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Ahrens untersucht den Einfluß der Diskussion um die Biowissen-schaften auf die kulturelle Defini-tion des Menschen. Unter Rückgriff auf Unterlagen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zum Thema Biowissenschaften arbeitet er zunächst die kultursemioti-schen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Diskussion heraus. So kann er schließlich eine Analyse der bioethischen und biopolitischen Debatte selbst vorlegen, die bis an die Grenze dessen reicht, was bisher "anthropologische Differenz" hieß. War es bislang üblich, die Biowissenschaften und ihre Prak-tiken zu befragen, geraten…mehr

Produktbeschreibung
Ahrens untersucht den Einfluß der Diskussion um die Biowissen-schaften auf die kulturelle Defini-tion des Menschen. Unter Rückgriff auf Unterlagen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zum Thema Biowissenschaften arbeitet er zunächst die kultursemioti-schen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Diskussion heraus. So kann er schließlich eine Analyse der bioethischen und biopolitischen Debatte selbst vorlegen, die bis an die Grenze dessen reicht, was bisher "anthropologische Differenz" hieß. War es bislang üblich, die Biowissenschaften und ihre Prak-tiken zu befragen, geraten hier die unterschiedlichen gesellschaftlichen und humanwissen-schaftlichen Positionen, die die Diskussion prägen, ins Visier.
Autorenporträt
Dr. Jörn Ahrens, geboren 1967, ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Gießen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2008

Embryonenschutz ist kein Biologismus

Auf Jörg Ahrens sollte der Bundestag seine Entscheidung zur Stichtagsregelung menschlicher embryonaler Stammzellen besser nicht gründen. Denn Ahrens traut seinen eigenen Argumenten nicht.

Die bioethische Diskussion hat, wie es scheint, ihren Höhepunkt überschritten. Die Argumente sind ausgetauscht, jetzt werden Fakten geschaffen. Der Bundestag wird vermutlich bald eine Verschiebung der Stichtagsregelung für den Import von embryonalen Stammzelllinien beschließen. Dem britischen Unterhaus liegt ein Gesetzentwurf der Regierung vor, der die Forschung an "Inter-Spezies-Embryonen", zu deren Erschaffung menschliches Erbgut in tierische Stammzellen implantiert wird, ebenso zulässt wie die künstliche Veränderung menschlicher Keimzellen. Die gegenüber den Verheißungen der biowissenschaftlichen Technologien skeptischen Vertreter restriktiver Positionen können allenfalls noch hoffen, den sich abzeichnenden Dammbruch hinauszuzögern. Verhindern können sie ihn nicht.

Dass ihnen damit recht geschehe, ist die zentrale These von Jörg Ahrens' Habilitationsschrift über die kulturanthropologischen Effekte der Biowissenschaften. Zwar betont Ahrens, sich einer normativen und politischen Positionierung in den aktuellen Streitfragen enthalten zu wollen. An der "Schnittstelle zwischen Kulturwissenschaft und Soziologie" operierend, gehe es ihm vielmehr darum, die "soziokulturellen Implikationen" der Debatte aufzudecken und einen "Beitrag zur Ermöglichung von Entscheidungsfindungen in der Spätmoderne und unter den Bedingungen von Kontingenz" zu leisten. Tatsächlich kann von einer solchen Zurückhaltung jedoch nicht die Rede sein. Ahrens lässt keinen Zweifel daran, dass er von der, wie er sie nennt, "protektiven Bioethik" nichts hält. Seine Kritik ist allerdings schwach begründet. Entkleidet man sie des großtheoretischen Beiwerks - von Cassirer über Foucault bis Agamben kommen alle üblichen Verdächtigen vor -, bleiben im Wesentlichen zwei altbekannte Vorwürfe übrig. Danach macht die protektive Bioethik sich einer verfehlten Naturalisierung und Essentialisierung kultureller Phänomene schuldig.

Denkbar unspektakulär, wenngleich mit großem Aplomb vorgetragen, ist Ahrens' Ausgangsbefund. Wie er ausführlich darlegt, werfen die Biowissenschaften in neuartiger Weise die Frage nach der "Grenze des Menschlichen" auf. "In Frage steht nicht mehr, wie und ob sämtliche lebende Menschen einer universalen politischen Kategorie subsumiert werden können. Das Problem besteht vielmehr darin zu definieren, von welchem Punkt der Entwicklung des noch nicht geborenen, jedoch gattungsmäßig menschlichen Lebens an man von einem Menschen sprechen kann, der dann auch verfassungsrechtlichen Schutz genösse." Ob es sich um einen Menschen in diesem Sinne handelt, entscheidet sich, wie Ahrens zu Recht hervorhebt, nicht anhand biologischer Fakten, sondern aufgrund sozialer Verständigungsprozesse.

Der Mensch als Träger ethischer Würde und als Subjekt rechtlichen Schutzes ist "ein Derivat kultureller Bedeutungsleistungen". Die unbestrittene Gattungszugehörigkeit menschlicher Embryonen besagt deshalb für ihren kulturellen und insbesondere rechtlichen Status noch nichts. "Entscheidend ist ihre Einbindung in die Kulturgemeinschaft der Menschen."

