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'Am Tag nach Breschnews Tod, am 11.11.1982, beginnt wie jedes Jahr zur Stunde 11 die närrische Zeit. Von staatswegen wird allerdings Trauer angeordnet, weshalb schon ein mutiger Narr sein muss, wer sich öffentlich maskiert. Sieben Geschwister von teilweise verschiedenen Vätern sind unterdessen auf dem Weg nach Westthüringen, zur Beerdigung ihrer Mutter Elfriede. Nur der älteste Bruder fehlt 1972 kam er auf mysteriöse Weise ums Leben. Dennoch scheint er anwesend zu sein, als seine Geschwister die Mutter zu Grabe tragen. Oder ist daran nur die fünfte Jahreszeit schuld? Emma Braslavsky erzählt in…mehr

Produktbeschreibung
'Am Tag nach Breschnews Tod, am 11.11.1982, beginnt wie jedes Jahr zur Stunde 11 die närrische Zeit. Von staatswegen wird allerdings Trauer angeordnet, weshalb schon ein mutiger Narr sein muss, wer sich öffentlich maskiert. Sieben Geschwister von teilweise verschiedenen Vätern sind unterdessen auf dem Weg nach Westthüringen, zur Beerdigung ihrer Mutter Elfriede. Nur der älteste Bruder fehlt 1972 kam er auf mysteriöse Weise ums Leben. Dennoch scheint er anwesend zu sein, als seine Geschwister die Mutter zu Grabe tragen. Oder ist daran nur die fünfte Jahreszeit schuld? Emma Braslavsky erzählt in ihrem zweiten Roman eine Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst und vom preußischen Osten bis ins amerikanische Utah reicht. Über ihre Herkunft wissen die Geschwister nicht viel, die Mutter hat vor allem das Leben der Großmutter tief im Dunkel der Historie vergraben. Mit dieser Ungewissheit gehen Gedächtnis und Identität eine neue, ungewohnte Verbindung ein, und lauter mögliche Variationen über ihr Schicksal umranken im Gespräch der Geschwister den Sarg. Die vielen absurden, traurigen und komischen Lebens- und Todesgeschichten, die zahlreichen Mythen und Legenden fügt Emma Braslavsky geschickt zu einer skurrilen Zeremonie der Erinnerung zusammen.
Autorenporträt
Emma Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, lebt nach Zwischenstationen in Rom, New York und Tel Aviv heute mit ihrer Familie in Berlin. Seit Ende ihres Studiums der Russistik, Italianistik und Südostasienstudien 1999 in Berlin, Moskau und Ho-Chi-Minh-Stadt arbeitet sie als freie Autorin, Kuratorin und Übersetzerin. Sie ist Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des papirossa - netzmuseums fuer sprache und Vorstandsvorsitzende des interdisziplinären Kunstvereins GdK Galerie der Künste e.V. Berlin. Würdigungen 2005, Werkstatt-Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin 2006, Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung 2007, Uwe-Johnson-Förderpreis 2008. Aufenthaltsstipendium am Studienzentrum Venedig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2008

Und in der Kartoffelsuppe wartet das Unheil
Emma Braslavsky erzählt das Blaue vom Himmel herunter

Von Andrea Diener

Fassen wir zusammen: Die Großmutter verschwindet spurlos, jedoch nicht ohne ihrem Enkel Herbert ein geheimnisvolles Manuskript zu hinterlassen und ihm einzuschärfen, er solle es nicht vor seinem vierzehnten Geburtstag lesen. Der Enkel versteckt das Papier auf einer schlesischen Außentoilette und liest es brav erst zu besagtem Zeitpunkt - vergisst jedoch, es einzupacken, als die Familie bei Kriegsende Hals über Kopf nach Thüringen flieht. Beim Versuch, Jahre später an das Manuskript zu gelangen, stirbt er unter mysteriösen Umständen. Die Mutter weigert sich zeit ihres Lebens, über die Großmutter zu sprechen, und stirbt zehn Jahre nach ihrem Sohn. So weit die Ausgangslage von Emma Braslavskys zweitem Roman "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik".

