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Böse Blicke, blinde Flecken: Andreas Schäfers raffinierter Roman "Gesichter"
Eigentlich eine schöne Idee, der Gattin im Urlaub Postkarten zu schreiben und sie erst nach der Rückkehr in den Arbeits- und Familienalltag abzuschicken, um die Ferienstimmung der griechischen Insel noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Dumm nur, dass Gabor Lorenz auf der Fähre von Patras nach Ancona einen Mann entdeckt, der sich heimlich in einem Laster versteckt. Er wirft ihm eine Tüte Bananen zu, in der sich bedauerlicherweise auch die Postkarten befinden. Als der Flüchtling gefasst wird, offenbar misshandelt von der Polizei, begegnet ihm der an einer Berliner Klinik angestellte Neurologe abermals. Er fürchtet, dass der Mann, der seinen Namen und seine Adresse kennt, ihn für einen Denunzianten hält.
Die Reise wirkt sodann noch lange nach, allerdings anders, als Gabor sich das vorgestellt hat. Die erste Postkarte, die seine Frau Berit erreicht, wurde in Modena abgeschickt, die zweite in München. Der womöglich auf Rache sinnende Absender kommt immer näher, das Gefühl der Bedrohung wächst. Dabei hat Gabor im Grunde andere Sorgen. Immerhin muss er als Leiter einer Forschungsgruppe zur Gesichtsblindheit, der Unfähigkeit also, Gesichter wiederzuerkennen, einen Vortrag für die Berufungskommission vorbereiten und einen alten Studienfreund mit einer bitteren Entscheidung konfrontieren. Noch dazu gibt sich seine vierzehnjährige Tochter Nele in jüngster Zeit auffällig verschlossen, was Gabor einer unglücklichen Urlaubsliebelei zuschreibt.
Andreas Schäfer, der für sein letztes Werk "Wir vier" mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, hat mit seinem neuen Roman eine glückliche Hand bewiesen, was Stoff, Motive und Dramaturgie betrifft. "Gesichter" ist nicht nur spannend und subtil aufgebaut, sondern auch gehaltvoll. Der 1969 in Hamburg geborene Journalist und Schriftsteller erzählt, wie jemandem, dem alles, was er sich wünscht, greifbar zu sein scheint, plötzlich das ganze Leben entgleitet. Gabor weiß, dass wir mittels einer kombinierten Wahrnehmungs- und Abgleichleistung das Gesicht eines Bekannten, den wir ewig nicht mehr gesehen haben, innerhalb von dreihundert Millisekunden identifizieren. Doch von einem Moment zum anderen erkennt er sich selbst kaum wieder; während ihm das hasserfüllte Antlitz des Flüchtlings einmal plötzlich klar vor Augen steht, gerät es ein andermal vollkommen in Vergessenheit. Dass die Gefahr für den Zusammenhalt der Familie, die Schäfer um des schärferen Kontrasts willen anfangs nahezu als Idylle zeichnet, von ganz anderer Seite droht, muss sein Protagonist im Laufe des Geschehens schmerzhaft erfahren. Als Gabor schließlich unter einen schrecklichen Verdacht gerät, sind alle Gewissheiten der bürgerlichen Existenz dahin.
Schäfer geht es nicht darum, das Ideal einer konventionellen Familie und Ehe zu dekonstruieren - das wäre zu einfach. Sein Roman handelt vielmehr davon, wie rasch man in den Augen eines geliebten Menschen zu einem Fremden werden kann, der unvermutet sein vermeintlich wahres Gesicht zeigt; er handelt vom Verrat unter Freunden, vom allzu jähen Erwachsenwerden und nicht zuletzt vom abgebrühten touristischen Blick auf Flüchtlingsschicksal. Diese Handlungselemente motivisch mit dem Thema der Gesichtsblindheit zu verknüpfen, erweist sich als äußerst fruchtbar und vieldeutig.
