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Er war der erste, dem Immanuel Kant von seinem Plan erzählte, die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft zu beschreiben. Marcus Herz, der Vertraute und Freund, gehört zur Entstehungsgeschichte der Vernunftkritik wie kein Zweiter. Er sorgte nicht nur maßgeblich für die Verbreitung der kritischen Philosophie in Berlin, sondern erkannte auch die Konsequenzen der Erkenntnistheorie für alle Wissenschaften und insbesondere für seine eigene Zunft: die Medizin. Herz, der das fortschrittlichste Krankenhaus seiner Zeit leitete, forderte eine »vollständigere Vernunftgemäßheit des Heilsgeschäfts«, mit…mehr

Produktbeschreibung
Er war der erste, dem Immanuel Kant von seinem Plan erzählte, die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft zu beschreiben. Marcus Herz, der Vertraute und Freund, gehört zur Entstehungsgeschichte der Vernunftkritik wie kein Zweiter. Er sorgte nicht nur maßgeblich für die Verbreitung der kritischen Philosophie in Berlin, sondern erkannte auch die Konsequenzen der Erkenntnistheorie für alle Wissenschaften und insbesondere für seine eigene Zunft: die Medizin. Herz, der das fortschrittlichste Krankenhaus seiner Zeit leitete, forderte eine »vollständigere Vernunftgemäßheit des Heilsgeschäfts«, mit anderen Worten, eine erweiterte Perspektive auf den menschlichen Körper. Mit seinem »Versuch über den Schwindel« sucht Marcus Herz nicht weniger als die Grundlage für eine wissenschaftliche Beschreibung des wechselseitigen Verhältnisses von Geist und Körper. Der Ansatz ist ebenso originell wie modern: Wer mehr über die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft wissen will, kann auch dorthin schauen, wo uns das Denken schwindeln macht. Nicht allein die Dialektik der Vernunft, auch die Krankheit ist ein Prüfstein jeder Erkenntnistheorie. Nur wer ein psychologisch-neurophysiologisches Phänomen wie den Schwindel beschreiben kann, hat auch klare Begriffe des menschlichen Geistes. Kant nannte seinen Freund genau darum respektvoll einen »Experimentalphilosophen«. Diese Edition ist die erste historisch-kritische Ausgabe der Schrift. Sie folgt der grundlegend überarbeiteten zweiten Auflage von 1791 und bietet neben einer kommentierenden Einleitung und Erläuterungen auch Material zur Geschichte des Textes, der parallel zu Kants »Kritik der Urteilskraft« entstand. Erstmals erfolgt der Abdruck zusammen mit der Ergänzung von 1797.
Autorenporträt
Marcus Herz (1747-1803) kam aus einfachen Verhältnissen. Als Jude stand ihm nur das Studium der Medizin offen. Er war der Verteidiger von Kants Dissertation in Königsberg und fand nach seinem Studienabschluss in Halle eine Anstellung am Jüdischen Krankenhaus in Berlin, das er später übernahm und um die erste praktische Ausbildungsstätte für Ärzte und Pflegepersonal erweiterte. Er hielt Vorlesungen über nahezu alle modernen Wissensgebiete und erhielt als erster Jude in Preußen eine Professur für Philosophie. Seine Mittwochsgesellschaft war neben dem literarischen Salon seiner Frau Henriette einer der begehrtesten Treffpunkte für Politiker und Intellektuelle. 1771 erschienen die "Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit", eine in Briefform abgefasste Paraphrase auf Kants Dissertation "De mundi sensibilis". Da die Dissertation Kants selbst schwer zugänglich war, erlangen die Betrachtungen großen Einfluss auf die zeitgenössische Kantrezeption. Die Aufnahme in die Königlich Preu

ßische Akademie der Wissenschaften bleibt dem erfolgreichen Arzt und Philosophen genauso verwehrt wie Mendelssohn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2019

Der Seele empfindlicher Rhythmus
Bevor die Experimentalisierung des Menschen begann: Marcus Herz' "Versuch über den Schwindel"