Die Erzählung setzt ein im Jahr 1982, als sich die sechs verbliebenen Enkel bei der Beerdigung ihrer Mutter in Thüringen wiedertreffen. Reihum kommen sie zu Wort, und auch der verstorbene Herbert mischt sich als Erzähler unter die Stimmen. Hundert Seiten lang stehen die Geschwister am Sarg und üben sich in Andacht, doch wirkliche Trauer will sich nicht einstellen. Stattdessen mutmaßen die Enkel über die Großmutter Esther, die geheimnisvolle Leerstelle in der Familie. Niemand hat sie je getroffen, nur Herbert, der Älteste, erinnert sich aus dem Jenseits an einige flüchtige Begegnungen. Hat sie wirklich ihren trunksüchtigen Mann umgebracht und ihre Kinder vernachlässigt? Wovon hat sie gelebt? Warum ist sie verschwunden? Jeder hat seine eigene Theorie, jeder mutmaßt und schnitzt sich die Großmutter, die zu ihm passt, um sich die familiären Wurzeln zu denken, die er vermisst.

Die Großmutter ist die mit Abstand plastischste Figur des Buches, gerade weil man sie nicht recht zu fassen bekommt. Die Enkel hingegen sind erschreckend einfach gestrickt: Pfarrer Richard ist ein Pfarrer, nicht mehr. Der linientreue NVA-Mann Wolfgang ist ein linientreuer NVA-Mann, der Intellektuelle Günther die Karikatur eines armen, der Kunst verpflichteten Denkers. Keine dieser Figuren ragt je über das für sie vorgesehene Schema hinaus, und keine ist wirklich interessant. Das ist für einen Familienroman, gelinde gesagt, ein Wagnis.

Für eine gewisse Überraschung sorgt am Ende Helga, das Nesthäkchen: Mit Hilfe zweier Mormonen will sie den Leichnam der Mutter nach Amerika überführen, das Sehnsuchtsland der Verstorbenen. Eigentlich wollte sie sogar dorthin auswandern, doch gab es immer Kinder oder Männer, die sie daran gehindert haben. Nun soll sie wenigstens posthum ins Land der Cowboys und Indianer reisen, beschließen die Kinder, in das Land, in dem ihre geliebten Eastwood-Western spielen. In dem Moment, als sich alle Hinterbliebenen auf diesen Schritt geeinigt haben, ist es um den Wellensittich der Mutter geschehen, dessen Sprachrepertoire aus Westernzitaten besteht und der konsequenterweise den Namen "Cowboy" trägt. Sobald der Traum von Amerika Realität wird, hat das Symbol der Sehnsucht ausgedient und muss auf möglichst kuriose Weise entsorgt werden: Cowboy ertrinkt in der Kartoffelsuppe, die auch nicht einfach eine Kartoffelsuppe ist, sondern seit drei Generationen ein zuverlässiges Zeichen familiären Unheils. Solche kleinen Skurrilitäten bereiten der Autorin sichtlichen Spaß. Wer diesen Humor teilt, kann durchaus sein Vergnügen daran haben, wie Emma Braslavsky das Blaue vom Himmel heruntererzählt. Dennoch bleiben all diese Episoden, wie auch die politischen und geschichtlichen Hintergründe, für die Figuren letztlich folgenlos, eine Pappkulisse für Pappkameraden, die in einer Art Familienaufstellung herumgeschoben und mit Symbolik behängt werden.

Bleibt das Manuskript der Großmutter, dessen Offenlegung nach dem Leichenschmaus ansteht. Darauf wartet man schließlich seit der ersten Seite. Wer aber glaubt, damit würde Licht in die Figur der Großmutter gebracht, wird enttäuscht. "Das Rätsel um Großmutter Esther ist gerade wegen des aufgetauchten Augenzeugenberichts unlösbar (und soll es auch bleiben)", heißt es lakonisch. Einen Hinweis aber gibt uns der Erzähler, denn "ein Toter aus Schlesien hat immer eine rätselhafte Geschichte zu erzählen, die ihn auch nach seinem Tod nicht zur Ruhe kommen lässt. Eines nämlich ist Großmutter Esthers Augenzeugenbericht ganz sicher: schlesisch." Aber was soll das sein, schlesisch? Was bedeutet das für einen Roman, für den Schlesien nicht viel mehr ist als eine Kulisse für Familienanekdoten, eine Außentoilette, ein paar Namen und ein dahingerauntes Mysterium? Und diese Geschichte, die stets jedes Detail durch acht Enkel, deren Ansichten und Weltbilder durchdeklinieren muss: das ist die rätselhafte Geschichte, die einen Toten nicht zur Ruhe kommen lässt? Man stellt sie sich zwingender vor. So hat sie mehr mit einem Laborversuch zu tun als mit einer Fabulierlust, die sogar den Tod überwindet.

