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Die "Neue Friedrichsruher Ausgabe" setzt Marksteine für die künftige Bismarck-Forschung, wie bereits die Reaktionen auf den 2004 erschienenen Band 1 (1871-1873) der Schriften der Reichskanzlerzeit bezeugten. Band 2 enthält wiederum zahlreiche erstmals veröffentlichte Schriftstücke - mehr als drei Viertel der insgesamt 466 Dokumente blieben bislang unpubliziert. Sie erlauben es, ein erheblich differenzierteres Bild von Bismarcks Politik in den Jahren 1874-1876 zu zeichnen.
Die Dokumente zeigen die enge Verschränkung von Innen- und Außenpolitik in Bismarcks alltäglicher Arbeit als
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Produktbeschreibung
Die "Neue Friedrichsruher Ausgabe" setzt Marksteine für die künftige Bismarck-Forschung, wie bereits die Reaktionen auf den 2004 erschienenen Band 1 (1871-1873) der Schriften der Reichskanzlerzeit bezeugten. Band 2 enthält wiederum zahlreiche erstmals veröffentlichte Schriftstücke - mehr als drei Viertel der insgesamt 466 Dokumente blieben bislang unpubliziert. Sie erlauben es, ein erheblich differenzierteres Bild von Bismarcks Politik in den Jahren 1874-1876 zu zeichnen.

Die Dokumente zeigen die enge Verschränkung von Innen- und Außenpolitik in Bismarcks alltäglicher Arbeit als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister. Das zentrale innenpolitische Thema jener Jahre, der Kulturkampf, motivierte zahlreiche außenpolitische Initiativen, die Bismarck als Argument für die Durchsetzung innenpolitischer Projekte, etwa für die Verschärfung des Strafgesetzbuches, benutzte. Mit Blick auf den Kulturkampf zeigt sich, daß Bismarck selbst - auch unter dem Eindruck geplanter und ausgeführter Attentate gegen seine Person - wiederholt schärfere Maßnahmen gegen die Katholiken - Amtskirche wie Laien - anregte.

Für das Feld der Außenpolitik unterstreichen die Quellen die Schlüsselbedeutung des Jahres 1875. Die hier erstmals vollständig in ihrem chronologischen und sachlichen Zusammenhang veröffentlichten Dokumente zur "Krieg-in-Sicht-Krise" zeigen, daß es Bismarck nicht um die Entfesselung eines heißen Krieges ging, wohl aber darum, die Vormachtstellung mit Rußland zu teilen. Das Scheitern dieser Absichten belehrte Bismarck nachhaltig, daß jeder Versuch, die Machtstellung des Reiches weiter auszubauen, scheitern mußte. Diese Erkenntnis leitete sein Handeln in der beginnenden Orientkrise: er nutzte entschlossen die Spannungen zwischen anderen europäischen Mächten, um dem Deutschen Reich im Windschatten dieser Situation eine komfortable Position zu sichern.

Stimmen zu Band 1:

"Ein ehrgeiziges Projekt, das hohe Ansprüche an Arbeitskraft und Durchhaltevermögen stellt... Der erste, von Andrea Hopp mustergültig bearbeitete Band zeigt bereits, wie sinnvoll diese Anstrengung ist und welche Impulse davon nicht nur auf die Bismarck-Forschung, sondern auf die Geschichtsschreibung über das 19.Jahrhundert insgesamt ausgehen werden." Die ZEIT

"Eine mustergültige Edition... Umfangreiche Hinweise zur Praxis der Edition, ein einführender Essay der Bearbeiterin, eine Übersicht über die chronologisch abfolgenden Dokumente mit einer Kurzbeschreibung des jeweiligen Inhalts, eine Liste der ausgewerteten Quellensammlungen sowie ein Verzeichnis der in den Quellen genannten Personen setzen höchste Maßstäbe in der Editionstechnik und ermöglichen dem Benutzer eine präzise Orientierung. Die Dokumente bieten ein einzigartig dichtes Panorama des politischen Tagesgeschäfts der ersten 34 Monate nach der Reichsgründung." FAZ

Der Bearbeiter:

