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Gerold Becker (1936-2010) war ein bekannter deutscher Pädagoge, ein gefragter Redner, ein profilierter Autor und einer der schlimmsten Päderasten der jüngeren Erziehungsgeschichte. Das Buch beschreibt die Stationen dieser Karriere und gibt erstmalig den Blick frei auf einen Reformpädagogen, der alles getan hat, niemals etwas von sich preiszugeben.Gerold Becker (1936-2010) war ein bekannter deutscher Pädagoge, Leiter der Odenwaldschule, ein gefragter Redner, ein profilierter Autor und einer der schlimmsten Päderasten der jüngeren Erziehungsgeschichte. Der Skandal seiner Entlarvung im März 2010…mehr

Produktbeschreibung
Gerold Becker (1936-2010) war ein bekannter deutscher Pädagoge, ein gefragter Redner, ein profilierter Autor und einer der schlimmsten Päderasten der jüngeren Erziehungsgeschichte. Das Buch beschreibt die Stationen dieser Karriere und gibt erstmalig den Blick frei auf einen Reformpädagogen, der alles getan hat, niemals etwas von sich preiszugeben.Gerold Becker (1936-2010) war ein bekannter deutscher Pädagoge, Leiter der Odenwaldschule, ein gefragter Redner, ein profilierter Autor und einer der schlimmsten Päderasten der jüngeren Erziehungsgeschichte. Der Skandal seiner Entlarvung im März 2010 hat die deutsche Pädagogik nachhaltig erschüttert.Beckers Doppelleben ist nie aufgefallen, und er hat im Schutz mächtiger Freunde eine erstaunliche Karriere machen können. Das Buch gibt überdies Auskunft, wie sich Hartmut von Hentig im System Gerold Beckers verhalten hat.Jürgen Oelkers nimmt die Stationen dieser »Karriere« in den Blick. Er gibt erstmalig die Sicht frei auf einen Reformpädagogen, der alles getan hat, niemals etwas von sich preiszugeben.
Autorenporträt
Jürgen Oelkers, Dr. phil., ist seit 2012 Professor Emeritus für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der "Zeitschrift für Pädagogik" sowie Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Reformpädagogik und Schulreform. Er ist Mitglied des Fachhochschulrates des Kantons Zürich und hat verschiedene Expertisen zur Bildungspolitik vorgelegt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2016

