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Warum kann man im Leben nicht alles haben? Man hat doch nur eins!
Marlies zog mitten nach Berlin, als das Leben hier versprach, wild und aufregend zu sein. "No regrets" war schon damals ihr Lebensmotto, und die Jahre gingen ins Land. Nun ist Marlies 49 und fragt sich, wann eigentlich diese entsetzliche Verspießerung ihrer ganzen Umgebung begann. Auch ihr Mann, einst sexy Gitarrist in einer Rockband, ist zu einem antriebslosen Kerl mutiert. Doch der erotische Side-kick, den Marlies sich gönnt, endet mit einer wüsten Bauchlandung. Ein Jobangebot macht es möglich, dass Marlies alles hinter…mehr

Produktbeschreibung
Warum kann man im Leben nicht alles haben? Man hat doch nur eins!

Marlies zog mitten nach Berlin, als das Leben hier versprach, wild und aufregend zu sein. "No regrets" war schon damals ihr Lebensmotto, und die Jahre gingen ins Land. Nun ist Marlies 49 und fragt sich, wann eigentlich diese entsetzliche Verspießerung ihrer ganzen Umgebung begann. Auch ihr Mann, einst sexy Gitarrist in einer Rockband, ist zu einem antriebslosen Kerl mutiert. Doch der erotische Side-kick, den Marlies sich gönnt, endet mit einer wüsten Bauchlandung. Ein Jobangebot macht es möglich, dass Marlies alles hinter sich lassen und nach Italien verschwinden kann. Aber nicht jedem Neuanfang wohnt ein Zauber inne.

Eva Sichelschmidts Roman ist eine tragikomische Aufbruchsgeschichte über eine Frau, die es nochmal wissen will: pointiert, stilsicher, amüsant.

Autorenporträt
Sichelschmidt, Eva
Eva Sichelschmidt, geboren 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Gesellenprüfung zur Damenschneiderin zog sie 1989 nach Berlin, danach machte sie sich mit einem Maßatelier für Braut- und Abendmoden selbstständig. Es folgten Aufträge als Kostümbildnerin bei Film und Oper. Seit 1997 ist sie Inhaberin des Geschäfts "Whisky & Cigars", seit Beginn 2015 auch Repräsentantin des Berliner Auktionshauses Grisebach für Italien. Mit ihrem Ehemann Durs Grünbein und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin. "Die Ruhe weg" ist ihr erster Roman.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2017