Rainer Bendick, Dr. phil., geb. 1961, Promotion 1997, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung.
Autorenporträt
Rainer Bendick studierte Geschichte und Französisch in Freiburg, Berlin und Rennes. Die Studie verfasste er als Stipendiat des Graduiertenkollegs des Frankreichs-Zentrums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004

Albträume des Reichsgründers
Otto von Bismarcks Werke in der Neuen Friedrichsruher Ausgabe / Von Rainer F. Schmidt

Am 20. März 1890 entließ der einunddreißigjährige Kaiser den bald fünfundsiebzigjährigen Reichskanzler aus allen Ämtern. Wilhelm II. erhob Otto von Bismarck zum Herzog von Lauenburg, beförderte ihn zum Generalobersten der Kavallerie im Range eines Generalfeldmarschalls und ließ ihm sogar ein lebensgroßes Bildnis seiner selbst zugehen. Mit dem Kanzler gingen aus dem Keller der Reichskanzlei dreizehntausend Weinflaschen, all die ungezählten Geschenke von Staatsmännern sowie mehrere Kisten geheimer Akten, die einer seiner Mitarbeiter bei Nacht fortschaffte. Nach einem "Leichenbegängnis erster Klasse", wie er die widerwillig hingenommenen Ehrungen zum Abschied aus dem Amt bitter kommentierte, verließ Bismarck am 29. März vom Lehrter Bahnhof aus Berlin im Salonwagen in Richtung Friedrichsruh. Mit Tränen in den Augen nahm er die Ovationen der versammelten Menge entgegen, die das Deutschlandlied und die "Wacht am Rhein" intonierte.

Fast auf den Tag genau fünfundvierzig Jahre später - unmittelbar vor dem einhundertzwanzigsten Geburtstag Bismarcks - erschien Ende März 1935 der letzte Band der "Friedrichsruher Ausgabe". Sie hatte im Sommer des Krisenjahres 1923 ihren Anfang genommen, als die Hohenzollerndynastie längst gestürzt war und die durch den verlorenen Weltkrieg und den Versailler Vertrag lädierte Schöpfung des Kanzlers - inmitten von Ruhrkampf, Hyperinflation und separatistischen Aufständen - in ihren Grundfesten ächzte und zitterte. Dementsprechend gestaltete sich das Anliegen des 18 Bände umfassenden Werkes mit dem Titel: "Bismarck. Die gesammelten Werke". Es sollte in den Niederungen der Gegenwart eine "Mahnung zu nationaler Selbstbesinnung" sein und an die ruhmreiche Zeit der Vergangenheit erinnern, die sich in Person und Wirken des Reichsgründers verdichtete. "Keine schönere Ablenkung in der trüben Gegenwart konnte mir werden", so schrieb der Herausgeber des ersten Bandes, "als die Beschäftigung mit diesen Anfängen politischer Wirksamkeit unseres großen Staatsmannes." Und der Bearbeiter des letzten Bandes zog, ganz der Kontinuitätsthese der Nationalsozialisten folgend, nur wenige Tage nach dem Paukenschlag der "Wiedererrichtung der Wehrhoheit" vom 15. März 1935 ein entlarvend-prognostisches Fazit: "Unter einer festen Staatsführung schreitet die Nation neuen politischen Zielen zu, weit schon über Bismarck hinaus."

Die "Neue Friedrichsruher Ausgabe", deren erster Band nun vorliegt, ist frei von solchen politischen Motivlagen, obschon es kein Zufall ist, daß man Bismarck und sein Werk nach der Vereinigung von 1990 wiederentdeckt. Anders als die alte Ausgabe, die sich in die Abteilungen "Politische Schriften", "Gespräche", "Reden" und "Briefe" gliederte, was die Ereignisfolge und deren Dokumentation auseinanderriß, hebt die "Neue Friedrichsruher Ausgabe" diese Trennung auf und folgt dem strikten Prinzip der Chronologie in Sammlung und Anordnung der politischen und privaten Schriften des Kanzlers. Und anders als das Vorgängerwerk konzentriert sie sich auf die Dokumente aus der Reichskanzlerschaft Bismarcks zwischen 1871 und 1890. Diese Periode hatte in der alten "Friedrichsruher Ausgabe" ein Schattendasein gefristet. Von den dreieinhalbtausend Seiten der Abteilung "Politische Schriften" in insgesamt acht Bänden waren nur 449 Seiten der Kaiserzeit gewidmet, noch dazu gänzlich beschränkt auf die Innenpolitik, oft willkürlich ausgewählt und - wie es bedauernd hieß - nur "das Hochgebirge Bismarck" zeigend.

