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Eine Wiese, »irgendwo auf der Welt«, ein Sommernachmittag, »der sich chaotisch in die Glut der Sonne verirrt hatte«, eine verwahrloste Uferböschung - verfluchte oder verzauberte Orte sind es, an denen die Ich-Figur von »Krisen« heimgesucht wird. »Dort fühlte ich noch tiefer und noch schmerzhafter, daß ich auf dieser Welt nichts zu tun hatte, nichts weiter, als durch Parks zu streunen, über staubige, von der Sonne verbrannte, wüste und verwilderte Wiesen. Es war ein Herumstreunen, das mir letztlich das Herz zerriß.« Das Vagabundieren des jugendlichen Protagonisten ist der Widerschein einer…mehr

Produktbeschreibung
Eine Wiese, »irgendwo auf der Welt«, ein Sommernachmittag, »der sich chaotisch in die Glut der Sonne verirrt hatte«, eine verwahrloste Uferböschung - verfluchte oder verzauberte Orte sind es, an denen die Ich-Figur von »Krisen« heimgesucht wird. »Dort fühlte ich noch tiefer und noch schmerzhafter, daß ich auf dieser Welt nichts zu tun hatte, nichts weiter, als durch Parks zu streunen, über staubige, von der Sonne verbrannte, wüste und verwilderte Wiesen. Es war ein Herumstreunen, das mir letztlich das Herz zerriß.« Das Vagabundieren des jugendlichen Protagonisten ist der Widerschein einer inneren Handlung: die Qualen und Exzesse der Wahrnehmung auf der Suche nach Realität, nach sich selbst in den Gegenständen, Orten, Personen. Je gefräßiger, obsessiver er sich ihnen nähert, um so unwirklicher wird er sich selbst, um so intensiver und kälter erstrahlt ihm die Welt.
Der 1936 in Rumänien erschienene Entwicklungsroman des jüdischen Schriftstellers M. Blecher (1909-1938) ist ein Meilenstein der mitteleuropäischen Moderne. Die Gestaltung der »Unwirklichkeit und ihrer phantastischen inneren Ereignisse« verbindet Blecher mit Milos Crnjanski, Géza Csáth und Bruno Schulz, aber auch mit Franz Kafka und Robert Walser. Von Eugène Ionesco gefeiert, hatte das Werk in den Jahrzehnten der Diktatur keine Lebenschance mehr. »Wahrscheinlich fürchtet man sich vor diesem Buch, weil es einer beklemmenden Wahrhaftigkeit das Wort redet«, schreibt Herta Müller über das Meisterwerk des 27jährigen Autors.
Autorenporträt
Herta Müller, geboren 1953 in Nytzkidorf/Rumänien, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman Atemschaukel (Hanser 2009). In der edition suhrkamp erschienen bislang die Leipziger Poetikvorlesungen von Ingo Schulze Tausend Geschichten sind nicht genug und Uwe Tellkamp Die Sandwirtschaft.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2004