Ich schwör
Ob im Kindergartenkiez, unter Managern
oder in Hochhausschluchten – Berlin braucht
neue Geschichten: Hier sind sie
FELIX LOBRECHT
VON JENS BISKY
Der Kerl ist schon so lange antriebslos, dass ihn kein Gezicke und Gemecker dazu bewegen wird, „von seinem inneren Sofa“ herunterzusteigen. Warum auch sollte er, Till, das tun, es läuft doch nicht schlecht. Seine Marlies verdient mit ihren Artikeln für ein Familienblatt leidlich, er kümmert sich morgens um Tochter und Sohn und haut sich dann aufs Sofa, bis er abends als Auswechselgitarrist in einem Musical-Theater zum Einsatz kommt. Marlies freilich vermisst Leben, Intensität, Abenteuer.
Eva Sichelschmidt lässt das Paar in ihrem ersten Roman –„Die Ruhe weg“ – das ganze Missvergnügen der mittleren Jahre durchleben und einige kleine Fluchten erproben, eine Affäre mit dem Yoga-Lehrer und einen neuen Job im Ausland, Psychotherapie, Angeln. Freundinnen werden zugetextet, Freunde schimpfen, man verliert auch mal die Kinder aus den Augen. Das sind sehr bewährte Formen der Krisenbewältigung, die aber, wie Sichelschmidt gekonnt und witzig vorführt, immer neue und sehr viel dramatischere Krisen heraufbeschwören.
Die Grundenttäuschung lässt sich nicht wegreden. Marlies findet ihren Till trotz grauer Strähnen, Bauchansatz und Fältchen um die Augen zwar noch hübsch, aber nicht mehr sexy. Nur manchmal und nur bei genauem Hinsehen ist in dem ein Meter neunzig hohen Schlaffi noch der Rockgitarrist von einst zu erkennen.
So denken derzeit viele Berliner über den Zustand, in dem sie halb begeistert, halb enttäuscht hausen: sieht noch aus wie Berlin, ist nett hier, aber sexy wirkt die Stadt in aller aufgedrehten Antriebslosigkeit beim besten Willen nicht.
Die Midlife-Crisis des Paares spielt im Milieu des Neu-Berliner Kreativ-Kleinbürgertums. Einen Großteil ihrer treffenden Pointen gewinnt Eva Sichelschmidt aus dem Problem, das die lebenshungrige Marlies mit der Stadt hat. Im Kiez, in dem die beiden mit dem Geld der Eltern ein kleines, modern ausgebautes Dachgeschoss kaufen konnten, hat „ältliche Jugend“ die Hoheit übernommen, die „Generation Stiftung Warentest“. „Okay“, weiß Marlies, „der Rock’n’Roll war schon länger tot, auch sie hatte ihn nur noch von hinten gesehen, aber dass es diesen Nachgeborenen gelingen würde, auch noch in rasanter Geschwindigkeit sein Grab aufzulösen, das überraschte sie dann doch.“
In den fernen Neunzigern, als der Hauptstadtumzug bevorstand und die ersten Pioniere der wilden Jahre nach dem Mauerfall anfingen, Veteranengeschichten zu erzählen, hofften manche auf einen neuen Balzac, der die Geschäfte und Seilschaften, die Illusionen und Karrieren schildern, die Generation Berlin in Gesellschaftsromanen auftreten lassen würde. Daraus ist nicht viel geworden. Die Gründe dafür liegen auch in der Eigenart der Stadt. Wo hätte ein Nachfolger Balzacs seine Rastignacs hernehmen sollen, die Genies des Ehrgeizes und der Rücksichtslosigkeit? Die meisten kamen doch, um weniger Konkurrenz, weniger Stress zu spüren, um auch mal Ruhe zu haben. Das klassische Berliner Karrieremuster hat wenig mit sozialem Aufstieg zu tun. Und für den Berliner Alltag sind Vorstellungen von so etwas wie Gesellschaft nicht besonders relevant. Stress, Konflikte und damit Geschichten entstehen manchmal aus dem Zusammentreffen verschiedener Milieus, meist aber innerhalb derselben. Sie wandeln sich sehr schnell und versprechen keine Geborgenheit. Das kann nicht verwundern, jeder Zweite ist neu in der Stadt, erst nach dem Mauerfall hergezogen.
Im vergangenen Jahr hat Gerhard Falkner mit „Apollokalypse“ noch einmal das Ganze der Stadt vergegenwärtigt. Das setzte die für alle mehr oder weniger prägende Ordnung des Kalten Krieges voraus. Die interessanten Berlin-Geschichten der Gegenwart zielen nicht aufs Totale, sondern erkunden ein Milieu oder einen Kiez, wie zuletzt Johannes Ehrmann den Wedding in „Großer Bruder Zorn“.
Eva Sichelschmidt betreibt in Berlin das Geschäft „Whisky & Cigars“, sie ist Repräsentantin des Auktionshauses Grisebach und, wie der Klappentext mitteilt, mit dem Dichter Durs Grünbein verheiratet. Wer „Die Ruhe weg“ gelesen hat, wird danach beim Gang durch die „Kindergartenkieze“ des Prenzlauer Berg stets an Midlife-Crisis denken, in den Hausfluren und Dachgeschossen intelligente Frauen vermuten, die sich mit der Bequemlichkeit der Familienväter nicht abfinden wollen und doch dem elenden Komfort nicht entkommen können, ohne mehr zu zerstören als ihnen lieb ist. So anstrengend ist es also, wenn man nichts weiter vorhat, als das Leben optimal zu genießen. Für einen Neunanfang reist Marlies mit Tochter nach Rom, sie hätte auch einfach den Kiez wechseln können. Aber im Bötzowviertel liegt Italien viel näher als etwa die Gropiusstadt, die Neuköllner Großsiedlung, in der Imbisse und Dönerläden mit dem Namen des Bauhausarchitekten werben. Christiane F. ist dort aufgewachsen, in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ berichtet sie über das Ineinander von Tristesse und familiärer Gewalt.
