieder eine offen diskutierte oder latent empfundene Sprachskepsis auf, die sich bis zur fundamentalen Sprachkritik auswächst. Wer in einer Zeit der ständig umbenannten Straßen und der kodierten Sprache der Diktatur aufgewachsen ist, für den wird jedes Kinderlied zum Stolperstein, jeder Kalenderspruch zum Objekt einer strengen Prüfung, ob denn nicht auch die gegenteilige Äußerung Sinn ergibt - vielleicht sogar erst diese? Immer wieder zeigt sich, daß Worte ihre Bedeutung einbüßen, wo sie im aufgeheizten politischen Kampf zu Schlagworten verkommen - einmal stürzen zwei Demonstrationszüge aufeinander zu, bereit, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, und beide Gruppen rufen das gleiche: "Es lebe die Republik", wobei die einen die Weimarer, die andere die Rheinische Republik meinen. Tatsächlich ist gerade der Teil des Romans, der zwischen den Weltkriegen spielt, vom offenen Widerspruch zwischen Worten und ihrem früheren Sinn durchzogen. So schwört ein Gerechtigkeitsfanatiker, der sich nicht vorstellen kann, daß irgendein Mensch die Unwahrheit sagen könne, häufig Meineide, um mutmaßlich unschuldig Angeklagte, die leider kein Alibi vorweisen können, vor einem Justizirrtum zu bewahren. Als der Junge wieder einmal auf einem Martinszug unterwegs ist, kommt es zu einer gespenstischen Szene: Das traditionelle Kinderlied, mit dem um Süßigkeiten gebeten wird, das von einem reichen Mann spricht, der bestimmt von seiner Habe etwas abgeben werde, um ins Himmelreich zu kommen - dieses Lied jedenfalls hat der Junge im Kopf und im Ohr, während die Geschäfte der Juden geplündert werden.

Sprache, auch davon erzählt dieses Buch, kann in unfreien Zeiten zur Gefahr werden, indem sie die Illusion einer geschlossenen Welt aufrechterhält, die es längst nicht mehr gibt. In einem Gespräch hat Dieter Forte einmal gesagt, daß die Sprache immer "über den Schrecken hinweggleiten" wolle. Doch in gefährlichen Zeiten kann eine floskelhafte, glatte Sprache auch ein Leben retten. Es scheint jedenfalls ungefährlicher, sich in Formeln auszudrücken, und daß dies weniger anstößig ist, wird an einem Blumenverkäufer gezeigt, der gewöhnlich stottert, bei Bühnenauftritten dagegen vollkommen flüssig seine vorgeprägten Sätze aufsagt.

Welt und Sprache driften jedenfalls auseinander, wenn sie denn je beieinander waren - diese Urerfahrung der Moderne macht auch Fortes Hauptfigur, der Junge. Der aber spürt dabei keine modrigen Pilze im Mund, sondern den Geschmack von Staub und Mörtel; seine Sprachskepsis riecht nicht nach dem Parfüm der Jahrhundertwende, sondern nach Brand und Kadavern, und während eines Luftangriffs, den er gemeinsam mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder nur unter wirklich grausigen Umständen überlebt, sind es nicht Skrupel, die ihn zum Verstummen bringen, sondern das blanke Entsetzen:   

"Der Junge konnte nicht mehr sprechen, er brachte keine Sätze über die Lippen, auch einzelne Worte nicht, der Junge stotterte, er verlor seine Sprache, wurde stumm und sprach lange nicht mehr. Maria brauchte Monate, um ihm wieder die ersten Worte und Sätze zu entlocken, sie sprach ihm so lange Geschichten vor, zeigte auf ihren Mund, sprach deutlich und langsam, bis der Junge ihre Sätze nachsprach und wieder sprechen lernte." Wer die Fülle an autobiographischen Berichten verfolgt hat, die - auch - im Zuge der Debatte um den Luftkrieg in Deutschland in den letzten Jahren erschienen sind, wird dieses Motiv in vielen von ihnen wiederfinden. Er wird von Menschen lesen, die nach den Bombennächten verstummten oder stotterten, denen es buchstäblich die Sprache verschlagen hat - vielen für lange, manchen für immer.   