Der Pojaz des Surrealismus
Wenn der Schläfer vom Bett träumt, in das er sich legt: M. Blechers bebender Roman „Aus der unmittelbaren Wirklichkeit”
Dies ist ein schmales, großes Buch der Unruhe. Auch dann, wenn es, wie so oft, dem Schlaf anheim fällt. Ruhe findet es dort am allerwenigsten. In seinen Träumen spukt das Fragment des Novalis, demzufolge wir dem Erwachen nah sind, wenn wir träumen, dass wir träumen. Aber die helle, lichte Erwartungsspannung des Traums im Traum kennt dieses Buch nicht. Auf seinen letzten Seiten verrät es seinen schrecklichsten Alptraum. Er kennt keine Monstren und Abgründe. Er lässt den Schläfer von dem Bett träumen, in das er sich abends gelegt hat. Er zeigt ihm nichts anderes als seinen gegenwärtigen Schlaf.
Der Schlaf selbst, nicht irgendeine Ausgeburt der Phantasie ist der Alptraum. Er lastet auf den Lidern und Händen des Schläfers, drückt seinen Wunsch zu erwachen zurück ins Kissen, bis er mit einem Schrei erwacht. Dann findet er sich in genau dem Zimmer, von dem er eben noch geträumt hat. Aber nun ist das Gefühl des Alptraums in diesen hellen Tag eingewandert und verwandelt die Wirklichkeit in etwas, aus dem der Erwachte unbedingt aufgeweckt werden will. Und diese Wirklichkeit, der Alltag zieht ihn mit nicht geringerer Kraft in sich hinein als der Schlaf den Träumer, dem er auf der Brust sitzt. Nur gelegentlich öffnet sich ein Spalt in der Wirklichkeit und gibt den Blick frei auf ihre dem Erwachen zugewandte Seite. Davon handelt dieses Buch. Darum heißt es: „Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit”.
Ein kranker junger Mann hat es geschrieben, in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Er war 27 Jahre alt, als das Buch erschien, wenig später schon war er tot. Er starb 1938 im Alter von 29 Jahren an der Knochentuberkulose, an der er mit 19 erkrankt war. Er liebte es, seinen Vornamen zur Chiffre „M.” zu anonymisieren, hinter der sich womöglich ein Marcel verbirgt. M. Blecher stammte aus einer jüdischen Familie im Nordosten Rumäniens, die einen Porzellan- und Keramikladen besaß. Er studierte, ausgerechnet, Medizin und dies, wohl kaum zufällig, zeitweilig in Paris. André Bretons Roman „Nadja”, der dort 1928 erschienen war, konnte ihm, dem Kenner der französischen wie der englischen Literatur, nicht entgehen.
Übersetzungen von Guillaume Apollinaire, Pierre Unik und Richard Arlington gehörten zu den ersten Veröffentlichungen M. Blechers. In Bretons Zeitschrift „Le surréalisme au servie de la Révolution” erschien 1934 ein französisch geschriebenes Prosagedicht von ihm. Aber nichts an Blechers Roman „Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit” steht in einem epigonalen Verhältnis zu Breton, Aragon und ihren Mitstreitern.
Keine Muse weit und breit
Und obwohl Ernest Wichner, der das Buch in makellos glänzende deutsche Prosa übertragen hat, in einer biobibliographischen Notiz die Bewunderung Blechers für den Maler Salvador Dali dokumentiert, wahrt dieser Roman Distanz zu aller schwelgerisch-opulenten Inszenierung von Traum und Phantasmagorie. Streng ist hier die Prosa an die Wirklichkeit gebunden, aus der sie zu erwachen hofft. Selbstbewusst hält sie sich abseits aller Manifeste, die den Surrealismus in den Dienst der Revolution stellen wollen.
Denn dieses Buch der Unruhe ist kein Buch der Revolution und selbst ernannten Avantgarde des zwanzigsten, sondern der Implosion des neunzehnten Jahrhunderts. Es geht aus derjenigen Energiequelle hervor, die durch Bretons Pathos der Revolte eher verdeckt wird: aus der Energie der Auflösung in dem Sinne, in dem man von der Auflösung einer Wohnung spricht.
„Wer bin ich?” Mit dieser Frage beginnt Bretons „Nadja”. Als „schreckliche Frage” nimmt Blecher sie auf den ersten Seiten seines Romans auf. Ein Ich blickt auf einen Punkt an der Wand, beugt sich über sich selbst, legt Bilder seiner selbst stereoskopisch übereinander. Aber der Suche des ständig von Selbstverlust bedrohten Ich kommt keine Muse, keine Nadja zu Hilfe. Keine geheimnisvoll blinzelnden Fotografien sind durch den Roman verstreut, zu denen er sich als Emblem, als Bildunterschrift verhalten könnte. Es bleibt dem Ich nur ein Weg: das Heraufrufen der „Krisen” seiner Kindheit und Jugend.
Das geschieht hier in einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Sie ist unverkennbar und rücksichtslos autobiographisch, verweigert aber wie Michel Leiris‘ „Mannesalter” die Form der Autobiographie. Die Erinnerungen sind hier nicht eine Sammlung, die man liebevoll anlegen und pflegen könnte, sie sind eine Schar unzuverlässiger Plagegeister, die nur ihren eigenen Gesetzen folgen „wie in jenem Spiel aus der Kindheit, wenn man ein Blatt Papier mit einem Tintentropfen darauf faltete und kräftig drückte, damit die Tinte so weit wie möglich verlaufe, und der dann, wenn man das Papier wieder öffnete, die phantastischsten und unvorstellbarsten Verästelungen einer bizarren Zeichnung enthüllte”.
Dies mag an den Rorschach-Test erinnern, der den frühen zwanziger Jahren entstammt. Aber Blechers Verästelungen ist mit psychologischer Deutung nicht beizukommen. In ihnen sind die Bilder von Pubertät, erotischer Initiation und vom fiebrigen Spiel mit dem eigenen Tod zugleich Bilder des Abschieds einer Epoche von sich selbst. Wie in Paris ist auch hier der Surrealismus dem Flohmarkt nahe, dem Plunder, den die Auflösung des 19. Jahrhunderts freisetzt. Auch hier sind die Dinge den Menschen ebenbürtig, zeichnen sie der scheuen Perversion wie der Lust an den Verstecken, Höhlen und Nischen ihre Wege vor.
Blecher kommt nicht nur ohne Muse auch, er verzichtet auch auf Bretons demonstrativ kokettes Spiel mit Mystifikation, Aberglauben und Wahrsagerinnen. Er ist kein Schüler des Surrealismus, sondern eine ihrer eigenständigen Großfiguren. Als jiddisch verballhornter Pojaz statt als Bajazzo aus Paris trommelt der mechanische Spielzeugclown. Über Plätzen, die im Schlamm versinken, schweben die Statuen aus dem Interieur in den Himmel. Billige Statuetten haben auf den Jahrmärkten ihren Auftritt.
Blechers Seiten über das noch stumme Kino sind denen in Sartres „Wörtern” ebenbürtig. Schon sind die sexuellen Abenteuer des Heranwachsenden, Puppenballette eher als Eroberungen, vom Grammophon unterlegt. Hinreißende Passagen entstehen im Blick auf alte Fotografien, auf frisch aufgebahrte Tote und zerfließende Wachsfigurenkabinette, auf Kränze, künstliche Blumen, Fayence-Köpfe und Zigeunerringe. Die Schönheit wird konvulsiv sein, oder sie wird nicht sein, schrieb Breton. Hier ist das kongeniale Gegenstück, das Beben der in Schlaf gebannten, alpträumenden Wirklichkeit: „Ein schreckliches Zittern weckte mich auf.”
LOTHAR MÜLLER
M. BLECHER: Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Mit einem Nachwort von Herta Müller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 154 Seiten, 12,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2004