Beides findet sich wieder in „Sonne und Beton“ von Felix Lobrecht. Vier Jungs, die eine Art Freundschaft verbindet, trinken, rauchen, werden geschlagen und prügeln sich. Ein Bruch in der Schule, die gerade mit neuen Computern ausgestattet wurde, verheißt ein paar tausend Euro für jeden.
Felix Lobrecht ist ein erfolgreicher Stand-up-Comedian. Er kann auf der Bühne berlinern, ohne Mario-Barth-artig peinlich zu wirken. Und er hat es geschafft, das Berlinische, dem man immer Schnelligkeit, Schlagfertigkeit nachgesagt hat, besonders langsam zu sprechen, als wolle er mit den Worten geizen. Lobrecht ist in Neukölln groß geworden. In einem Gespräch mit der Bezirksbürgermeisterin, Franziska Giffey, die „Sonne und Beton“ „echt, wahrhaftig, authentisch“ findet, erzählt er, dass sein Vater Christiane F. gekannt habe. Sein Roman einer Gropiusstadt-Jugend lebt vom Slang, einem jugendfreien Beton-Rap, dem die Jungs ihre lebensstabilisierenden Floskeln entnehmen: Ja, Dings, was geht; Schnauze, ja, Dings; ich schwör. „Du Opfer, ja. Guck mich an und kämpf wie ein Mann jetzt!“ „Alter Lukas, ey. Ich fick so was, ja … “
Vieles kommt vor: Gewalt, die Furcht, zum Opfer gemacht zu werden, Rassismus, Sprachlosigkeit. Eine Vorstellung vom Sozialen, von politisch adressierbaren Problemen ist damit nicht verbunden. Die Vier hängen fest in der Hölle der Immanenz, und wenn sie Geld haben, kaufen sie Kieztypisches. Ihr Schicksal scheint ein Naturereignis. Ist eben so.
Neben dem Kiez-Deutsch wirkt die Erzählerstimme des jungen Lukas bieder, daher wird es zwischen der eindrucksvollen Exposition und dem furiosen Finale etwas zäh. Aber dafür entschädigen Szenen wie die Aussprache mit dem Direktor, der mit Verachtung für „die ganzen Schwarzköpfe hier“ um das Vertrauen seines Schülers wirbt: „Dass hinter dem Einbruch irgendwelche Alis stecken, wissen wir beide, aber die werden nichts verraten, die halten zusammen. Und genauso müssen wir Deutschen auch zusammenhalten.“
Lobrecht befriedigt sogar das Leserbedürfnis nach Gerechtigkeit, und er tut dies gleich zweifach, einmal im Roman und dann mittels angehängter Zeitungsmeldung. Moral: Unrecht Gut gedeihet nicht.
Große Städte haben, schon aufgrund ihrer Undurchschaubarkeit, eine enge Beziehung zum Unheimlichen. Berliner Gespenstergeschichten erzählt der Dokumentarfilmregisseur Rudolph Herzog in seinem literarischen Debüt „Truggestalten“. Die sieben lose verknüpften, einander kommentierenden Geschichten spielen unter Hipstern und Managern, Künstlern und Sprachschülern, unter kosmopolitischen Existenzen und solchen, die sich frei wähnen. Aber dann belebt sich die Kreuzberger Wohnung, als wolle sie den Mieter vertreiben, oder Blutflecken tauchen auf oder eine abgehärmte, hagere Frau erteilt der Tochter eines sehr ambitionierten Geschäftsmannes Anweisungen. Die Helden dieser Geschichten fliegen um die ganze Welt. Sie könnten das Gefühl der Ungebundenheit genießen, wären da nicht die Gespenster der Vergangenheit, Leichen im Keller, Wiedergänger, Untote.
„Berlin war ein Tummelplatz von Ideologen mit Baukellen“: Herzog arbeitet topografisch genau, das Lesevergnügen verdoppelt sich, kennt man die Spuk-Straßen und ihr Image, verfolgt man die Bahnen seiner Helden auf dem Stadtplan. Das „Künstlerisch-Verruchte an Berlin“ und das architektonische Elend flackern im Zwielicht. Großstadtbewohner brauchen, wenn sie nicht urbanem Trug verfallen wollen, Gespenster-Kompetenz. Hier lernen sie, warum, wo einmal Gespenster waren, Normalität zum Ausnahmefall wird.
Dieser wo nötig effektbewusste, meist zurückhaltende Erzähler vermag sogar, was bisher weder Ingenieuren noch Reportern gelang. Er kann erklären, warum der Hauptstadt-Flughafen nicht fertig wird – und wohl nie fertig werden wird.
Okay, wo sind die
scheiß Computer?“,
sagt Sanchez.
„Nur Bücher, Bücher,
Bücher … Wozu
stehen hier so viele
Bücher, Alter?“
Eva Sichelschmidt:
Die Ruhe weg. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 2017. 320
Seiten, 19,99 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
Der eine Ort, wo sich alle begegnen: Enttäuschte, Ehrgeizige, Abgehängte. Vielleicht auch Gespenster: Blick in die Berliner U-Bahn.
Foto: Regina Schmeken
Felix Lobrecht: Sonne
und Beton. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2017. 224 Seiten, 18 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Rudolph Herzog:
Truggestalten. Galiani
Verlag, Berlin 2017.
256 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2017