Der Blender vom Zauberberg
Die Odenwaldschule wird gerade abgewickelt, nun erscheint eine Biografie des Schulleiters Gerold Becker.
Sie arbeitet die Rolle im Missbrauchsskandal mit detektivischem Fleiß auf – und birgt weitere böse Überraschungen
VON TANJEV SCHULTZ
Der schöne, schaurige Ort wird verkauft: Neun Hektar mit 31 Gebäuden. Die Anlage „in idyllischer Lage im vorderen Odenwald“ steht unter Denkmalschutz, heißt es im Inserat der Insolvenzverwalterin. Das also ist übrig geblieben von der Odenwaldschule, die 100 Jahre lang als Wunderwerk der Reformpädagogik betrachtet wurde, als ein Zauberberg, auf dem die Schüler frei atmen konnten. In Wahrheit war sie für viele eine Falle. Ein Ort des Zwangs, der Gewalt und des perfiden Machtmissbrauchs durch pädokriminelle Lehrer. Einer der Täter war der Schulleiter selbst: Gerold Becker. Er kam Ende der Sechzigerjahre an das Internat, blieb bis Mitte der Achtziger – und stieg in dieser Zeit zu einem Star der deutschen Pädagogen-Zunft auf. Den Anfang vom Ende der Schule, die er zugrunde richtete, hat Becker noch erlebt. Doch dann starb er im Frühjahr 2010, wenige Wochen, nachdem er öffentlich entlarvt worden war.
  Wer war Gerold Becker? Wie konnte er so viele Jahre sein Unwesen treiben und zugleich als bewunderter Pädagoge auftreten? Als alles aufplatzte, war auch zu sehen, wie wenig man eigentlich wusste über diesen Mann, der seine letzten Lebensjahre in Berlin am Kudamm wohnte, eng verbunden, auch räumlich, mit seinem alten Gefährten Hartmut von Hentig, dem noch berühmteren Pädagogen und Groß-Intellektuellen. Hentig hielt trotzig zu seinem Freund und zog sich damit selbst mit in den Abgrund, der sich da öffnete. Endlich blickten Medien, Pädagogen und Professoren hinter die Fassaden des Herder- und des Goethe-Hauses der Odenwaldschule (die Gebäude dort waren traditionell nach Geistesgrößen benannt). Das Blenden hatte ein Ende.
  Wie gut Gerold Becker die Kunst des Tarnens und Täuschens beherrschte, enthüllt in vielen Details ein dickes, ebenso als Biografie wie als Skandalchronik angelegtes Buch des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers. In einer beeindruckenden Rechercheleistung ist er den teilweise verwischten Spuren eines Mannes gefolgt, dem man schon früher auf die Schliche hätte kommen können. Becker profitierte nicht nur von seiner eigenen Chuzpe, sondern auch von einem Netzwerk, das ihn protegierte und immer wieder auffing.
  Dazu gehörte zum Beispiel Hellmut Becker (mit Gerold nicht verwandt), der als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung großen Einfluss ausübte. Er könnte nicht nur dafür gesorgt haben, dass sein Namensvetter Leiter der Odenwaldschule wurde. Hellmut Becker dürfte auch, so liest Oelkers die Indizienlage, eine Rolle gespielt haben, als Gerold Becker scheinbar ohne Not seinen Posten am Internat aufgab und für eine Weile mittellos wurde, bis ihn sein Netzwerk wieder mit Aufgaben versorgte. Es gab genügend Leute, die wussten oder ahnten, was Becker trieb – und die versuchten, die Sache diskret und ohne Ansehensverlust zu lösen.
  Gerold Becker soll schon zu Beginn seiner Zeit an der Schule aufgefallen sein, weil er sich ausgerechnet an einen Neffen Hellmut Beckers heranmachte. Der wehrte sich und informierte seinen Onkel. Gerold Becker gelang es, sich herauszureden.
  Auch später hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen der große Skandal nahegelegen hätte. Eine Schulsekretärin soll pikante Einblicke gehabt haben, und belegt ist, dass sich ein Schüler bei einem Lehrer beschwerte, weil er gesehen hatte, wie Becker als Spanner unterwegs war und duschende Jungs beobachtete. Der Lehrer wiegelte ab und ermahnte den Jungen sogar, sich nicht so zu äußern.
  Es war schwer, das Schweigekartell zu knacken. Neben Becker gab es noch mehrere andere Täter an der Schule, und wer aufbegehrte, wurde kaltgestellt. Becker scharte Menschen um sich, die ihm etwas schuldig waren. Dazu kam der linke Zeitgeist, der auf sexuelle Befreiung drängte; schnell galt man als verklemmter Spießer, wenn man auf die Achtung von Schamgrenzen pochte. Für einen Mann wie Becker war die vermeintlich progressive Odenwaldschule das perfekte Täterfeld.
  Für sie verzichtete er sogar darauf, seinem Förderer Hartmut von Hentig nach Bielefeld zu folgen, wo dieser die Laborschule aufbaute. Die beiden hatten sich in Göttingen an der Universität kennengelernt. Becker wollte dort promovieren, gehörte formal aber als Mitarbeiter nicht zu Hentig, sondern zum Lehrstuhl von Heinrich Roth. Aus der pädagogischen Promotion wurde nichts, Becker scheiterte daran und war auch sonst eigentlich nicht der große Pädagogik-Experte, als der er auftrat.