- Emma Braslavsky: "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik". Roman. Claassen Verlag, Berlin 2008. 392 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2008

Die Bad-Taste-Party
Emma Braslavskys retrogruftiger DDR-Familienroman
Der November ist die fett glänzende Made unter den Monaten: Hier treffen Tote und Untote, Begräbniskult und Zombieästhetik aufeinander, fast so, als hätten diese todesprallen Tage gleich auch noch den nötigen Galgenhumor zu ihrer eigenen Überwindung im Gepäck. Dass sich dieses Gemisch jedes Jahr am 11.11. entlädt, ist allgemein bekannt, aber dass der 11.11.1982 so etwas wie ein historischer Höhepunkt an Gruftigkeit war, könnte dem West-fixierten Volkskulturforscher entgangen sein. In der DDR sollte an diesem Datum absolute Grabesruhe herrschen zu Ehren des tags zuvor verstorbenen Leonid Breschnew, und der ganze Maskenspaß wurde von oben abgestellt – wer trotzdem feierte, sah aus wie ein Totentänzer auf dem Grab des Generalsekretärs.
Emma Braslavsky hat dieses Datum gewählt, um ein bizarres Familientreffen am Sarg einer frisch verschiedenen Mutter in Szene zu setzen. Sieben Geschwister sehen sich nach vielen Jahren in einem Dorf in Thüringen wieder, ergänzt um den toten ältesten Bruder, der als Stimme aus dem Off mitspricht. Diese acht Geschwisterperspektiven sind das erzählerische Gerüst des Romans: „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik” setzt Aufbahrung, Beerdigung und Leichenschmaus aus sehr unterschiedlichen Filtern zusammen, und dabei kommen eben keine historischen Fakten heraus, sondern acht Wahrheiten, die dennoch eine gemeinsame Geschichte erahnen lassen.
Hinter der seltsamen Mutter – eine raubeinige Clint-Eastwood-Verehrerin, die es nie über den ersehnten Atlantik geschafft hat – spukt die noch viel geheimnisvollere Großmutter, die zum großen Rätsel der Beerdigungsgesellschaft wird. War Großmutter Esther eine Jüdin? Kommunistin? Prostituierte? Künstlerin? Gattenmörderin? Oder alles zusammen? Bis hierher folgt Emma Braslavsky den Erfordernissen des Familienromans: Der Erfolg dieses Genres besteht vielleicht gerade darin, dass die familiären Elementarteilchen nach dem Ende der großen Erzählungen unter der Hand doch wieder ein erzählbares, plastisches Ganzes ergeben. Von Irene Dische bis Jonathan Safran Foer werden die grausam zerfetzten Stammbäume des 20. Jahrhunderts immer auch in erlösendes Gelächter eingehüllt.
Aber „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik” bleibt nicht bei der wohltemperierten Stimmungslage des Genres, sondern schießt weit über das gepflegt Humoristische hinaus. Dieses Buch ist kein Familienroman, sondern eine Familiengroteske, und das beginnt schon bei den Geschwistern, die zusammen jeden Freakshow-Wettbewerb gewinnen könnten. Die älteste Schwester Viktoria ist eine Öko-Fanatikerin, die um die Seele der Pflanzen kämpft. Der NVA-Offizier Wolfgang huldigt seinem Nationalfetisch, was mit dem soldatischen Vater zusammenhängt. Günter hat in den Westen rübergemacht und reist zur Tarnung in Frauenklamotten an, und Richard, der Pastor, ist ein Softie, der dauernd Harmonie durchsetzen will.
Auch die Handlung erweist sich als Slapsticksperrfeuer: Weil sich Günter in seinen Stöckelschuhen den Knöchel verstaucht, muss der Trauerzug auf dem Weg zum Friedhof anhalten. Aus dem Sarg dringen Morsezeichen, die man als „Hörst du die Regenwürmer husten” dechiffriert. Karnevaleske Zombies bevölkern das Dorf, zwei der Geschwister landen auf einer Party mit Tier-Mensch-Maschine-Wesen. Und es gibt einen Kanarienvogel namens Cowboy, der die besten Szenen aus Mutters Lieblingswestern „Hängt ihn höher” (Hauptrolle: Clint Eastwood) nachpfeift. Beim Leichenschmaus ertrinkt er in der Kartoffelsuppe, und da wird selbst dem größten Kalauerfreund etwas blümerant zumute.
