Produktdetails
  • Argument Sonderband NF
  • Verlag: Argument Verlag
  • Seitenzahl: 269
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 262g
  • ISBN-13: 9783886192397
  • ISBN-10: 3886192393
  • Artikelnr.: 06058596
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1996

Mutters Moral ist die beste
Zygmunt Bauman kann die Moderne so wenig leiden wie die Postmoderne

Fundamentalisten lehnen die Welt ab. Oder wenigstens ihre gegenwärtige Verfassung. Sie tun dies unter Berufung auf religiöse, ästhetische oder moralische Prinzipien, woraus sich je nachdem ein religiöser, ästhetischer oder moralischer Fundamentalismus ergibt. Zygmunt Bauman ist ein moralischer Fundamentalist. Er lehnt sowohl die Moderne als auch die sogenannte Postmoderne ab, weil sie auf einer Strukturierung des sozialen Raums beruhen, die der Moral nicht Rechnung trägt, ja moralische Orientierung systematisch ausschließt. In der Moderne dominiert die kognitive Strukturierung. Sie entzaubert die Welt, unterwirft sie rationalen Regeln und beraubt sie dadurch ihrer Ambiguität und Kontingenz. So vermag sie zwar Sicherheit und Ordnung zu erzeugen, doch nur um einen hohen Preis.

Denn erstens wird das, was sich den Rastern der Rationalisierung nicht fügt, nur verdrängt, nicht wirklich bewältigt, so daß es eines permanenten Kampfes gegen die Wiederkehr des Verdrängten bedarf. Die Moderne ist deshalb ein ewiger Kreuzzug gegen die Ambivalenz, eine Operation des Ausschlusses und der Verfolgung des Ausgeschlossenen, virtuell bis zur Vernichtung. "Die Moderne wurde auf dem Genozid gegründet und schritt durch noch mehr Genozide fort", bis hin zum Holocaust.

Zweitens führt das Streben nach Ordnung, nach Ambivalenzfreiheit, in die Selbstzerstörung. Es gelingt wohl, lokal begrenzte Ordnungen zu errichten, doch nur durch eine Praxis, die anderen Teilen der Welt ihre Ordnungskapazitäten (zum Beispiel Energieressourcen) raubt; so daß die Errichtung von Teilordnungen unvermeidlich einen Verlust an globaler Ordnung bedeutet - ein Gedanke, zu dessen Begründung sich Bauman auf die seit einiger Zeit auch in den Sozialwissenschaften diskutierte Entropielehre bezieht. Fortschritt und ökonomisches Wachstum, die beiden Hauptsäulen der Moderne, erweisen sich als optische Täuschung: als erste Stufen auf einem Weg, der nach einer kurzen Phase des Anstiegs steil in den Abgrund führt.

Nicht ganz so eindeutig ist Baumans Haltung gegenüber dem, was er die Postmoderne nennt. Während er in der (im Original 1992 erschienenen) Essaysammlung "Ansichten der Postmoderne" noch dafür eintritt, die postmodernen Phänomene nicht gleich als dysfunktional, degeneriert oder sonstwie bedrohlich für die Gesellschaft abzutun, überwiegen in der jüngeren "Postmodernen Ethik" die skeptischen Töne. Die Postmoderne wird zwar begrüßt, weil sie nicht länger an den Illusionen von Einheit, Kohärenz und Ordnung festhalte, doch erscheint nun die in ihr dominierende ästhetische Orientierung als problematisch, weil sie der Moral so feindlich ist wie der Rationalismus der Moderne. Soziale Beziehungen werden am Leitwert des Vergnügens, der Überraschung, der Sensation ausgerichtet, sie werden episodisch und folgenlos. Institutionen wie die Ehe mit ihrem Anspruch auf Dauerhaftigkeit kommen aus der Mode, und auch im Politischen weichen die festen Verbindungen kurzfristigen Allianzen, in denen Bauman eine Art Neotribalismus sieht. Die Postmoderne mit ihrer Vorliebe für das Fluide und Nichtidentische hat denselben Effekt wie die Moderne mit ihrer Obsession für Klarheit, Wiederholbarkeit, Berechenbarkeit. Sie läßt für moralische Strukturierungen keinen Raum.

Unter den zahlreichen Versuchen, die Postmoderne von der Moderne abzugrenzen, ist dies einer der anregendsten und wertvollsten, schon weil sich Bauman dem in diesem Genre vorherrschenden Usus entzieht, über Inkohärenz inkohärent zu reden. Bauman ist insofern noch ein angenehm moderner Denker, als er die Systemhaftigkeit der Postmoderne betont, ihre enge Beziehung zur Moderne hervorhebt und das analytische Potential der klassischen Soziologie - etwa derjenigen Simmels - zu nutzen versteht.

Dennoch mehren sich die Zweifel, je mehr man von den noch tastenden "Ansichten" zur stärker systematisch gehaltenen "Ethik" übergeht. Decken die beiden dort entwickelten Konzepte der kognitiven und der ästhetischen Strukturierung wirklich das ganze Feld der sozialen Beziehungen ab, oder bedürfte es für die Bereiche der Politik oder des Marktes nicht noch anderer Kategorien? Lassen sich Genozid und Holocaust wirklich so glatt aus der kognitiven Strukturierung ableiten? Ist "Postmoderne" überhaupt ein geeigneter Begriff, um Erscheinungen zu fassen, die eher eine Radikalisierung, eine Vollendung der Moderne durch den Abbau bislang in sie eingelassener prämoderner Elemente indizieren? Begnügen wir uns aber mit einem kurzen Blick auf die Fundamente, auf die Bauman seinen Fundamentalismus gründet.