Der erste Band der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" aus der Abteilung "Schriften" dokumentiert die Frühphase des Kaiserreiches vom Abschluß des Präliminarfriedens mit Frankreich am 26. Februar 1871 bis zum Silvestertag des Jahres 1873. Er ist der Auftakt für eine zunächst auf acht Bände angelegte Edition, die bis zu seiner Entlassung alle politisch relevanten Schreiben, Erlasse, Voten und Diktate Bismarcks erfassen will. Ihnen sollen nach Planung der Herausgeber eine Neuausgabe der Dokumente aus den Jahren vor der Reichsgründung sowie die parallelen Abteilungen "Gespräche" und "Reden" folgen.

Mehr als die Hälfte der in diesem Band versammelten 506 Dokumente kann den Anspruch erheben, zum ersten Mal publiziert worden zu sein. In mehrjähriger Arbeit wurden sie in einer systematischen Recherche aus diversen deutschen und amerikanischen Archiven zusammengetragen. Ergänzt durch die Bestände des Friedrichsruher Archivs sowie durch die einschlägigen Quellen aus den bekannten Aktenpublikationen, wurden sie zu einer mustergültigen Edition verschmolzen. Umfangreiche Hinweise zur Praxis der Edition, ein einführender Essay der Bearbeiterin, eine Übersicht über die chronologisch abfolgenden Dokumente mit einer Kurzbeschreibung des jeweiligen Inhalts, eine Liste der ausgewerteten Quellensammlungen sowie ein Verzeichnis der in den Quellen genannten Personen setzen höchste Maßstäbe in der Editionstechnik und ermöglichen dem Benutzer eine präzise Orientierung.

Die Dokumente bieten ein einzigartig dichtes Panorama des politischen Tagesgeschäfts der ersten 34 Monate nach der Reichsgründung. Und sie zeigen, daß Bismarcks gesamte Politik ab 1871 auf zwei zentralen Prämissen ruhte: dem "cauchemar des révolutions" im Innern sowie dem "cauchemar des coalitions" nach außen. Der "Albtraum der Koalitionen", der die Außenpolitik des Deutschen Reiches bis 1945 überschattete, ruhte auf der unwandelbaren geostrategischen Mittellage. Er zog sich in dem Diktum zusammen, "daß wir" - wie ein Mitarbeiter des Kanzlers festhielt - "tatsächlich durch Frankreich immobilisiert" sind. Daraus ergaben sich die Hypotheken der Reichsgründung, die dem neuen machtstarrenden Gebilde durch die Umstände seiner kriegerischen Geburt als Morgengabe des Schicksals in die Wiege gelegt worden waren: der von dem besiegten, gedemütigten und amputierten Frankreich ständig ausgehende Revanchedruck und die stete Erpreßbarkeit des Reiches durch Wien und St. Petersburg, wenn sie Miene machten, sich mit Paris zu verbünden. "Man kann nicht Schach spielen, wenn einem 16 Felder von 64 von Hause aus verboten sind", so hatte Bismarck einst doziert. Seit 1871 war genau diese Situation eingetreten, und sie führte Bismarcks noch im Juni 1872 geäußerte optimistische Erwartung ad absurdum, daß "Europa stets in 10 bis 15 Minuten beim ersten Frühstück abgemacht, gekämmt und gebürstet" werden könne.