Wer dann doch endlich erzählen kann, wer wie Fortes Erzähler die Sprachlosigkeit, die Kurzatmigkeit endlich überlisten oder wenigstens für einen Moment in die Schranken weisen kann, ergreift diese unverhoffte - oder hart erkämpfte - Gelegenheit mit ganzer Kraft: Gleich, das weiß er, kann es damit wieder vorbei sein, und also packt er seine Sätze voll, so voll es nur geht; er flicht Nebensätze ein, verschachtelt, ergänzt, präzisiert, dehnt die Hülle einer Periode, so weit es nur irgend geht. Ganz am Anfang von Fortes Roman, als wolle der Erzähler die neugewonnene Freiheit bis zur Neige auskosten, findet sich ein Kapitel, das überhaupt nur drei Sätze umfaßt. Der zweite und dritte bestehen aus jeweils vier Worten. Der erste aber füllt in seinem mäandernden, atemlosen Gang beinahe eine ganze Seite. Der Anfang geht so:

"Zwischen den Erdschollen sah er blinzelnd ein schwaches Licht, ein winziger Spalt, durch den ein scharfgeschnittener Lichtstrahl einfiel, von dem er nicht genau wußte, woher er kam, auch nicht wußte, ob es ein Traum war oder schon der Tod, denn er sah auch den im Mondlicht glitzernden Fluß, der so breit und ruhig dahinzog, mit einem Floß darauf, auf dem Männer ein Feuer anzündeten, lachten, miteinander redeten, und er hörte ihre Stimmen so nahe, als säße er am Ufer, und das Floß gleite im Abendlicht an ihm vorbei, und die Flößer nickten kurz, ihn erkennend, in diesem vergehenden Licht, denn es wurde rasch dunkel, die Erdschollen nahmen ihm die Luft, aber wenn er atmete, nur atmete, immer nur atmete, würden sie sich vielleicht schützend um ihn legen, ihn nicht allzusehr in die Tiefe drücken . . ."

"Das war der Urenkel", heißt es lakonisch im zweiten Satz, und der dritte ergänzt: "Er verschwand im Sumpf."

Ersticken, Verschwinden, Dagegen-an-Erzählen: Diese Situation bildet das Leitmotiv in Fortes Romantrilogie. Auch damit stellt sich das Buch in eine lange Tradition, denn seit Schehrezads fast dreijährigem Erzählmarathon ist die lebenserhaltende Kraft des Erzählens literarisch verbürgt - übrigens neigt auch diese Ahnfrau der Geschichten dazu, ihre Märchen durch zahlreiche Untererzählungen mit weiteren untereinander verwobenen Episoden so weit auszudehnen, wie es gerade eben noch geht, so daß es einige dieser Märchen auf eine Länge von mehreren hundert Seiten bringen.

Doch der Junge in Fortes Trilogie ist nicht der Willkür eines Kalifen, sondern einer viel schwerer zu lokalisierenden Macht ausgesetzt. Seine Rettung verdankt er nicht selten dem Erzählen anderer, seinem Vater etwa, der, wenn dem Kind das Atmen gar zu schwer fällt und vollends zu stocken droht, seine Aufmerksamkeit mit Geschichten von dem Krampf in der Brust ablenkt. Unter den Kriegsheimkehrern sind viele, die sich im nüchternen oder wild ausgeschmückten Bericht ihrer Schicksale ihrer selbst vergewissern oder sich neu erfinden. Die Erfahrung der beschädigten Sprache setzt der Junge einmal sogar gegen die braunen Erzieher ein, als er seiner Mutter in einem Brief vor den Augen seiner Betreuer im Heim der Kinderlandverschickung zu verstehen gibt, daß er es dort nicht mehr aushalte: Er schreibt absichtlich fehlerhaft und vergißt alle Grammatik, was nur der durchschaut, der sich sowohl auf die korrekte Rechtschreibung wie auf die Psyche dieses Jungen versteht.