  Er hatte evangelische Theologie studiert und als Vikar in Linz angefangen, dort aber nicht abgeschlossen. Die Umstände des Abbruchs sind nebulös. Das Buch wertet die Ereignisse so, dass schon damals Beckers sexuelle Neigungen zum Problem geworden waren. Becker soll Linz „Hals über Kopf“ verlassen haben. Nun musste er neu anfangen. Er ging zurück nach Göttingen, wo seine Familie lebte, und schaffte es, als Promotionsstudent an der dortigen Universität eine zweite Karriere zu beginnen.
  Becker war ein Meister darin, seine Biografie im Dunkeln zu lassen oder so umzudichten, dass er keine Nachfragen befürchten musste. Oelkers schreibt: „Er wollte ein Mann ohne Geschichte sein, und das kann nur mit seiner sexuellen Biografie zu tun haben.“ Abrupte Wechsel „gehörten zu seinem Täterprofil“.
  An keiner staatlichen Schule hätte Becker einfach so, ohne fertiges Pädagogik-Studium und ohne Lehramtsausbildung, als Lehrer anfangen können, schon gar nicht als Schulleiter. Doch an der Odenwaldschule war vieles möglich. Dass Becker früher in einer evangelischen Jungengruppe aktiv war, konnte ihm als Praxiserfahrung angerechnet werden. Dass er schon damals einen Zwölfjährigen ausgebeutet haben soll, wussten die Kollegen am Internat sicher nicht. Viele hätten es wohl auch gar nicht wissen wollen.
  Becker war in Verden aufgewachsen. Als Kind blieb er für längere Zeit ohne Vater, als dieser in den Krieg ziehen musste. Als der Vater zurückkehrte, muss das Verhältnis schwierig gewesen sein. Der Vater, der das Niedersächsische Kulturamt leitete, soll streng und cholerisch gewesen sein. Ob Gerold Becker als Kind selbst Gewalt und Missbrauch erlitten hat, ist nicht sicher; es gibt nur entsprechende Gerüchte.
  Die Familie zog nach Göttingen, Becker blieb zunächst in Verden, um auf dem traditionsreichen Domgymnasium sein Abitur zu machen. Das war damals eine reine Jungenschule. Becker war ein sehr guter Schüler, ein kleiner Star; trotzdem spürte er eine seltsame Rivalität zu seinem älteren, intelligenten Bruder, der in der Gunst des Vaters höher zu stehen schien.
Als Quereinsteiger gelang es Gerold Becker an der Seite von Hentig, sich schnell einen Namen als Pädagoge zu machen, der er eigentlich nicht war. Seine theologische Ausbildung kam ihm zugute, denn Becker konnte über Bildung predigen, dass dem Publikum das Herz aufging. Gedeckt von seinen Freunden, hatte er wenig zu befürchten. Sein Leben war, wie Oelkers schreibt, „eine ständige und sehr eigensinnige Hochstapelei“. Zwar ist sie schließlich doch noch aufgeflogen, für die Opfer von Beckers Tarnung aber war es zu spät.
Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker, Beltz Juventa 2016, 608 Seiten, 58 Euro.
Becker studierte Theologie,
in Linz war er Vikar.
Dann floh er „Hals über Kopf“
„Modellschule“
Als der Reformpädagoge Paul Geheeb die Odenwaldschule 1910 gründete, sprach er von einem „Laboratorium“. Er setzte auf Koedukation, also die damals noch revolutionäre gemischte Erziehung von Mädchen und Jungen, und auf eine Abkehr vom wilhelminischen Drill. Das Internat wurde zur Pilgerstätte für alle, die progressiv sein wollten. Später, in der Bundesrepublik, wurde das als Gesamtschule organisierte Landerziehungsheim zur „Unesco-Modellschule“. Ein Bericht der Frankfurter Rundschau im Jahr 1999 über sexuelle Übergriffe schien der Schule nichts anhaben zu können. Erst 2010 brach alles auf. Fünf Jahre später meldete das Internat Insolvenz an und musste schließen.
tvs
Er konnte über Bildung predigen,
dass seinem Publikum
das Herz aufging
Beschauliche Szene im hessischen Heppenheim, im Hintergrund die Internatshäuser der Odenwaldschule – an der Reformschule hatten Lehrer systematisch Schüler sexuell missbraucht. Ein Ermittlungsbericht nannte zunächst mindestens 132 Opfer, mittlerweile wird mit mehreren Hundert gerechnet.
Foto: Regina Schmeken
Gerold Becker war von 1969 bis 1985 an der Odenwaldschule und gilt als einer der Haupttäter in der Missbrauchsaffäre. Die Aufnahme zeigt ihn beim Unterricht in den 70er-Jahren.
Foto: Odenwaldschule/dpa
Jürgen Oelkers ist Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Zürich. Er hinterfragt seit Langem die „kindgerechte“ Reformpädagogik. Vieles sei nur Rhetorik. Foto: C. Hess
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2016