Die Quellen belegen, wie gewaltig das Trauma der gefürchteten Umfassungskoalition auf Bismarck lastete und wie er ihm in einem "System von Aushilfen" zu begegnen suchte. Ein erster Schritt war die Erneuerung des Bündnisses der drei schwarzen Adler. Durch die ideologisch untermauerte Allianz der Kaiserhöfe in Berlin, Wien und St. Petersburg sollten die "Rothäute in Lackstiefeln" - wie Bismarck die republikanischen Politiker in Paris verächtlich titulierte - isoliert werden. Aber dies blieb eine stumpfe Waffe. Weder Andrássy noch Gortschakow waren willens, die französische Karte aus dem Spiel zu nehmen. Mit den unverbindlichen Absichtserklärungen des "Dreikaiserbundes" von 1873 ließ sich keine Sicherheit gewinnen. Im erfinderischen Geist des Kanzlers reiften daher andere Planspiele, um dem Koalitionsdruck zu entgehen: die Politik des Säbelrasselns und der Kriegsdrohung gegen Frankreich und Österreich; die Perspektive eines Bündnisses "durch dick und dünn" mit der Zarenmacht, um dafür eine Garantie der deutschen Kriegsbeute einzuhandeln; die Strategie einer Ablenkung der Spannungen an die Peripherie Europas und die Abfindung der potentiellen Gegner mit Territorialobjekten; und schließlich, seit dem Ausgang der siebziger Jahre, das virtuose Spiel mit den fünf Bällen der Pentarchie: das berühmte Bündnissystem. Es sollte ein festes Blockdenken verhindern und jene Bündnisfälle, die es konstruierte, gar nicht erst eintreten lassen. Oder, wie Bismarck selbst so einprägsam formulierte: "Wir müssen so situiert sein, daß ein Schwert das andere in der Scheide hält." Das war seine an den Erfahrungen der Anfangsjahre geschärfte Methode, die Existenz des Reiches zu sichern. Ihre Berechtigung kann, zieht man die weitere Entwicklung in Betracht, gar nicht hoch genug veranschlagt werden.

Dem "Albtraum der Koalitionen" entsprach auf dem Feld der Innenpolitik seit 1871 der "Albtraum der Revolution". Die Quellen machen deutlich, daß alles Sinnen und Trachten des Kanzlers vom Menetekel des revolutionären Umsturzes bestimmt war, daß die Beschwörungsformel von der drohenden Subversion des Verfassungsbaus zum rituellen Elixier jedweder Politik wurde. "Ich bin Royalist in erster Linie, dann ein Preuße und ein Deutscher. Ich will meinen König, das Königtum verteidigen gegen die Revolution, die offene und die schleichende." In diesem Bekenntnis zog sich das Leitbild allen innenpolitischen Handelns zusammen. Es führte inmitten einer sich wandelnden Welt, als die Bevölkerung sprunghaft anstieg, als Lebensansprüche, Mobilität, Bildungsgrad und politisches Partizipationsverlangen zunahmen und als neue Massen- und Klassenparteien im industriellen Deutschland ins Leben traten, geradewegs in den latenten Bürgerkrieg.

Die von Bismarck in der Verfassung verankerte Scheidung zwischen den durch die Krone definierten Interessen des Staates und den zerklüfteten Klasseninteressen der Gesellschaft, jener Kunstgriff, die Nation an den Staat heranzuführen, sie aber gleichzeitig von der Macht fernzuhalten, ließ sich im Strom der Zeit immer schwerer durchhalten. Der archimedische Punkt des Regierens war fortan nicht nur der, den Kaiser vom richtigen Handeln zu überzeugen. Vielmehr bestand die Kunst des Regierens darin, im Reichstag immer wieder aufs neue Mehrheiten zu finden, ihn da, wo er sich sperrig zeigte, gefügig zu machen, keinesfalls aber von ihm abhängig zu werden.

Die Innenpolitik führte das weiter, was in der Außenpolitik ab 1871 zunehmend in den Hintergrund trat: die Spaltung und Zermürbung der gegnerischen Fronten durch ein unaufhörliches Trommelfeuer und den Kampf mit allen zu Gebote stehenden Waffen gegen die als "reichsfeindlich" titulierten Kräfte, die an den Grundfesten des monarchischen Regiments rüttelten. Das Zentrum, die Polen, die Welfen, Elsässer und Lothringer, selbst die Liberalen, die Bismarck im Reichsgründungsjahrzehnt noch dazu gebracht hatte, ihre Prinzipien auf dem Altar der preußischen Machtpolitik einstweilen zu opfern, vor allem aber die Sozialisten waren von den unblutigen Kriegen betroffen, die Bismarck seit 1871 entfesselte, aber auf Dauer nicht gewinnen konnte.