Die rüstigen Rentner vom Prenzlberg
Joggen ist hier Schadensbegrenzung: Bekommt das Bötzowviertel mit Eva Sichelschmidts bösem Debüt "Die Ruhe weg", was es verdient?

Dieser Roman saß der Rezensentin noch in den Knochen, als sie ihre Joggingschuhe schnürte. Damals, als der Prenzlauer Berg noch eine große Wohngemeinschaft mit Kohleofen gewesen war, hatte sie mit dem Laufen begonnen. Runde um Runde vorbei an grillenden Studenten, saltoschlagenden Teenagern, Kletterfexen und den ehedem noch nackt sonnenbadenden Ostrentnern im Volkspark. Man sah mit schöner Regelmäßigkeit attraktive Mitläufer am Rondell und lief aus Sportsgeist gegen den Uhrzeigersinn. Am Trimm-dich-Pfad hängte man sich kopfüber an das schiefe Bügelbrett und betrachtete das Laub der Bäume, das sich mal grün und mal braun färbte. Jetzt, nach vielen Jahren der Abstinenz, bot sich ein anderes Bild. Die Nackten waren jetzt an- oder weggezogen, stattdessen allüberall: ergraute Familienväter in enganliegender Funktionskleidung, die ihrem wachsenden Bauchansatz den Kampf angesagt hatten. Ein paar Frauen staken ihre Nordic-Walking-Stöcke in den frischen Mulch.

Laufen, so schien es mit einem Mal, hieß hier im Viertel Schadensbegrenzung. Der Prenzlauer Berg war ja längst erwachsen geworden. Und mit ihm die Beweggründe der Leute: körperlicher Ausgleich für Computersklaven, Gewichtsreduzierung nach Schwangerschaft, Minimalausbruch nach jahrelanger Gefangenschaft im Familienkorsett. Eva Sichelschmidt hat jetzt das Sittengemälde dieses verschwitzten Milieus geschrieben. Ort der Handlung ist das beliebte Bötzowviertel, benannt nach der Bötzowstraße. Die günstige Nähe zum Park einerseits sowie zum belebten Kollwitzkiez andererseits machte die gepflasterten Straßenzüge nach der Wende zur attraktiven Wohngegend für junge Leute. Inzwischen sind aus den Liebespaaren von damals die Familien von heute geworden. Wer konnte, hat sich ein Dach ausgebaut - so wie Till und Marlies, die Hauptfiguren dieses bitteren Eheromans. Er ist dem Dichter Durs Grünbein gewidmet, mit dem die Autorin verheiratet ist, worauf der Klappentext eigens hinweist. Und sofort wird der solcherart angesprochene Leser zum gierigen Voyeur.

Wenn man an Tolstois berühmten Satz denkt, jede Familie sei unglücklich auf ihre Weise, dann scheint das nach dieser Lektüre nicht ganz zuzutreffen. Denn irgendwie sind sie alle unglücklich aus dem immer gleichen Grund: weil sie nicht mehr jung sind, und weil sie nicht mehr frei sind. Der improvisierte Lebensstil der Nachwendezeit und das große Versprechen vom alternativen Dasein in den Ruinen des Sozialismus sind allzu widerstandsfrei in eine Art Kleinbürgeridylle mit Altbauflair verwandelt worden. Und jetzt steht Marlies auf der Straße ihres niedlichen Viertels, in dem sie mit einem depressiven Repertoiremusiker ein eher vegetarisches Dasein fristet, und denkt: "Ficken." Und zwar beim Anblick eines anderen Familienvaters, der, ein Laufrad unter den Arm geklemmt und einen Jutekorb über die Schulter gegurtet, eine schwere Gründerzeittür aufwuchtet. Damit wäre das Grundproblem bereits auf Seite eins beschrieben: die Alltagsverkrümmungen gegen den Anspruch auf Haltung.