Virtuose des Missbrauchs

Mit Charisma ging im pädagogischen Paradies der Odenwaldschule alles: Jürgen Oelkers schreibt die Biographie ihres ehemaligen Leiters Gerold Becker und rechnet mit der Reformpädagogik ab.

Ein Hochstapler ohne irgendeine pädagogische Qualifikation wird zu einem der einflussreichsten Pädagogen Deutschlands und zum Schulleiter der Odenwaldschule im hessischen Oberhambach. Wie konnte das geschehen, und was weiß man über Gerold Becker, der es perfekt verstand, möglichst wenig von sich preiszugeben und einen lückenhaften Werdegang voller Ungereimtheiten zu präsentieren? Der Züricher Bildungswissenschaftler Jürgen Oelkers hat nach einer mehrjährigen Recherchearbeit auf gut sechshundert Seiten versucht, die vielen dunklen Flecken in Beckers Biographie zu erhellen. Das gelingt ihm zum Teil in eindrucksvoller Detailarbeit, die aber an entscheidenden Stellen doch so lückenhaft bleibt wie der von Becker inszenierte Lebenslauf. So kann auch Oelkers nicht darlegen, wie sich der überstürzte Abschied Beckers von der Odenwaldschule im Jahr 1985 erklärt. Man wüsste zu gern, ob der mit ihm nicht verwandte Bildungsbecker in Berlin, Hellmut Becker, Gründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, damals wieder einmal seine schützende Hand über den Schulleiter der Odenwaldschule gehalten hat und ihn aus dem Verkehr zog, bevor dessen kriminelle Machenschaften auch diejenigen mit in den Abgrund zogen, die sich jahrelang nichtsahnend oder mitwissend für die Reformpädagogik hergegeben hatten - oder ob es doch einen anderen Grund für den Abgang gab.

Oelkers' Biographie, ein grundlegendes Werk, um die Entstehung des Missbrauchs an der Odenwaldschule zu verfolgen, ist überdies eine große Abrechnung mit der Reformpädagogik und Oelkers' Antipoden Hartmut von Hentig. "Warum Hentig wegen Becker seinen Sturz riskiert hat, bleibt rätselhaft. Nach langem Schweigen bittet er die Opfer, sie mögen dem toten Gerold Becker Verzeihung gewähren - ohne sich von seinem Freund loszusagen. Auch das ist rätselhaft", so Oelkers.

Gesichert dagegen ist, dass Gerold Becker Theologie studiert hat, sein Vikariat in Linz (schon das ist ungewöhnlich für einen Pfarrer der Hannoverschen Kirche) abgebrochen hat (womöglich wegen pädosexueller Verfehlungen, wie Oelkers mutmaßt) und dann ohne eine entsprechende fachliche Qualifikation zum Pädagogischen Seminar nach Göttingen kam.

Danach wurde er Schulleiter der Odenwaldschule, ohne dafür ausgewiesen zu sein. Er hatte noch nicht einmal ein pädagogisches Examen, geschweige denn ein Lehramtsstudium mit entsprechendem Abschluss. Mit einer abgebrochenen Dissertation hat man ihn zu einem einflussreichen Bildungsfachmann hochgejubelt, ohne dass seine Mimikry jemals aufflog. Seine pädophilen Verbrechen an der Odenwaldschule wurden wortlos geduldet, obwohl ihn nach Aussage eines Altschülers sogar einmal eine Putzfrau dabei ertappte und das auch an die Schulverwaltung und den Betriebsrat meldete. Hellmut Becker wusste von dem Treiben seines nicht verwandten Namensvetters, denn dieser hatte sich ausgerechnet an einem seiner Neffen vergriffen, der sich bei seinem Onkel auch beschwerte. Auch eine Schulsekretärin soll Einblicke in das Doppelleben von Gerold Becker gehabt haben. Die Beschwerden von Schülern bei anderen Lehrern wurden geflissentlich ignoriert, und das kollektive Wegsehen ging weiter. Man ließ Becker gewähren und blendete eine Wirklichkeit aus, die Hunderte von Schülern ein schwer zu bewältigendes Trauma zugefügt hat, das nicht wenige mit Psychosen, Depressionen und Berufsunfähigkeit bezahlten.

Der sagenumwobene Ruf der Odenwaldschule, der sich auf keiner einzigen nachweisbaren Überlegenheit im Unterricht oder in den Leistungen gründete, speiste sich im Wesentlichen aus der Mär der besseren Schule "eigener pädagogischen Prägung", die den staatlichen "Zwangssystemen" in jedem Fall überlegen war. Die Privatschulen verfügten "nie wirklich über die besseren Konzepte, die ihre Überlegenheit begründet hätten. Das hörte sich nur so an, auch weil Glaubensnachfrage bestand." Oelkers trifft damit einen entscheidenden Punkt, der sich selbst an einem Alternativmodell im staatlichen Sektor wie der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg beobachten lässt, deren Anhänger ebenfalls ein nachgerade religiöses Schwärmertum an den Tag legen.