Wenn alte Familiengeschichten

Leben retten

Am erstaunlichsten ist die in der mütterlichen Familie tradierte Geschichte des Bergmanns Joseph: Ein Grubenunglück hat er schon überlebt, beim zweiten gibt es kaum Aussichten, daß er gefunden wird. Seine Frau Maria, von einer Ahnung getrieben, läuft zum Bergwerk, dringt in den Schacht ein, findet ihren Mann und hält ihn drei Tage lang am Leben, bis er befreit werden kann - Maria erzählt ihm die alten Familiengeschichten, redet, fabuliert, schmückt aus, wieder und wieder berichtet sie von den Vorfahren aus Böhmen und Polen, von zerstörten Häusern und schlechten Ernten, von Gottsuchern und Sargträgern, bis hin zu der jetzigen Generation, die ins Ruhrgebiet zog, um dort ein besseres Leben zu finden. Daran jedenfalls erinnert sich Joseph, als sie ihn aus der Grube zerren. Maria aber hat die drei Tage gar nicht in der Tiefe verbracht, wie sich herausstellt - ein Gitter hat sie vom Betreten des Stollens zurückgehalten. In diesem Roman kann sich die lebensrettende Macht des Erzählens auch durch meterdicke Gesteinsschichten entfalten.

"Düsseldorf liest ein Buch" - so war im letzten Herbst eine Veranstaltungsreihe zu Ehren von Dieter Fortes Romantrilogie überschrieben, und das Motto scheint zunächst eine bare Selbstverständlichkeit auszudrücken: Daß in der Stadt Heinrich Heines und Karl Immermanns gelesen wird, ist nicht weiter erstaunlich, daß man sich für die Veranstaltungen auf ein Buch geeinigt hat, um sich diesem intensiver zu nähern, ist eine sinnvolle Idee, daß man dazu eines ausgewählt hat, das einen Teil der Stadtgeschichte spiegelt, liegt nahe, und daß man dabei auf Dieter Fortes Roman "In der Erinnerung" verfallen ist, wird man nur als eine glückliche, aber nicht unbedingt überraschende Wahl bezeichnen können.

Nein, erstaunlich ist nur eines: Daß es dieses Buch überhaupt gibt, daß es entstanden ist, wie es uns jetzt im Buchhandel begegnet, daß sein Autor, dem es die Rede verschlug, als er erlebte, was er viel später aufschrieb, die Sprache wieder- und neugefunden hat: Eine Sprache, die kraftvoll und präzise, geheimnisvoll und klar, ökonomisch und dabei ohne Angst vor Nebenwegen ist, die sich der Fallstricke eines allzu flüssigen Duktus sehr bewußt und trotzdem von hoher Eleganz ist, die vom Zweiten Weltkrieg in Düsseldorf erzählt und uns doch gleichzeitig besser verstehen läßt, wie sich auch ein noch so gerechter Krieg, die Befreiung aus der schlimmsten Tyrannei, vom Boden aus anfühlt - weltweit, zu jeder Zeit.

Daß Dieter Forte zu dieser Sprache gefunden hat, ist unser Gewinn.

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"Dieter Forte ist ein Erzähler von ganz großem Format, er zieht seine Leser in seine Geschichten, in das Leben seiner Figuren hinein."
(Elke Heidenreich, Der Spiegel)

"Kaum je (...) hat die unmittelbare deutsche Nachkriegsgeschichte einen schonungsloseren und wortmächtigeren Chronisten als Dieter Forte gefunden. Unter seinem erinnernden Blick wird unsere oft so erinnerungslose Wohlstandswelt gleichsam durchsichtig hin auf die Trümmer, aus denen sie sich erhebt."
(Markus Schwerig, Kölner Stadtanzeiger)