Meine Haut wie ein Sieb
Entdeckungsreise unter der Schädeldecke: M. Blechers enorme Prosa

Manchmal gibt es so etwas wie eine späte Gerechtigkeit in der Literatur, und ein verschollenes oder vergessenes Werk wird wiederentdeckt. Das versäumte Leben eines Buches kehrt freilich nicht zurück, und die späte Rehabilitierung gelingt nicht immer. Wie heikel sie sein kann, zeigt der Fall des rumänischen Juden M. Blecher und seines 1936 erstmals erschienenen Buches "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit".

Blechers "Vorkommnisse aus der unmittelbaren Unwirklichkeit", wie der Originaltitel zu übersetzen wäre, fanden seinerzeit in der jungen existentialistisch gestimmten Avantgarde Rumäniens begeisterte Zustimmung. Blecher wollte Dalís Malerei in Literatur verwandeln, ihren Wahnsinn "lesbar und wesentlich" machen. Eugène Ionesco rühmte die "außergewöhnlichen Erfahrungen", die das Buch vermittelte. Ruhm und Karriere schienen dem jungen Autor zu winken. Doch sein früher Tod - Blecher starb 1938 mit neunundzwanzig Jahren - und die Ereignisse von Faschismus und Stalinismus brachen die Rezeption seines Werkes ab.