Was auch immer man von internationalen Leistungsvergleichen wie Pisa halten mag, sie bewahren hoffentlich vor einem kollektiven Irrglauben an eine ideale Schule, wie sie so vieler Anhänger in der Odenwaldschule sehen wollten und selbst nach deren Schließung immer noch sehen. "Die Odenwaldschule war sakrosankt, weil sie den alten pädagogischen Traum des Lernens in Freiheit verknüpft mit dem Leben in Gemeinschaft zu verwirklichen schien. Aber das heißt auch, dass niemand auf den Gedanken kam, es könnte Täter und Opfer geben. Im Paradies gibt es keine Schande", analysiert Oelkers. Bedrückend sind die Aussagen der Opfer, die der Autor zusammengetragen hat, und Beckers Virtuosität, bei Elternbeschwerden über körperliche Misshandlungen an ihren Kindern, die "sadistische Züge" trügen, den Opfern selbst die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Völlig unverständlich bleibt, wie Becker auch nach seinem Abgang von der Odenwaldschule und den ersten Missbrauchsvorwürfen gegen ihn im November 1999 seine Karriere unbeschadet fortsetzen konnte. Zwar hatte das hessische Kultusministerium seinen Beratervertrag fristlos gekündigt, doch Becker blieb die deutschlandweit gefeierte pädagogische Lichtgestalt. Er blieb der Chefideologe der Landerziehungsheim und diese ließen ihn gewähren. Aberwitzig ist auch, dass ausgerechnet Becker die hochgradig ideologieanfällige pädagogische Debatte in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in den neunziger Jahren wesentlich mitbestimmt hat und dreißig Jahre lang auf jedem Kirchentag auftrat, sogar Mitglied im Präsidium war. Schon beim Stuttgarter Kirchentag im Juli 1969 war Becker als Podiumsteilnehmer mit Hartmut von Hentig und Günter Grass zugegen, moderiert von Hellmut Becker ausgerechnet zum Thema "Aggression als individuelle und gesellschaftliche Tat".

Im der eindrucksvollen Recherchearbeit, die Oelkers für das Buch geleistet hat, stecken zugleich dessen Schwächen, die keineswegs nur stilistischer Natur sind. Der biographistische Ansatz wirkt teilweise redundant, liest sich auch nicht wirklich fesselnd, weil ein roter Faden fehlt. Es wird keine Geschichte erzählt, die den Leser bei der Stange hält. Das mindert aber nicht die aufklärerische Leistung dieses Werkes, das eine messerscharfe Abrechnung mit der Reformpädagogik und dem Mythos der Landerziehungsheime ist.

HEIKE SCHMOLL

Jürgen Oelkers: "Pädagogik, Elite, Missbrauch". Die "Karriere" des Gerold Becker.

Beltz Verlag, Weinheim 2016. 608 S., geb., 58,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Heike Schmoll fehlt zwar der rote Faden in Jürgen Oelkers Biografie des Hochstaplers und Kinderschänders Gerold Becker, doch als penibel recherchierte Aufklärungsarbeit und Abrechnung mit der Reformpädagogik scheint ihr das Buch des Bildungswissenschaftlers Oelker doch höchst lesenswert. Eindrucksvoll findet sie nicht nur die Detailarbeit beim Aufzeigen von Beckers fragwürdigem Werdegang, das Zusammentragen von Opfergeschichten aus der Odenwaldschule und die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Missbrauchs dort, sondern auch die Entlarvung alternativer Bildungskonzepte durch den Autor. Der biografistische Ansatz allerdings scheint Schmoll mitunter redundant und wenig fesselnd.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Material für über 600 Seiten hat Jürgen Oelkers in jahrelanger Arbeit zusammengetragen - ein Standardwerk zum Missbrauch an der Odenwaldschule.« Armin Himmelrath, Deutschlandradio, 2.5.2016 »Alle, die sich mit Fragen des sexuellen Missbrauchs in pädagogischen Institutionen beschäftigen, sollten dieses Buch lesen; ebenso jene, die sich (noch immer) nicht bewusst sind, mit welchen Risiken und Gefahren ideologisierte Pädagogikkonzepte und bestimmte (sozial-)pädagogische Institutionen verbunden sind. In Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit müsste das Buch greifbar sein; und zwar in so vielen Exemplaren, dass interessierte Studierende es auch ausleihen können.« Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, socialnet.de, 10.5.2016 »Ein insgesamt erschreckendes Fachbuch, das gleichwohl gut verständlich geschrieben ist, um Beckers "Pädagogik" hinreichend kennen zu lernen und sensibilisiert zu sein.« Peter Bräunlein, MaennerWege.de, 5.2016 »Lesenswert!« Jürgen Stricker, schulmagazin5-10, 10.201