Endlich hat das Bötzowviertel den Kiezroman bekommen, den es verdient. Er ist böse und gemein und verhält sich somit umgekehrt proportional zu dem Versuch seiner Bewohner, alles richtig zu machen. Unsympathisches Volk, denkt man. Selber Schuld. Jetzt sitzen sie da in ihrem emanzipierten Familienglück und verstehen es nicht, glücklich zu sein. Wenn der Besuch der Eltern aus Westdeutschland beschrieben wird, dann kommen einem diese Oldies mit ihren Alkoholproblemen hedonistischer vor als ihre Kinder in den schönen Altbauwohnungen. Till jedenfalls liegt nach getaner Hausmannarbeit hauptsächlich auf dem Sofa, um seine chronische Depression wegzuschlummern. Marlies tigert passiv aggressiv oder hochexplosiv durch die gemeinsame Wohnung auf der Suche nach ein bisschen Abenteuer. Die Unruhe treibt sie klischeehaft in die Arme eines Yogalehrers. Die Sache fliegt auf. Die Kinder verstehen die Welt nicht mehr und müssen sich entscheiden. Man zieht kurzfristig mit je einem Kind auseinander. Schließlich soll ein windiger Job in Rom als Exitstrategie herhalten. Erst ein ausgebüchstes Kind (Abenteuer Flüchtlingszeltlager!) zwingt alle Familienmitglieder wieder an den gemeinsamen Esstisch. Die schlichte Erkenntnis setzt sich durch, dass man es so schlecht nun doch wieder nicht miteinander hatte. Fermate.

Doch wovon erzählt dieses pointenreiche Romandebüt eigentlich? Was besagen böse Sätze wie dieser? "Marlies hatte damals auch den Prenzlauer-Berg-Unisexlook für Vati und Mutti übernommen, Turnschuhe, Jeans und quer umgehängte Plattentaschen - bis heute sahen hier immer noch viele so aus. Von hinten waren Weibchen und Männchen kaum auszumachen." Was schenkt der Yogalehrer seiner frisch erblühten Marlies? Natürlich ein Paar Pumps. Und wo soll sie die bitte schön tragen? Auf dem Berliner Kopfsteinpflaster? Oder im Bett?

Wenn man diese Kiezkolportage als Großstadtroman durchgehen lässt, dann ist sie ein wunderbares Dokument für das Problem, das viele mit dieser Stadt haben. Sie will das kosmopolitische Versprechen, das ihr in den nuller Jahren abgepresst wurde, einfach nicht einlösen - da nützt auch das Einblenden von Flüchtlingsschicksalen nichts. Ein Kolumnist der "Berliner Zeitung" beklagte neulich den inflationären Gebrauch der englischen Sprache in gastronomischen Einrichtungen vor allem dort, wo das Personal hörbar aus Brandenburg stamme. Der alberne Versuch, fehlende Weltstädtischkeit durch die Imitation eines New Yorker Alltagsklischees wettzumachen, ist die Kehrseite der im Roman beschriebenen Tütteligkeit des Bötzowviertels.

Man kann diese Marlies natürlich verstehen und warum sie solche Ruhe für eine Provokation hält. Ein bisschen mehr Größe, ein bisschen mehr Leidenschaft, ein bisschen mehr Leben. Doch hat man von alldem tatsächlich so viel mehr in Städten wie New York, in denen eine Familie mit mehreren Kindern von vornherein bankrott ist? Und ist Berlin da nicht doch eine ziemlich lebbare Alternative? Schließlich gibt es noch viel zu entdecken hier? Warum schwingt sich Marlies nicht einfach mal aufs Rad und fährt, sagen wir, um nicht "Wedding" sagen zu müssen, nach Moabit? Oder sucht sich eine Sportart, die nichts mit Lifestyle zu tun hat? Biographische Sackgassen sind nicht schön. Aber wer eine Stadt wie Berlin an der nördlichen Grenze des Volksparks enden lässt und gelegentlich einen Abstecher nach Kreuzberg macht, der hat sich selbst hineinmanövriert. Ein Schicksal ist das nicht. Nur Stoff für Kolportage.

KATHARINA TEUTSCH

Eva Sichelschmidt:

"Die Ruhe weg".

Roman.

Knaus Verlag, München 2017. 320 S.,

geb., 19,99 [Euro].

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"Einen Großteil ihrer treffenden Pointen gewinnt Eva Sichelschmidt aus dem Problem, das die lebenshungrige Marlies mit der Stadt hat." Süddeutsche Zeitung, Jens Bisky