Erst 1970, in der kurzen Tauwetterperiode, wurde "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit" in Rumänien wieder verlegt. 1972 erschien, durch Maurice Nadeau veranlaßt, eine französische Übersetzung. Ernest Wichner übersetzte das Buch 1990 für die Berliner Edition Plasma. Ein Echo gab es nicht. Man kann nur hoffen, daß die jetzt erschienene Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp die Lage ändert. Herta Müller hat dem Band ein leidenschaftliches Plädoyer mitgegeben, das mit der Literaturpolitik der beiden rumänischen Diktaturen abrechnet. "Wahrscheinlich fürchtete man sich vor diesem Buch", schreibt sie, "weil es einer beklemmenden Wahrhaftigkeit das Wort redet."

Es ist ein Dichter, kein politischer Autor, den Herta Müller uns vorstellt. Blecher, der sich in seinen Briefen Max oder Marcel nannte, sich als Schriftsteller aber mit dem Initial M. begnügte, stammte aus einer Fabrikantenfamilie und wurde 1909 in dem Städtchen Botosani in Nordostrumänien geboren. Er ging zum Medizinstudium nach Paris, erkrankte aber mit neunzehn an Knochentuberkulose und verbrachte sein weiteres kurzes Leben hauptsächlich in Krankenhäusern und Sanatorien. Entsprechend kurz war seine literarische Laufbahn.

Durch den großen Lyriker Tudor Arghezi entdeckt, hat Blecher ab 1930 Skizzen und Aphorismen veröffentlicht sowie Essays über Blake und Kierkegaard. Im Umkreis André Bretons erschienen seine Übersetzungen von Guillaume Apollinaire und Richard Aldington. Mit siebenundzwanzig, bereits durch seine Krankheit geschwächt, schrieb er den Text "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit". Voraufgegangen war 1934 ein Gedichtband ("Corp transparent"). 1937 erschien ein zweiter Roman: die an der französischen Kanalküste spielende Sanatoriumsgeschichte "Vernarbte Herzen". Bei seinem Tod hinterließ Blecher Aufzeichnungen und Skizzen mit dem Titel "Beleuchtete Höhlen". In Bukarest erschien 1999 eine Werkausgabe und 2000 die vollständige Korrespondenz. Ein kurzes Leben, aber ein beträchtliches OEuvre.

Blechers Buch gehört in die Reihe jener Romane des Hirns, wie sie mit Benns Rönne und Valérys Monsieur Teste einsetzt. Man könnte es - zeitlich wie strukturell - zwischen Henri Michaux' Exerzitien um "Plume" (1935) und Jean-Paul Sartres "La nausée" (1938) plazieren. Hier die Marionette, mit der Logik: "Ich - ist nur eine Gleichgewichtsposition." Dort der existentialistisch geworfene Antoine Roquentin, der sich durch seinen Ekel definiert. Der namenlose Held von M. Blecher steht zwischen Puppe und Philosoph. Für ihn wird die Frage "Wer bin ich?" "von einer tieferen und essentielleren Klarheit eingeklagt als der des Verstandes". Er ist der Welt schutzlos ausgesetzt, kann seine Befindlichkeit aber immer noch analytisch fassen: "Zwischen mir und der Welt gab es keine trennende Distanz. Alles, was mich umgab, überfiel mich von Kopf bis Fuß, als wäre meine Haut löcherig gewesen wie ein Sieb."