Anfang 1786 schickte Marcus Herz seinen frisch erschienenen "Versuch über den Schwindel" an seinen ehemaligen Lehrer Immanuel Kant nach Königsberg. Im Begleitbrief schrieb er vom Umherwandeln in den Grenzörtern der Philosophie und der Medizin und davon, Vorschläge und Einrichtungen zu Gemeinregierungen zu entwerfen. Solche Gemeinregierungen gehörten zum Programm einer im späten achtzehnten Jahrhundert aufkommenden medizinischen Anthropologie, deren Gegenstand das Seelenleben des Menschen darstellte, das damals noch in den Bereich der Philosophie fiel, während die Vorgehensweise empirisch war und sich an den Beobachtungspraktiken der Naturforschung orientierte. Damit wurde der ganze Mensch in seiner unauflöslichen Verbindung aus Körper und Geist zum Gegenstand der Betrachtung, und insbesondere die pathologischen Abweichungen sollten Aufschluss über die Natur des Menschen geben. Deswegen galt Medizin nicht nur als Heilkunde, sondern eben auch als Anthropologie.

Der Schwindel gehörte zu den Phänomenen, von denen zumindest so viel klar war, dass sie im Grenzbereich von Körper und Seele lokalisiert waren. Mit seiner Abhandlung zielte Herz nicht nur auf Beschreibung und Klassifikation dieser Phänomene, er schlug auch eine kühne Theorie vor, die den Schwindel als Krankheit der Seele betrachtete, egal, ob die Ursachen körperlich oder seelisch waren. Hintergrund dafür war eine sensualistisch inspirierte Theorie des Seelenlebens. Danach besteht das Grundvermögen der Seele darin, Vorstellungen zu haben, die einem ganz bestimmten Rhythmus folgen. Klar und deutlich können diese Vorstellungen nur sein, wenn sie in einem angemessenen zeitlichen Abstand aufeinanderfolgen.

Man könnte auch sagen, dass der innere Film die richtige Geschwindigkeit haben muss. Sind die aufeinanderfolgenden Vorstellungen zu schnell, entsteht Schwindel: Die Seele ist gezwungen, ihre Aufmerksamkeit auf die immer schneller ankommenden Vorstellungen zu richten, bis diese sich dann irgendwann wie bei einer Massenkarambolage ineinander verkeilen. Dieser chaotische Zustand wird als Verlust des Gleichgewichts empfunden.

Für seine Theorie des Schwindels stützte Herz sich neben der Philosophie auf die Beobachtung der Symptome von Kranken und auf die Selbstbeobachtung, wie sie seinerzeit im Berliner Kreis um ihn selbst und Karl Philipp Moritz betrieben wurde. Im von Moritz herausgegebenen "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" lieferten Schriftsteller und Ärzte Materialien für eine neue Psychologie, die zugleich Ausdruck eines männlich geprägten, bürgerlichen Selbsterfahrungsdiskurses war, mit dem der anderen Seite der Vernunft, den Gefühlen, Trieben und Leidenschaften, Rechnung getragen wurde.

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Herz sich von seinem alten Königsberger Lehrmeister Zuspruch erwartete. Aber es kam anders. Kant bedankte sich zwar für die Zusendung des Buches, fügte dann aber hinzu, dass er noch keine Zeit gefunden habe, das Buch ganz zu lesen. Damit brachte er kaum verklausuliert sein Unbehagen gegen die Erfahrungsseelenkunde und deren These vom Zusammenhang von Geist und Körper zum Ausdruck. Bereits 1773 hatte er in einem Brief an niemand anderen als Herz Zweifel an der neuen philosophischen Medizin geäußert und geargwöhnt, dass die Art der Verbindung zwischen Körper und Gedanken niemals aufgedeckt werden könnte.

Insbesondere auf die Selbstbeobachtung hatte Kant es abgesehen. In seinem eigenen Entwurf zur Anthropologie bemerkte er mit ätzender Schärfe, dass die allzu genaue Beobachtung seiner selbst leicht zum Wahnsinn führe, wenn sie nicht bereits Ausdruck einer geistigen Erkrankung sei. Wer zu tief in die eigenen Abgründe blickt, betreibt keine Diagnostik, sondern zeigt Symptome.