Die im ersten Band der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" versammelten Dokumente veranschaulichen Kälte und Menschenverachtung, Starrsinn und Egomanie, Einsamkeit und Angst vor der Zukunft. Und sie zeigen, daß Bismarck, je länger, desto mehr, zum Schüler des alten Metternich wurde, daß der ehemalige Deichhauptmann von der Elbe nun einen sich durch ganz Deutschland ziehenden Damm zu errichten trachtete, daß er auf die sich wandelnden Gegebenheiten keine andere Antwort wußte, als sich auf der einmal bezogenen Position einzuigeln und sie auf Biegen oder Brechen zu verteidigen. Die entstehenden großen Volksparteien, die er mit dem als Kampfmittel gegen die Liberalen konzipierten allgemeinen Wahlrecht selbst ins Leben gerufen hatte, blieben ihm immer suspekt. Er war weit davon entfernt zu begreifen, daß der moderne Staat ohne Kompromiß und Ausgleich keinen inneren Frieden, keine Einheit mit sich selbst finden würde, daß Staat und Gesellschaft sich nicht mehr trennen ließen, sondern zunehmend zur Identität verschmolzen.

Otto von Bismarck: "Gesammelte Werke". Neue Friedrichsruher Ausgabe. Herausgegeben von Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb. Abteilung III: 1871-1898. Schriften. Band 1: 1871-1873. Bearbeitet von Andrea Hopp. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004. LXXXII und 637 S., 60,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2005