Was bringen diese "Vorkommnisse aus der unmittelbaren Unwirklichkeit"? Nicht so viel Unwirkliches, wie der Leser vielleicht befürchten möchte. Der Titel des Buches ist spröde, das Buch selbst aber ganz und gar nicht. Wir lesen einen kleinen Entwicklungsroman, der die Geschichte einer verschatteten Kindheit und Jugend auf einen Selbstmordversuch und den Tod einer verehrten Frau zuführt. Der große, schlanke und blasse Junge "mit einem dünnen Hals, der aus dem zu weiten Kragen meiner Jacke ragte", ist mit einer enormen Sensibilität geschlagen. Er erlebt die Realität tatsächlich als "unmittelbare Unwirklichkeit", als einen krisenhaften Ablauf von Nervenreizen und Halluzinationen. Benns Rönne sah einst seine eigene Hand als fremdes Objekt. Blechers Protagonist fühlt sich von der Vielfältigkeit der Dinge betäubt: "Vergebens griff ich nach einer Kugel, ließ langsam die Finger darüber gleiten, drückte sie an die Wange, drehte sie um, ließ sie rollen ... Vergebens ... vergebens ... es gab nichts zu verstehen."

Andererseits liebt er die Künstlichkeit der Dinge, empfindet die Welt als reines Theater, besucht Rummelplätze und Varietés und wird beeindruckt von allem, "was nachgeahmt ist". Das Gewöhnlichste und Bekannteste an den Dingen verwirrt ihn am meisten. Er träumt von einem "Inzest mit den Dingen", möchte sich in einen Hund oder einen Baum verwandeln und erlebt Halluzinationen, etwa eine fliegende Marmorstatue oder die Frau ohne Kopf - ein Stück Malerei: "Dort, wo der Kopf hätte sein müssen, war der Schleier sehr gut arrangiert, doch an der Stelle des Kopfes war nichts als ein gähnendes Loch, eine leere Kugel bis zum Nacken." Hier spürt man am ehesten Dalís Einfluß und spürt das Zeitverhaftete von Blechers Surrealismus.

Stark und suggestiv dagegen sind die erotischen Szenen, auch die schwärzesten zeigen einen beträchtlichen Charme. Blechers Sinn für die "Komplizenschaft des Lasters" teilt sich dem Leser mit. Das gilt für die explizit sexuellen Szenen wie für das, was Herta Müller Blechers Erotik der Wahrnehmung nennt.

Blechers Prosa ist tatsächlich Körperprosa. Sie öffnet sich der Welt wie der Protagonist seine als löcherig empfundene Haut. Sein Glück des Protagonisten bleibt begrenzt. Denn da ist immer noch der Kopf; das Kopfproblem eines Rönne. Der Fluch des Denkenmüssens: "Zum ersten Mal spürte ich meinen Kopf eng in den Knochen meines Schädels eingezwängt. Eine grauenhafte und schmerzliche Gefangenschaft." Das Paradox aller bedeutenden Kunst gilt auch hier, in Blechers wunderbarer Prosa: Das so suggestiv beschriebene Unglück wird zum intellektuellen Glück des Lesers.

HARALD HARTUNG

M. Blecher: "Aus der unmittelbaren Wirklichkeit". Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Mit einem Nachwort von Herta Müller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 154 S. geb., 12,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

M. Blechers Prosa ist "Körperprosa", behauptet Harald Hartung fasziniert, eine sich der Welt öffnende Textur, die allerdings dem "Fluch des Denkenmüssens" unterworfen sei. Was verbirgt sich hinter dem so spröde klingenden Romantitel eines rumänischen Avantgarde-Autors, der Dalis Malerei in Literatur verwandeln wollte, fragt Hartung. Ein keineswegs spröder Text, ein kleiner Entwicklungsroman, der das erotische Werben eines jungen Mannes um eine Frau und eine vom Tod überschattete Jugend schildert. Hartung ordnet Blecher, der zum Medizinstudium nach Paris kam und 1938 mit nur 29 Jahren an Knochentuberkulose starb, zwischen Benn und Valery, Michaux und Sartre ein: Blechers namenloser Erzähler führe eine Existenz zwischen Philosoph und Puppe, so Hartung, ein schutzloses Leben, das der Welt ausgeliefert sei und dabei nicht aufhöre, diese Existenz zu reflektieren. Das ist ungemein suggestiv, auch dem Leser unter die Haut gehend, schwärmt der Rezensent und stellt sich ohne Wenn und Aber hinter Herta Müllers leidenschaftliches für diesen vergessenen Autor Plädoyer (im Vorwort zum Buch).

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