Dass Schäfer die sich bietenden Parallelen und Vergleichsmöglichkeiten nicht überstrapaziert, spricht für die Disziplin des Autors. Abgesehen von einigen wenigen Marotten wie etwa jener, leicht ungelenk und geheimniskrämerisch - selbst in der Figurenrede - stets nur von "der Insel" zu sprechen, statt sie einfach beim Namen zu nennen, ist der Stil des Romanciers deutsch-griechischer Herkunft luzide, akkurat und unaufdringlich. Ihm gelingt es, die Entwicklung eines individuellen psychischen Konflikts vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Problematik zu schildern, ohne je in einen küchenpsychologischen oder plakativ sozialkritischen Jargon zu verfallen. Stattdessen werden die einzelnen Bedeutungsebenen unterschwellig und elegant miteinander verbunden. Entsprechend angenehm ist die Lektüre, obwohl Gabors Welt zunehmend unbehaglicher wird. Das familienfreundliche Ferienparadies und die Hölle der persönlichen Hirngespinste und schuldhaften Verstrickungen liegen so weit nicht voneinander entfernt. "Gesichter" kartographiert die Reiseroute im richtigen Maßstab. Wer sich daran orientiert, ist literarisch an der richtigen Adresse.
ALEXANDER MÜLLER
Andreas Schäfer: "Gesichter". Roman.
Dumont Verlag, Köln 2013. 253 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
des Flüchtlings
Leise Panik: Andreas Schäfers Roman „Gesichter“
Das Schicksal anderer Menschen nicht an sich herankommen zu lassen, darin ist Gabor Lorenz, der Held des neuen Romans von Andreas Schäfer, geübt. Er ist Neurologe an der Berliner Charité, Leiter eines Forschungsprojekts zur Gesichtsblindheit, und darf auf eine Berufung zum Professor hoffen. Sobald er aus dem Urlaub zurückkommt, wird er sich an den alles entscheidenden Vortrag setzen. Noch will er nicht daran denken. Vier Wochen hat er mit seiner Familie auf einer griechischen Insel verbracht, vor elf Jahren haben sie dort ein Haus gekauft, nun springt er im Hafen von Patras noch einmal von der Fähre, um ein paar Momente allein zu sein.
Doch statt der Urlaubsatmosphäre, die er einsaugen möchte, um sie als „Talisman“ mit in den Alltag zu nehmen, brennt sich ein anderes Bild auf seine Netzhaut. Aus dem Augenwinkel nimmt er wahr, wie sich ein Mann in einen Lastwagen schmuggelt. Kaum hat die Fähre abgelegt, schleicht er sich aufs Parkdeck. Es kommt zu einer kurzen Begegnung, bei der er, ohne lange nachzudenken, eine Tüte mit Bananen in den Lastwagen wirft. Andreas Schäfer braucht nicht lange, um den Handlungsknoten zu schürzen. Mit klarem Strich skizziert er, was sich zum Vexierbild auswachsen wird: die kleine, gut beherrschbare Sorge um seine Berufung schlägt um in Angst und Panik. Gabor Lorenz muss fürchten, dass er mit einer Gedankenlosigkeit genau das in sein Leben geholt hat, was er bisher erfolgreich verdrängte: dass es weit größere Probleme gibt als berufliches Fortkommen und familiäre Friktionen.
Wie schon in seinen ersten beiden Romanen, „Auf dem Weg nach Messara“ (2002) und „Wir vier“ (2010), zeichnet Andreas Schäfer auch in „Gesichter“ ein Familienporträt. Geschickt spickt er es mit Narben schlecht verheilter Verletzungen, die an Francis Bacon denken lassen. Der Stil des Romans ist den prismatischen Bildern Lyonel Feiningers näher, auf den er ebenfalls einmal anspielt. Wie schnell wir uns ein Bild machen und wie falsch das sein kann, ist das fein gearbeitete zentrale Motiv des Romans. Es sorgt dafür, dass die leichte Schlagseite Richtung „Tatort“, in die er im letzten Drittel zu geraten droht, literarisch ausbalanciert wird.
Als die Familie nach langer Autofahrt in Berlin ankommt, hat Gabor den Flüchtling fast vergessen. Trotz seines hasserfüllten Blicks, als er an der italienischen Grenze verhaftet wurde. Doch bald trifft eine der Postkarten, die sich mit in der Tüte befanden, zu Hause ein. Wie jedes Jahr hat Gabor auch in diesem Urlaub kleine Momentaufnahmen geschrieben und mit der eigenen Adresse versehen. Üblicherweise wirft er sie nach und nach in einen Berliner Briefkasten, um das Urlaubsgefühl in den Alltag hinüberzuretten. Die schöne Idee, als liebevolle Geste für seine Frau gedacht, verkehrt sich in ein Menetekel. Die erste Karte wurde in Modena aufgegeben, die zweite in München, die dritte in Berlin. Für Gabor ist die Sache klar: der Flüchtling ist ganz in der Nähe, er kennt seine Adresse, und er wird sich rächen, weil er annehmen muss, Gabor habe ihn verraten.