Auch Makler haben Interessen
Die neue Bismarck-Ausgabe kratzt weiter am Bild des friedliebenden Vermittlers
Das Bismarck-Bild in seinem Wandel sagt uns viel über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte. Die Geschichtsschreibung über den „Urpreußen und Reichsgründer”, wie ihn Ernst Engelberg genannt hat, reflektiert, wie - mittlerweile über ein Jahrhundert hinweg - deutsche Historiker das Deutsche Kaiserreich bewerteten und in die neuere deutsche Geschichte einordneten. Die Großen der Zunft - von Lothar Gall bis Hans-Ulrich Wehler, in Bundesrepublik und DDR -, sie alle haben sich an Bismarck versucht und abgearbeitet. Das große Interesse der Historiker kontrastierte freilich scharf mit einer wissenschaftlichen Standards kaum genügenden Edition der „Gesammelten Werke” des Reichskanzlers, entstanden in den Jahren zwischen 1924 und 1935.
Diese Ausgabe war gedacht, so das Vorwort im ersten Band, als „ein Denkmal, das Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung dem Reichsgründer errichtet”: ein Bismarck-Turm der Geschichtswissenschaft. Der Publikationszweck bestimmte den Inhalt der so genannten „Friedrichsruher Ausgabe”. Erinnert wurde vor allem an den Reichsgründer. Ganz in der Kontinuität kleindeutsch-borussischer Nationalhistoriographie bildete die „Begründung des Deutschen Reiches” den Schwerpunkt. Die Ausgestaltung des jungen Nationalstaats, seine von Bismarck gelenkte und verantwortete Innen- wie Außenpolitik und damit auch die Frage nach dem Zusammenhang von 1871 und 1914/18 blieben demgegenüber deutlich unterbelichtet.
Die Defizite der alten Edition auszugleichen sowie Stand und Interessen der jüngeren Forschung zu berücksichtigen, versucht nunmehr das von der Otto-von-Bismarck-Stiftung betriebene Projekt einer „Neuen Friedrichsruher Ausgabe” (NFA). Bearbeitet und eingeleitet von Rainer Bendick liegt jetzt der 466 Einzeldokumente umfassende zweite Band dieses 2004 begonnenen Mammutunternehmens vor: Bismarcks Schriften aus den Jahren 1874 bis 1876.
Der Kanzler lässt andere zanken
Eindeutig bestimmt wird dieser Band von der Außenpolitik. Das hat zu tun mit der prekären internationalen Lage in diesen Jahren, als es Bismarck um die Stabilisierung der durch die German Revolution grundstürzend veränderten und noch immer labilen Ordnung des europäischen Mächtesystems gehen musste; als in der „Krieg-in-Sicht-Krise” 1875 nicht nur Krieg mit Frankreich zu drohen schien, sondern auch das Misstrauen der europäischen Mächte dem kriegsgeborenen Nationalstaat gegenüber offen zutage trat; und als, kaum war diese Krise beigelegt, die „Orientalische Frage”, der Konflikt um das Erbe des „Kranken Mannes am Bosporus”, zu scharfen Spannungen zwischen den europäischen Mächten führte, denen sich das Deutsche Reich nur mühsam entziehen konnte.
Es war insbesondere die Orientkrise, in der sich, gipfelnd im Berliner Kongress von 1878, der deutsche Reichskanzler zum „ehrlichen Makler” stilisieren konnte, zum Mediator ohne eigene Interessen in der scharfen Auseinandersetzung zwischen Russland, Österreich-Ungarn und England. Dieses Bild hat die Beurteilung Bismarcks als Außenpolitiker lange bestimmt. Es gehört zu einem größeren Bild, in welchem der Reichskanzler als meisterhafter Diplomat und genialischer Schöpfer eines friedenssichernden Bündnissystems, als unübertroffener Virtuose im Jonglieren mit fünf Bällen gezeichnet wird. Jüngere Forschungen zu Bismarcks Außenpolitik und zur Frage der Stabilität des europäischen Mächtesystems nach 1871 haben freilich gezeigt, wie prekär, wie krisenhaft und instabil die internationale Ordnung in den gesamten zwei Jahrzehnten der Kanzlerschaft Bismarcks stets geblieben ist. Sie haben demonstriert, dass es Bismarck gerade nicht vermochte, seine kurzfristigen Stabilisierungserfolge systemisch zu konsolidieren.
Sicher, man wird in Rechnung stellen müssen, dass es gelang - und das ist ja nicht wenig -, den Frieden zu sichern und zumindest einen großen europäischen Krieg zu verhindern. Und man wird auch auf den Stil der Außenpolitik Bismarcks hinweisen müssen, der sich diametral vom protzigen Poltern des Wilhelminismus unterschied. Aber dass hinterher alles schlechter wurde, macht das Vorher noch nicht gut. So erscheint es fragwürdig, in Bismarcks Politik die „ultimative Staatskunst des 19. Jahrhunderts” erkennen zu wollen, wie es Rainer Bendick in seiner ansonsten sachlich-nüchternen Einleitung zu den Dokumenten tut. Über solchen Bewertungen liegt noch der lange Schatten des Alten aus dem Sachsenwald.