Moral, das war in der Geschichte des Abendlands lange ein tragfähiger Grund, sei es in Gestalt der akzeptierten und durch Tradition vermittelten festen Verhaltensmuster einer Gesellschaft (mos maiorum), sei es in Gestalt der Gesetze und Sitten des Staates (Hegel) oder wenigstens des Gewissens als des Repräsentanten Gottes in der einzelnen Seele (Kant). Alle diese Versuche, Moral inhaltlich zu bestimmen, sie in einem kohärenten ethischen Code zu verankern, werden von Bauman pauschal verworfen, aus einem Affekt gegen Kohärenz und logisches Denken überhaupt, wie man ihn ähnlich, natürlich mit je anderen Konnotationen, bei Ludwig Klages oder Adorno finden kann.

Darüber hinaus wird Moral auch zur Gesellschaft in einen radikalen Gegensatz gebracht. Sie wird als "erste Wirklichkeit des Selbst" vorgestellt, die sich vor aller gesellschaftlichen Vermittlung, allein in der Interaktion eines Ich mit einem Du bilden soll, als "Begegnung mit dem Anderen als Antlitz", wie es in Anlehnung an Lévinas heißt. Die Primärszene der Moral sei der "Bereich des Von-Antlitz-zu-Antlitz, der intimen Gesellschaft, der moralischen Partei". Erst mit dem Auftreten des Dritten entstehe eine wirkliche Gesellschaft, für deren Strukturierung der moralische Impuls nicht mehr ausreiche.

Es bedarf keiner großen Anstrengungen, um in dieser moralischen Zweier-Partei mit ausgeschlossenem Dritten die präödipale Mutter-Kind-Dyade zu erkennen. Und da das Kind, nach allem, was wir aus der Entwicklungspsychologie wissen, in seinen ersten Jahren zutiefst egozentrisch, also: unfähig zur Erfahrung des Anderen ist, kann der Angelpunkt, von dem aus Bauman sein moralisches Grundverhältnis deduziert, nur die Mutter sein. Tatsächlich lesen sich seine Bestimmungen dieses Verhältnisses wie aus einem Leitfaden für junge Mütter entnommen. Die moralische Handlung stifte über Selbstopferung die Zusammengehörigkeit einer moralischen Partei; sie bedeute, das Leben des Anderen in die Obhut zu nehmen; sei "ein Zustand permanenter Aufmerksamkeit, komme, was wolle"; ein ständiges "Warten auf den Anderen, daß er sein Recht zu befehlen ausübe".

Und wie in einem Lebenshilfebuch fehlt es nicht an pädagogischem Frustrationstraining und antizipatorischen Tröstungen. Das Zur-Verfügung-Stehen sei eine "entmutigende Aufgabe", die das Selbst "bis an die Grenzen der Belastbarkeit" strapaziere. Doch wer hier durchhalte, dem winke höchster Lohn. Wenn die Moral, "um im nichtheroischen, weltlichen Leben wirksam zu sein, aus dem heroischen Format der Heiligen zugeschnitten werden muß", dann kann, wer ihre Prüfungen besteht, nur in die Gemeinschaft der Heiligen gehören.

Nichts gegen eine Mutter-Moral. Da es eine Moral für Manager und eine für Autofahrer gibt, mag es auch eine für Mütter geben. Problematisch wird es jedoch, wenn diese als Leitmoral gelten und gegenüber allen anderen Moralen Vorrang beanspruchen soll. Und nicht nur gegenüber allen anderen Moralen, sondern auch gegenüber den kognitiven und ästhetischen Strukturierungen des Sozialraums. Unerfindlich, wie Bauman sich dies vorstellt. Wie soll eine per definitionem als vorgesellschaftlich und obendrein noch als hochambivalent konzipierte Ich-Du-Moral, diese "Reinform der Naivität", soziale Räume von so ungeheurer Komplexität strukturieren, wie sie in heutigen Großgesellschaften gegeben sind? Wie soll sie, die auf face-to-face-Beziehungen basiert, dem generalisierten Anderen gerecht werden, ohne zur Ethik zu werden, ohne Verallgemeinerungen vorzunehmen?

Das alles ist so wenig durchdacht, daß der Titel "Postmoderne Ethik" hochstaplerisch erscheint. Weit eher dürften wir es mit einem Phänomen zu tun haben, das den Analytikern des Posthistoire spätestens seit Gehlen vertraut ist: mit dem Aufstieg eines elargierten Familienethos und seiner Übersteigerung zur Moralhypertrophie, deren Tyrannei nur die Kehrseite eines "beispiellosen Verfalls der Sitten" (Gehlen) ist - oder, mit Bauman ausgedrückt: der Erosion des kognitiven Raums durch den ästhetischen. Die "postmoderne Ethik" wäre so gesehen ein Teil der Krankheit, deren Heilmittel sie sein möchte. STEFAN BREUER

Zygmunt Bauman: "Postmoderne Ethik". Aus dem Englischen von Ulrich Bielefeldt und Edith Boxberger. Hamburger Edition, Hamburg 1995. 381 S., geb., 58,- DM.

Zygmunt Bauman: "Ansichten der Postmoderne". Aus dem Englischen von Nora Räthzel. Argument-Verlag, Hamburg/Berlin 1995. 269 S., br., 29,- DM.

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