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Als der junge Elias Canetti 1921 Zürich, wo er fünf Jahre lang das Gymnasium besucht hatte, verlassen musste, empfand er diese Zumutung als Vertreibung aus dem Paradies. Fünfzig Jahre später ist er in diese "Stadt, an der ich sehr hänge", zurückgekehrt und hat in ihr bis zu seinem Tod 1994 gelebt.

Produktbeschreibung
Als der junge Elias Canetti 1921 Zürich, wo er fünf Jahre lang das Gymnasium besucht hatte, verlassen musste, empfand er diese Zumutung als Vertreibung aus dem Paradies. Fünfzig Jahre später ist er in diese "Stadt, an der ich sehr hänge", zurückgekehrt und hat in ihr bis zu seinem Tod 1994 gelebt.
Autorenporträt
Werner Morlang, geboren 1949 in Olten, lebt als freischaffender Germanist, Literaturkritiker und Buchautor in Zürich. Er war acht Jahre Leiter des Zürcher Robert Walser-Achivs und von 1981 bis 2002 Mitherausgeber von Walsers mikrographischem Nachlass. Bei Nagel & Kimche erschienen So schön beiseit. Sonderlinge und Sonderfälle der Weltliteratur (2001) und Die verlässlichste meiner Freuden. Hanny Fries und Ludwig Hohl (2003).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2005

Sind Sie's, oder sind Sie's nicht?
Elias Canetti im Spiegel: Ein Erinnerungsband von Walter Morlang

Erinnerungsbücher über illustre Künstler und Schriftsteller sind oft ein zwiespältiges Unternehmen. Einerseits bergen sie die Fallen der sentimentalen Verklärung, der nostalgischen Rückschau oder des Zurechtbiegens unliebsamer Eindrücke. Andererseits will die Bedeutung des eigenen bescheidenen Ichs in bezug auf die erlauchte Bekanntschaft dann doch ein wenig aufgeputzt werden, und sei es nur unter Tarnung mit allerlei Bescheidenheitsfloskeln. Allein die Tatsache, einen Nobelpreisträger wie Elias Canetti gekannt zu haben, kann das eine oder andere auf Berühmtheiten erpichte Gemüt aus der Balance werfen und in einen Zustand bedrohlichen Schleuderns versetzen.

Diese unterschiedlichen Gemütsregungen und Seelenlagen kann man in den vierundzwanzig Protokollen, Gesprächen und Texten über Begegnungen mit Elias Canetti verfolgen, die der Germanist Werner Morlang unter dem Titel "Canetti in Zürich" zusammengetragen hat. Es ist eine Sammlung witziger Anekdoten, scharfsinniger Beobachtungen, amüsanter Schilderungen, aber auch verschwommener Bilder von Zeitgenossen, die dem kleinen Mann mit den herrischen Gesichtszügen einmal begegnet sind: an der Tramhaltestelle Römerhof vor seinem Haus im Englischviertelquartier, beim Zeitungskaufen an der Talstation der Dolderbahn oder aber bei einem Besuch in der Dreizimmerwohnung an der Klosbachstraße 88, wo Elias Canetti von 1972 bis zu seinem Tod 1994 gewohnt hat. Mit seiner zweiten Frau, der Kunsthistorikerin Hera Buschor, hatte er sich im eleganten Quartier am Fuße des Zürichbergs niedergelassen, das traditionsgemäß von Psychiatern, Bankiers, Intellektuellen und alteingesessenen Zürchern bewohnt wird, die man kurz und bündig mit dem Begriff "der Zürichberg" zusammenfaßt. Ihr Dialekt unterscheidet sich in winzigen, aber entscheidenden Nuancen vom gemeinen Zürichdeutsch, ein Signal, dessen Charakter man ohne nachzudenken entziffert.

Übrigens auch Canetti. Er sprach zwar ein schnarrendes Hochdeutsch, konnte aber, wenn er es für angezeigt hielt, bruchlos in die Mundart umschalten, was allerdings in Zürich kaum jemand wußte. Mit einem "Grüezi, Herr Canetti" mußte man dem Nobelpreisträger zwar nicht kommen, da konnte der solchermaßen vertraulich Angesprochene plötzlich finster dreinblicken, wenn er auf einer Bank im Wäldchen beim Degenried saß und erkannt wurde. Mußte aber ein Taxifahrer angewiesen werden, so geschah das in reinstem Schweizerdeutsch. Auch als Vertreter der eigenen Sache konnte Canetti zielstrebig zum richtigen Idiom greifen. Im Dezember 1969 saß er mit dem Regisseur Max Peter Ammann in der lauten, verrauchten Bahnhofshalle und diskutierte wie immer in Hochdeutsch die Inszenierung seines Stücks "Hochzeit" im Schauspielhaus. Als ein paar angetrunkene Arbeiter die merkwürdig anders aussehenden Gäste fragten: "Wäär sind iihr dänn?", reagierte Canetti prompt: "Er isch de Reschissör, iich bi de Dichter!" Nicht ohne verschmitzten Stolz habe er sie zu einem Besuch des Schauspielhauses aufgefordert. "Gönd go luege! S'isch es guets Schtuk! Iich has schribä!"

