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Berliner Boulevard der Dämmerung: In seinem Roman über die zwanziger Jahre lässt Volker Kutscher den Stummfilm noch einmal sterben.
Im neuen Roman um den aufstrebenden Kriminalkommissar Gereon Rath, der im Berlin der zwanziger Jahre ermittelt, gibt es eine Nebenfigur, die gar nicht weiter auffiele, schlüge sie nicht die Schneise ins Jahr 2009. Zeitgenosse Weinert ist freier Mitarbeiter beim Berliner Tageblatt und kämpft sich mit Polizeireportagen durch die ausgetrockneten Kapitalflussbetten der Wirtschaftskrise. Im Roman heißt es: "Weinert hatte wenige Wochen vor Weihnachten viel Geld an der Börse verloren und kurz davor seinen Redakteursposten." Also bittet er seinen alten Freund Gereon Rath um Hilfe: "Hast du denn was? Ich könnte einen Reißer gebrauchen, am liebsten einen exklusiven." Damit ist nicht nur ein Ermittlerteam gebildet, sondern der neue Roman von Volker Kutscher auch gleich sozialklimatisch etabliert.
Es ist der zweite Kriminalfall von Gereon Rath, der bereits im Vorgängerroman "Der nasse Fisch" wegen einer Schießerei aus dem Rheinland zwangsversetzt wurde, und so ermittelt der Kommissar jetzt im reichshauptstädtischen Sündenpfuhl. Eben noch am langen Arm der Sittenpolizei, hat er sich - mehr fasziniert als tugendhüterisch - mit den Hinterzimmern der Pornoindustrie vertraut gemacht. Im aktuellen Fall ist das Milieu nicht weniger anstößig. Die Stummfilmdiva Betty Winter wird während der Dreharbeiten zu ihrem ersten Tonfilm von einem glühenden Scheinwerfer erschlagen und anschließend vom eigenen Ehemann mit Löschwasser übergossen, also - nach allen Regeln der Forensik - ausgeschaltet. Doch das ist nur der Anfang.
Zwei Berliner Produktionsfirmen scheinen sich gegenseitig zu beharken. Spionage und Plagiatsprozesse sind noch die kleineren Geschütze in dieser Wirtschaftsfehde. Der Sabotagevorwurf mit Todesfolge wiegt da schon schwerer - immerhin arbeiteten beide Firmen an der Verfilmung des gleichen Stoffs. Der Konkurrenzkampf zwischen "Liebesgewitter" und "Vom Blitz getroffen" tobt unter olympischen Bedingungen. "Eine romantische Komödie mit einem Schuss Übersinnlichkeit", in der sich der germanische Donnergott Thor in eine Sterbliche verliebt und sie mit Krawall verschreckt, wird von der Konkurrenz kurzerhand auf den Olymp übertragen, wo Zeus nun um die Gunst der Erdlingin buhlt. Die Handlung aus der Frühphase des Tonfilms ist im Endeffekt auch gar nicht idiotischer als zum Beispiel die einer zeitgenössischen Bollywood-Produktion. Zur Aufklärung des Mordes taugt sie nicht. So muss erst eine zweite Schauspielerinnenleiche auftauchen, um die Polizei auf das Werk eines Serientäters zu bringen: Pikanterweise hat der sich auf Stimmbänder spezialisiert.
Man ahnt, worauf das hinauslaufen wird, denn früh lenkt Kutscher die Aufmerksamkeit auf die medientechnische Wende von der Ära des Stumm- zu der des Tonfilms. Eine Wende, die nicht nur das Entsetzen einiger Stummfilmfanatiker hervorrief, sondern einen ganzen, im Grunde ja noch jungen Wirtschaftszweig vor die Überlebensfrage stellte.
Der historische Krimi ist eine boomende Gattung. Das Verbrechen in seiner universalen Verbreitung lässt sich im Tutu der jeweiligen Epoche variantenreich inszenieren. Oft dient die kriminalistische Spur mehr dem Eintritt in die Kulissen einer vergangenen Lebenswelt als der Befriedigung von Gattungsregeln. Auch Kutscher legt die bereits schwer angeschlagene Weimarer Republik in Sepia. Seine Milieuschilderungen ergeben ein stimmiges Bild der Zeit, aber sie überraschen kaum. "Es herrschte nur wenig Betrieb, kurz vor acht waren die meisten Berliner in Bewegung und hatten keine Zeit für einen Kaffee. Vor allem, wenn er in Kännchen serviert wurde."
Bei Kutscher geht es eben um die letzten Zuckungen der jungen, noch von Arbeiteraufständen gerüttelten Republik, aber das Politische weht eher aus protokollarischen Gründen ins Geschehen. Die Wessel-Beerdigung findet Erwähnung, Adenauer hat ein Problem mit "Jlanzstoffaktien", und im Machtkampf der Produzenten deuten sich antisemitische Tendenzen an. Doch Kutscher hält seine Figuren weitgehend von den Töpfen mit der politischen Fingerfarbe fern. "Nazi zu sein ist Mode", sagt sein Kommissar einmal, "aber was soll's - die Moden kommen und gehen." Ein bisschen mehr Verirrung hätte dem Roman wohl gutgetan.
So stapft die Handlung im Dekor der kraftlosen Republik von Reminiszenz zu Reminiszenz, von der Avus zum Funkturm, vom "Resi" zum Luisenufer. Wann immer es geht, zündet der Kommissar sich dabei eine "Overstolz" an, versucht die dummen Frauengeschichten zu vergessen und seine dubiosen Verbindungen in die Berliner Unterwelt. Marlow heißt sein Kontaktmann (eine Reverenz an Raymond Chandlers melancholischen Detektiv Philip Marlowe?). Dieser Seitenstrang der Erzählung wird nicht weiter verfolgt, soll aber suggerieren: Hier verwischen die moralischen Konturen. Kutscher drückt kräftig auf den Parfümzerstäuber und besprüht seinen Roman mit einem Hauch von Noir, dabei hat er am Ende mehr von einer gezierten Varieté-Nummer: Wo sonst wird ein Mörder wegen eines verlorenen Toupets überführt und Raths Rettung aus den Klauen des Psychopathen eingeleitet durch die Worte einer jungen Stenotypistin: "Berolina Nullnull dreiundzwanzig - Mordbereitschaft."
KATHARINA TEUTSCH
Volker Kutscher: "Der stumme Tod". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 542 S., br., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Zwei Jahre nach 'Der nasse Fisch', dem furiosen Start der wohl ambitioniertesten deutschen Hardboiled-Reihe, legt Volker Kutscher nun die Fortsetzung vor: Mit 'Der stumme Tod' ist dem Kölner Autor erneut ein glänzend recherchierter, handwerklich solider, spannender Pageturner gelungen." Der Tagesspiegel
"Für den deutschen Gegenwartsroman, der oft an einer merkwürdigen Geschichtsvergessenheit laboriert, sind die Erinnerungsarbeiten von Kutscher ... ein großer Gewinn. [Sein] historisches Genre hat Zukunft." Buchjournal
"Das Buch führt auf kluge Weise Fiktion und historische Tatsachen zusammen, ohne ständig mit dem Zeigefinger der Belesenheit zu protzen." Die Welt
"Für Krimifans, die längst ermüdet von den ewig gleichen grenzdepressiven Ermittlertypen aus dem kalten Norden sind, war 'Der nasse Fisch' schon ein Genuss, den 'Der stumme Tod' noch steigert." Kölnische Rundschau