Zu diesem Gag-Feuerwerk enthüllt der tote Bruder allmählich die Familiengeschichte. Die Großmutter wird 1919 Zeugin eines Ereignisses, das noch die Flucht von 1945 entscheidend mitbestimmt. Die Mutter flüchtet von Schlesien in den Westen, allerdings nicht als klassische Vertriebene, sondern als Amerika-Sucherin, die es leider nur bis nach Thüringen schafft. Dass sie ihre Träume nie in die Tat umsetzen konnte, eröffnet dem Roman aber auch eine ernsthaftere Ebene, weil alle Anwesenden ihre unerfüllten Wünsche Revue passieren lassen.
Klug gezeichnet sind die weltanschaulichen Differenzen, die Emma Braslavsky bei den Geschwistern aufeinanderprallen lässt: Zwischen Atheismus und Naturreligion, Protestantismus und West-Hedonismus verlaufen allerdings nicht nur trennende Gräben, sondern auch interessante Verbindungslinien. Getoppt wird das alles von zwei Mormonen, die im Auftrag des Staates unterwegs sind – und der westfixierte Volkskulturforscher kann noch etwas lernen: Ja, es gab tatsächlich einen Mormonentempel in der DDR.
Natürlich ist „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik” mit seinem schrillen Setting kein Roman, dem es um die Rekonstruktion historischer Wahrheiten ginge. Vielmehr entwirft Emma Braslavsky, geboren 1971 in Erfurt, eine Art Gothic-Karikatur der DDR, wobei einige Sprachpartikel aus späteren Jahren in die frühen Achtziger zurückkatapultiert werden: „Grufties” und „Gutmenschen” sind Erscheinungen jüngeren Datums, machen sich aber in dieser Retro-Geisterbahn nicht schlecht; etwas schal wirkt dagegen die Auflösung des Familiengeheimnisses. Auch in ihrem Debütroman „Aus dem Sinn” hat Braslavsky über Sudetendeutsche in der DDR geschrieben, die üblichen elegischen Flucht- und Vertreibungsgesten hatte sie durch eine ziemlich skurrile Szenerie ersetzt. „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik” tauscht in ähnlicher Weise die gedämpfte Betroffenheitskulisse gegen synthetische Schockfarben aus. Wenn am Sarg der Mutter eine Western-Hymne mit der Mundharmonika intoniert wird, wirkt das wie eine überbordende Bad-Taste-Party in Romanform – witzig, aber auch nicht endlos wiederholbar. Ein einziger von diesen Knallern könnte wahrscheinlich einen ganzen Roman füllen – angefangen bei den Ost-Mormonen. JUTTA PERSON
EMMA BRASLAVSKY: Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik. Roman. Claassen Verlag, Berlin 2008. 392 Seiten, 19,90 Euro.
Die Morsezeichen aus dem Sarg sagen: „Hörst du die Regenwürmer husten?”
Der Kanarienvogel namens Cowboy pfeift die besten Szenen aus „Hängt ihn höher” nach
Der mobilste Beruf: Emma Braslavsky im Sinai Foto: Noam Braslavsky
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "Familiengroteske" bezeichnet die Rezensentin Jutta Person diesen Roman. Am 11.11. des Jahrs 1982 kommen die sieben (plus ein posthumes achtes) Mitglieder einer Familie am Grab der Mutter in einem thüringischen Dorf noch einmal zusammen. Auch Clint Eastwood, den die Mutter obsessiv verehrte, ist irgendwie im Geiste dabei und sogar die verstorbene Großmutter noch, die von Familiengeheimnissen der im Roman aufzuklärenden Art umweht und umschwebt wird. Die Familienmitglieder: Vom Pastoren-"Softie", zum Frauenkleider-Günther über die Öko-Fanatikerin und den NVA-Nationalfetischisten ist manches versammelt, was nicht zusammengehört, lesen wir. Ein Kanarienvogel, berichtet die Rezensentin, pfeift erst ein Lied aus dem Eastwood-Western "Hängt ihn höher", um dann in der Kartoffelsuppe zu ertrinken. So ganz klar wird nicht, was Person alles in allem von diesem "Gag-Feuerwerk" hält. Gewiss glaubt sie nicht, dass es der Autorin an Witz mangelt. Ihre Bemerkung, dass der Witz "nicht endlos wiederholbar" sei, deutet eher darauf hin, dass sie ein bisschen zuviel davon hat.

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