Elias Canetti liebte das Anonyme, die Inkognito-Existenz - wobei ihn in Zürich selbstverständlich jedermann erkannte, wie aus vielen dieser Augenzeugenberichte hervorgeht. Für das Unauffällige war er viel zu sehr auf Selbstinszenierung bedacht. Man habe "die stattliche Erscheinung mit seinem eisgrauen Schnauz und der wilden Mähne" sofort bemerkt, berichtet Susanne Hochwälder, Gattin des österreichischen Dramatikers Fritz Hochwälder. Zu Besuchen war er "wie aus dem Schachterl" gekleidet, in den teuersten Stoffen, Kaschmir, reinseidene Hemden und Krawatten, dazu englische Schuhe. Daneben präsentierte sich seine Frau Hera wie ein Schatten. Sie sei unglaublich bedürfnislos gewesen und habe kaum Wert darauf gelegt, hübsch aufzutreten: "eine große Seele und hervorragend gebildet, aber äußerlich sehr bescheiden". Unter diesen Umständen mußte sich der Schriftsteller nicht wundern, wenn er immer wieder angesprochen wurde: in der Buchhandlung Oprecht an der Rämistraße, im Zug vom Tessin nach Zürich von Franz Hohler, am Dolderbahn-Kiosk vom Schriftsteller Felix Philipp Ingold, der ihn durch den halbleeren Zeitungsständer hindurch mit dem aufschlußreichen Satz "Sind Sie's, oder sind Sie's nicht?" begrüßt.

Immer wieder wird man mit Canettis seltsam ambivalentem Verlangen konfrontiert, sich gleichzeitig zu verbergen und zu zeigen. Allerdings gibt es dabei ein eisernes Gesetz, das der dominante Canetti nie außer Kraft setzt: Er ist es, der Treffen anregt, zuläßt und kommandiert; er hält die Fäden der Inszenierung stets in der Hand. Er bestimmt fast ausnahmslos, wann Grenzen übertreten wurden und wie. Diese Rigidität in der Steuerung seiner Beziehungen entblößt auf ihrer verborgenen Rückseite ein erstaunliches Angstpotential. Die Lust, mit dem leibhaftigen Repräsentanten der Bücher in Kontakt zu kommen, läßt sich andererseits in vielen Texten entdecken. Amüsant daran ist, daß die Gier nach Berührung mit der geheimnisvollen literarischen Hoheit bei Intellektuellen und Buchhändlerinnen, bei Professoren und Haushälterinnen, bei Autoren und dem Friseur etwa gleich stark ist. Es ist nicht nur die Neugierde, die sie auf den prominenten Schriftsteller zutreibt, sondern ebenso das Bedürfnis nach dem nobilitierenden sekundären Lustgewinn, der ihnen die Begegnung zu verschaffen scheint. Insofern ist Werner Morlangs Sammlung dieser Zeugnisse ein soziologisches Dokument: Es sagt mindestens so viel über das beobachtete Objekt der Begierde aus wie über die Beobachter selbst.

Elias Canetti wußte sich übrigens vor unliebsamen Zudringlichkeiten durchaus zu schützen. Die Protokolle zu seinen Zürcher Jahren verraten, daß er dem theatralischen, hysterischen Temperament seiner Mutter in mancher Beziehung in nichts nachstand. Nur wenige entlarvten zum Beispiel den begabten Imitator, der Anrufer nach Belieben mit der Stimme seiner Putzfrau hinhielt, ausfragte, in die Irre führte oder abwies. Er pflegte sich nämlich, so berichtet sein Vertrauensarzt Johann Steurer, gerne mit Frauenstimme am Telefon zu melden, die erst mal in Erfahrung bringen sollte, worum es ging. Ganz besonders freute es ihn, wenn er dabei den einen oder anderen einer Lüge überführen konnte, etwa auf die Frage "Woher kennen Sie Herrn Canetti?" oder "Was wollen Sie von ihm?".

Bei all den unterhaltsamen Pointen und Reminiszenzen, die Morlangs Kompendium liefert, stört man sich doch stellenweise an der Repetition der immergleichen Charakterzüge, der Registrierung des bereits hinlänglich Bekannten und dem schlichten Hang, eine komplexe Dichterfigur auf einige wenige eindeutige Konturen festzulegen. Projektionen und Wünsche der Zeitzeugen verdecken dann häufiger den Dichter, als daß sie ein authentisches Bild von ihm freizulegen vermöchten. So trägt das akribische Zusammentragen und Kommentieren jeder Regung, jeder Geste und jedes Schrittes eher zu jener Heiligsprechung bei, die anläßlich des heutigen hundertsten Geburtstags von Elias Canetti mancherorts im Schwange ist.

PIA REINACHER

Werner Morlang: "Canetti in Zürich". Erinnerungen und Gespräche. Herausgegeben von Werner Morlang. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2005. 240 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Pia Reinacher hat einen leicht zwiespältigen Eindruck von diesem Erinnerungsband, den der Germanist Werner Morlang zusammengetragen hat. Zwar hat sie unter den vierundzwanzig Erinnerungsprotokollen "witzige Anekdoten, scharfsinnige Beobachtungen" und "amüsante Schilderungen" von Alltagsbegegnungen verschiedenster Personen mit Elias Canetti gelesen. Aber eben auch "verschwommene Bilder", deren Relevanz sich aus ihrer Sicht in Grenzen hält und weniger der Wahrheitsfindung, sondern einer nicht sonderlich begrüßenswerten Heiligsprechung des Nobelpreisträgers dient. Auch verdecken Wünsche und Projektionen verschiedener Zeitgenossen aus der Sicht der Rezensentin eher den Blick auf den Dichter, anstatt ein "authentisches Bild" von ihm zu vermitteln. Im Übrigen stört sie stellenweise die redundanten Charakterbeschreibungen Canettis, die "Registrierung des bereits hinlänglich Bekannten", und der zum Ausdruck kommende "schlichte Hang", einen so vielschichtigen Autor auf ein paar "eindeutige Konturen" festzulegen.

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