Diesen Befund missachten nach Ahrens' Darstellung die Vertreter einer protektiven Bioethik. Ihnen zufolge gelte bereits der Embryo als Mensch, "was dann logisch und biologisch mittels des biologischen Kontinuums, also der Heraufkunft des Menschen aus den Stadien einer frühembryonalen Existenz, begründet werden soll". Dies entspreche einer Naturalisierung des Begriffs "Mensch", die diesen von seiner Verwiesenheit auf Praktiken der kulturellen Bedeutungsgenerierung ablöse und in das Kontinuum einer biologischen Ontogenese einbette. "Die ausschließlich biologische Verfasstheit menschlichen Lebens avanciert zur kulturellen Norm." So zu verfahren bedeute jedoch, das Individuum als maßgebliche normative Kategorie durch die Gattung als biologische Einheit zu ersetzen und damit den durch die Aufklärung implementierten Primat des Subjekts umzukehren. Eine Position, die kulturelle Wertsetzungen allein auf biologische Fakten gründe und deren Ziel, Essenz und Ressource das bloße Leben sei, könne sich zudem "schnell als Ablösung vom humanistischen Grund erweisen". Die protektive Bioethik steht Ahrens zufolge somit für einen philosophisch naiven, aufklärungsfeindlichen und politisch gefährlichen - mit einem Wort: einen theologisch infizierten - Prämodernismus.

Diesen Thesen liegt eine gründliche Verkennung des gegenwärtigen Standes der bioethischen Diskussion zugrunde. So treuherzig-provinziell, wie Ahrens behauptet, argumentiert heute kaum noch jemand. Wenn etwa Robert Spaemann geltend macht, von Menschenrechten könne überhaupt nur dann die Rede sein, wenn ihre Innehabung nicht von den Vernünftigkeitskriterien anderer Menschen abhänge, sondern sich bereits aus der schlichten Teilhabe ihres Trägers an der menschlichen Natur ergebe, so ist dies kein biologistisches, sondern ein normatives Argument; es appelliert an unser Vorverständnis von Menschenrecht und Menschenwürde. Ahrens selbst scheint zu spüren, dass er es sich mit seinem Naturalisierungsvorwurf allzu leicht gemacht hat.

Jedenfalls hält er der protektiven Bioethik vor, sie suche das Verhältnis zwischen Anthropologie und Ethik umzukehren. "Mittels der Hypostasierung bestimmter ethischer Prämissen, von denen die Menschenwürde die bedeutsamste ist, intendiert sie eine distinkte Anthropologie durchzusetzen." Auch dieser Vorwurf ist unberechtigt. Die von Ahrens Kritisierten plädieren für einen weiten Anwendungsbereich der Menschenwürde, weil nur so eine willkürfreie Beantwortung der Frage nach dem Kreis der Träger moralischer und juridischer Rechte möglich sei. Es handelt sich also nicht um eine zirkuläre Selbstimmunisierungsstrategie, sondern um eine Stellungnahme zu dem von Ahrens weitgehend ignorierten Problem des quis iudicabit.

Der zweite Hauptvorwurf Ahrens' gegen die protektive Bioethik lautet, sie stehe für die Rückwendung zu einer essentialisierenden Anthropologie, die spätestens seit Gehlen und Plessner überwunden sei. Der Mensch sei ein exzentrisches, offenes Wesen und als solches "einer paradoxen Künstlichkeit von Natur her überantwortet".

Indem die protektive Bioethik dem Menschen die Definitionsmacht über seine eigene Natur abspreche, missachte sie jenes Nichtfestgestelltsein, das seine Sonderstellung innerhalb des Lebendigen ausmache. "Jede auf ein genuines Wesen des Menschen abstellende These, ob biologisch, ethisch oder spirituell begründet, die zugleich keine Argumente dafür bereitstellt, weshalb das grundlegende Merkmal des Menschen - die Kontingenz seiner Erscheinung - nicht auch für dessen physische, mithin genetische Disposition gelten soll, lässt diese Komponente einer Arbitrarität des Menschen außer Acht."

Als anthropologischer Befund ist das zutreffend, an der ethischen Problematik geht es vorbei. Ein "So bin ich nun einmal" taugt nicht als Handlungsrechtfertigung. Ebenso unzureichend ist es, auf die Frage, ob Menschen Angehörige ihrer eigenen Gattung nach Gutdünken vernichten oder genetisch manipulieren dürfen, mit dem schlichten Hinweis auf die wesenhafte Offenheit des Menschen zu antworten. Ahrens verwahrt sich mit guten Gründen gegen die unter Bioethikern beliebte Berufung auf Kant. Weder der kategorische Imperativ noch die Zweck-Mittel-Formel machten Sinn in der Diskussion um den Umgang mit vorgeburtlichen Formen menschlichen Lebens. Der gleiche Vorwurf trifft indes auch Ahrens' eigenen Rückgriff auf die philosophische Anthropologie. Den Splitter im Auge seiner Gegner sieht er, den Balken in seinem eigenen Auge nicht. Auf Ahrens sollte der Bundestag seine Entscheidungsfindung nicht stützen.

MICHAEL PAWLIK.

Jörg Ahrens: "Frühembryonale Menschen?". Kulturanthropologische und ethische Effekte der Biowissenschaften. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 443 S., geb., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Scharf geht der hier rezensierende Jurist Michael Pawlik mit Jörg Ahrens' Habilitationsschrift über die kulturanthropologischen Effekte der Biowissenschaften ins Gericht. Besonders hat er dabei die Kritik des Autors an der "protektiven Bioethik", der es um den Embryonenschutz geht, im Blick. Ahrens halte der "protektiven Bioethik" eine verfehlte Naturalisierung und Essentialisierung kultureller Phänome vor. Diese Kritik steht in Pawliks Augen allerdings auf schwachen Füßen. Dabei wirft er Ahrens vor, den gegenwärtigen Stand der bioethischen Diskussion zu verkennen und zu suggerieren, die Befürworter einer "protektiven Bioethik" würden "treuherzig-provinziell" argumentierten.

© Perlentaucher Medien GmbH