Skandiert durch das Eintreffen der Postkarten, zieht Andreas Schäfer seinem Helden ganz allmählich den Boden unter den Füßen weg. So ist sein Stolz noch spürbar, sich das Leben zwischen dem Zehlendorfer Reihenhaus-Idyll und den Anforderungen des Klinikalltags höchst komfortabel eingerichtet zu haben, vom kurzen Weg zur Kita des Sohnes über das Bad im Schlachtensee bis hin zur abendlichen Romanze mit der Gattin im waldnahen Garten.
Doch die zunehmende Panik sickert wie Gift in alle Verhältnisse. Seinem besten Freund aus Freiburger Studententagen kündigt er mit dem lächerlichen Argument, man könne einen „Hippie“ wie ihn, dem es an „Ambition“ fehle, in einer Universitätsklinik nicht brauchen. Den Patienten gegenüber ist er ungeduldig. Kaum merkt er, dass einer als Proband für seine Studie nicht in Frage kommt, erlischt sein Interesse. Selbst bei seinem Vortrag ist er verwirrt und zieht statt der Fördermittelzusage eines Kontaktlinsenherstellers eine Postkarte aus dem Jackett, auf die seine Frau ein aufmunterndes Post-it-Zettelchen geklebt hat.
Als die pubertierende Tochter, deren Empfindungschaos die Eltern auf eine Urlaubsliebelei zurückführen, spurlos verschwindet, ist die Katastrophe perfekt: die Familie zerlegt in lauter Einzelteile, zusammengehalten nur noch durch Vorwürfe, Argwohn, Unterstellungen. So zwingt der Autor seinen Helden, sich in den Flüchtling einzufühlen, in dessen Angst und dessen Hass. Nichts scheint naheliegender als eine Entführung. Auf der Suche nach der Tochter fährt Gabor noch einmal auf die namenlos bleibende Insel (bei der es sich vermutlich um Kreta handelt). Erst jetzt sieht er die Gestalten, die in der herbstlich unwirtlichen Atmosphäre am Strand lagern. Die Inselbewohner zahlen dafür, dass die Reedereien die Flüchtlinge mitnehmen. Seit ein toter Flüchtling am Strand gefunden wurde, sinken die Immobilienpreise.
Der Roman spielt 2006, also noch vor der Krise, die der 1969 in Hamburg geborene Schriftsteller deutsch-griechischer Herkunft klugerweise nicht zum Thema gemacht hat. Der Roman ist fest in Berlin verankert, wo der Autor auch lebt. Es ist das Kunststück seiner Prosa, ebenso nüchtern wie atmosphärenstark zu sein, eine Ästhetik der verwischten Ränder, die sich in beiden Sphären des Romans bewährt.
Dort, wo es um das Nebeneinander von professioneller Distanz und existenzieller Bedrohung geht, im Alltag eines Arztes beispielsweise oder eines Polizisten – als die Polizei sein Haus belagert, erlebt Gabor, was es heißt, selbst auf der Seite existenzieller Betroffenheit zu stehen, während andere nur ihren Job machen –, aber auch dort, wo die einen Urlaub machen und die anderen Zuflucht vor einem Leben suchen, das ihnen keine Chance lässt.
Diese Ästhetik hält Andreas Schäfer bis in die Nuance durch. Der Roman steckt voller Überblendungen, etwa wenn Gabors Frau, eine Kunsthistorikerin, die als Erbenermittlerin arbeitet, nachts im Bett stolz und aufgedreht von einer siebzigjährigen Nonne erzählt, und Gabor in ihrem jungen Gesicht die Züge einer alten Frau entdeckt. Dass wir den anderen niemals ganz kennen können und auch nicht wissen, wie wir selbst gesehen werden, ist das große Alltagsrätsel, dem „Gesichter“ nachgeht, spannend, klug komponiert und facettenreich.
MEIKE FESSMANN
Andreas Schäfer: Gesichter. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2013. 255 Seiten, 19,99 Euro.
Gern schickt Gabor Urlaubsfotos
an die eigene Adresse
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