Für Herz musste diese Zurückweisung schmerzhaft sein, da er sich von der unumschränkten Autorität der Philosophie Beistand für sein Projekt erhoffte. Was Herz nicht begriff und auch nicht begreifen konnte, war, dass sich in Kants Ablehnung der Selbstbeobachtung der Keim einer methodischen Transformation ankündigte, die für die weitere Entwicklung der Psychophysiologie konstitutiv werden sollte.

Nach Kant beruhte die Möglichkeit der Erfahrung darauf, die zu betrachtenden Dinge im Geist festzuhalten, damit man Zeit hat, sie in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Genau das ist beim Beobachten von Gedanken und Vorstellungen, die ungerufen und ungeordnet ins Bewusstsein fließen, nicht möglich. Damit wird die von den Erfahrungsseelenkundlern angenommene Authentizität der Selbsterfahrung grundsätzlich in Zweifel gezogen, weil die Ordnung des Denkens der Unordnung frei heranflutender Gedanken, Vorstellungen, Träume und Phantasien oder eben dem Schwindel stets hinterherhinkt und diesen Abstand nicht einholen kann.

Für Kant müssten die Wahrnehmungen zu einem Ganzen der Erfahrung verbunden werden, damit von einer empirischen Erkenntnis als Wissenschaft die Rede sein kann. Wie das vonstattengehen könnte, hat der greise Kant nicht mehr ausgearbeitet, wohl aber gab er in den Notizen des "Opus postumum" pointillistisch die Richtung vor: "Nicht Observieren sondern Experimentieren ist das Mittel, die Natur und ihre Kräfte aufzudecken."

Noch zu Lebzeiten von Kant und Herz machten sich romantisch inspirierte Naturforscher wie Alexander von Humboldt oder Johann Wilhelm Ritter an neurophysiologische Selbstexperimente, mit denen sie die elektrische Natur ihrer eigenen Körper erforschten. Im Gegensatz zur Selbstbeobachtung, die sich den Phänomenen überließ, wurde der Körper im Selbstexperiment durch gezielte Manipulation zum Sprechen gebracht. Genau darin bestand der Königsweg zur weiteren Erforschung des Schwindels, der vor allem mit den Experimenten des böhmischen Physiologen Jan Evangelista Purkyne zu einem völlig anderen Phänomen wurde als bei Herz. Obwohl auch Purkyne mit dem Begriff der Grenzregion zwischen körperlichen und seelischen Phänomenen operierte, war das für ihn ausschließlich eine klassifikatorische Differenzierung. Schwindel wurde damit zum psychophysischen Phänomen, das ausschließlich auf materielle Prozesse im Gehirn zurückzuführen war.

Sowohl die von Herz vertretene Theorie des Schwindels als seelisches Phänomen als auch seine Methode der Selbstbeobachtung waren nach wenigen Jahrzehnten überholt. Das ändert jedoch nichts daran, dass dieses Buch ein faszinierendes Dokument einer Übergangszeit darstellt, in der sich die Cerebralisierung und die Experimentalisierung des Menschen als zwei Grundpfeiler der modernen Humanwissenschaften herauskristallisieren sollten.

Es ist eine schöne Geste, dass der eigentlich nur noch von Spezialisten konsultierte Versuch des jüdischen Arztes und Philosophen nun neu aufgelegt wurde. Der ausführlichen Einleitung von Bettina Stangneth mangelt es weder an einfühlsamer biographischer Annäherung an Herz noch an kundiger Einführung in die politischen, philosophischen und kulturellen Kontexte, in denen er arbeitete.

Was fehlt, ist eine orientierende wissenschaftshistorische Einbettung des Werks in die medizinische Anthropologie der Spätaufklärung. Andererseits ist der Herausgeberin darin beizupflichten, dass die weitere Entwicklung der empirisch vorgehenden Humanwissenschaften philosophische Fragen bezüglich der Rhythmik des Denkens und der Vorstellungen, die für Herz zentral waren, verschüttet hat. Dazu wiederum würde man von der Autorin Bettina Stangneth gern mehr lesen.

MICHAEL HAGNER.

Marcus Herz: "Versuch über den Schwindel". Hrsg. v. Bettina Stangneth. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019. 294 S., br., 26,90 [Euro].

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