Dabei machen doch viele Schriftstücke in diesem Band zunächst klar, in welchem Maße Bismarck insbesondere in seiner Orientpolitik nationale Interessen vertrat, wenn diese auch nicht auf dem Balkan lagen, sondern im Herzen Europas: in dem Ziel, den halbhegemonialen Großmachtstatus des Deutschen Reiches zu sichern und den französischen Erzfeind isoliert zu halten. Wer einem Makler Interesselosigkeit unterstellt, hat ein naives Bild von diesem Berufsstand. Während der Kanzler im Dezember 1876 vor dem Reichstag zitierfähig erklärte, er sehe in der Orientalischen Frage kein Interesse, welches auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre, hatte er in internen Äußerungen längst herausgearbeitet, dass es für Deutschland nur von Vorteil wäre, „wenn Constantinopel ein Zankapfel anderer Mächte” werden sollte. Denn das würde diese Mächte von Koalitionen gegen Deutschland, die Frankreich stets zu schmieden trachte, abhalten.
Genau diese Überlegung bildete später den Kern von Bismarcks berühmtem „Kissinger Diktat” von 1877: der politische Nutzen von Spannungen zwischen den europäischen Mächten an der europäischen Peripherie. Die Genese des „Kissinger Diktats” in der außenpolitischen Entwicklung seit 1875 läßt sich in diesem Band präzise nachvollziehen. Der Schritt von der Nutzbarmachung existierender Spannungen hin zu einer Politik, die solche Machtkonflikte - auch unter Inkaufnahme des Risikos eines „kleinen Krieges” - bewusst schürte, um von ihnen profitieren zu können, war dann nicht mehr groß. Bismarcks politische Linie, wie er sie im unmittelbaren Vorfeld des Berliner Kongresses äußerte, dass es nämlich mehr darauf ankomme, bemüht zu erscheinen, den Frieden im Orient zu sichern, als ihn wirklich zu erhalten, ist die Konsequenz seiner internationalen Lagebeurteilungen im Lichte deutscher Interessen seit 1875. Wieviel Zynismus ist nötig, um in solchen Überlegungen ein „transhistorisches Vorbild erfolgreicher Politik”, wie es in der Einleitung heißt, zu erkennen?
Schiebt’s nicht auf den Kaiser
Gerade die zur Orientkrise abgedruckten Dokumente gewähren überdies weit jenseits der Sphäre der Außenpolitik tiefe Einblicke in das politische Selbstverständnis Bismarcks, in sein Verhältnis zu Wilhelm I. und die Art und Weise, in der er nicht zuletzt mit kaum verbrämten Rücktrittsdrohungen seine politischen Vorstellungen durchsetzte. Und wir werden auch aufs Neue und gleichsam aus der Feder des Kanzlers selbst darüber belehrt, wie er die politische Klaviatur seiner Zeit zu spielen verstand, wie er das Parlament gegen den Monarchen einzusetzen und auszuspielen verstand und wie er - auch im Innen- und Verfassungspolitischen - Konflikte, beispielsweise zwischen Reichstag und Kaiser, sehenden Auges herbeiführte, um dann als Vermittler auftreten zu können.
Das alles ist zwar schon in mancher Darstellung thesenhaft nachzulesen, wird jetzt aber durch den Abdruck der Quellen klar nachvollziehbar. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man innen- wie außenpolitisch den permanenten Versuch Bismarcks, aus der Vermittlung in selbst erzeugten oder verschärften Konflikten Kapital zu schlagen, als Strukturprinzip seines politischen Handelns versteht. Macht man sich diese Sichtweise zu eigen, dann ist, jenseits der zeitlichen Grenzen dieses Dokumentenbandes, das Scheitern von Bismarcks Politik nach 1888 auch aus dieser Politik selbst heraus zu begründen - und nicht nur aus dem Konflikt mit Person und Politik Wilhelms II. Auch darum dürfte in der glorifizierenden alten Friedrichsruher Ausgabe der Zwischenkriegszeit der Kanzler Bismarck kaum zu Wort gekommen sein. Nicht zuletzt in dieser Perspektive rechtfertigt sich die ambitionierte Neuausgabe, deren Profil sich mit dem zweiten Band weiter geschärft hat.
ECKART CONZE
OTTO VON BISMARCK: Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe (NFA). Abteilung III: 1871-1898, Schriften, Bd. 2: 1874-1876. Berarbeitet von Rainer Bendick. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005. 709 Seiten, 66 Euro (bei Subskription 57 Euro).
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Ära Bismarck zwischen 1871 und 1890 gilt bis heute als eine Zeit des Friedens, des Ausgleichs und der Saturiertheit, meint Rezensent Rainer F. Schmidt. Ein Blick in den zweiten Band der Neuen Friedrichsruher Ausgabe der Gesammelten Werke Bismarcks (1874-1876) aber belehrt Schmidt zufolge eines besseren. Seiner ausführlichen Darstellung nach belegen die 466 darin versammelten Dokumente, dass diese Sicht der Dinge nicht mit der tatsächlichen Politik der siebziger Jahre übereinstimmt. So sieht Schmidt in Bismarcks mit Russland eingegangenem Bündnis zur Zähmung des revanchebereiten Frankreichs nicht gerade einen Musterbeispiel defensiver Status-quo-Sicherung. Zahlreiche wichtige politische Schriftstücke Bismarcks und seiner engsten Mitarbeiter zeigten auf, wie rigide Bismark in den 1874 bis 1876 seine Politik betrieb. Ein großes Lob spricht der Rezensent der "vorzüglichen und instruktiven Einleitung" aus.

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