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Ein Mann geht zum Briefkasten und gerät in seiner Erinnerung auf den täglichen Weg zur Arbeit im unheimlichen Heizkraftwerk einer Fabrik. Ein anderer entdeckt eine abgelegene Insel in einem See, auf der die Natur ein wucherndes, magisches Regiment entfaltet, und betritt noch einmal die Wildnis einer Nachkriegskindheit. Ein dritter kehrt in seine Heimatstadt zurück und fühlt sich verfolgt nicht nur der Stadt, auch sich selbst entkommt er nicht. Wolfgang Hilbigs Figuren folgen einer verwischten Spur ins Unbewusste und Vergangene, die sich durch dunkle Erinnerungslandschaften zieht.

Produktbeschreibung
Ein Mann geht zum Briefkasten und gerät in seiner Erinnerung auf den täglichen Weg zur Arbeit im unheimlichen Heizkraftwerk einer Fabrik. Ein anderer entdeckt eine abgelegene Insel in einem See, auf der die Natur ein wucherndes, magisches Regiment entfaltet, und betritt noch einmal die Wildnis einer Nachkriegskindheit. Ein dritter kehrt in seine Heimatstadt zurück und fühlt sich verfolgt nicht nur der Stadt, auch sich selbst entkommt er nicht. Wolfgang Hilbigs Figuren folgen einer verwischten Spur ins Unbewusste und Vergangene, die sich durch dunkle Erinnerungslandschaften zieht.
Autorenporträt
Hilbig, WolfgangWolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung).Wolfgang HilbigWERKEBand I GEDICHTEBand II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSABand III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen)Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman)Band V »ICH« (Roman)Band VI DAS PROVISORIUM (Roman)Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWSLiteraturpreise:1983 Brüder-Grimm-Preis1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin1987 Kranichsteiner Literaturpreis1989 Ingeborg-Bachmann-Preis1992 Berliner Literaturpreis1993 Brandenburgischer Literaturpreis1994 Bremer Literaturpreis1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft)2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik2002 Georg-Büchner-Preis2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg
Rezensionen
Kindheit
In seinem neuen Buch Der Schlaf der Gerechten kehrt Wolfgang Hilbig an die Stätten seiner Kindheit zurück. Die sieben Erzählungen, die in diesem schmalen aber gehaltvollen Band versammelt sind, waren - in mehr oder weniger veränderter Form - bereits in diversen Zeitschriften zu lesen. Hilbig ordnet sie in zwei Gruppen an: die erste Gruppe, die vier Erzählungen enthält, behandelt Erinnerungen an die frühe Kindheit, wohingegen die Erzählungen der zweiten Gruppe in unbestimmten Erinnerungsräumen verortet sind.
Nachkriegszeit
Hilbig ist 1941 in Meuselwitz bei Leipzig geboren. Seine Erzählungen handeln somit im Wesentlichen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Armut und Hoffnung beherrschen die Stimmung; der Schatten des sozialistischen Regimes aber, der bald über die sowjetische Besatzungszone ziehen wird, ist bereits fühlbar. Die Kindheit bleibt nicht unberührt. In den üblichen Drohungen der Älteren erreicht er die Kinder: den Kohlen klauenden Kameraden Hilbigs wird beispielsweise mit dem Zug nach Sibirien gedroht.
In diesen Erzählungen geht er aber weit über die üblichen Beschreibungen von Kindheitserinnerungen hinaus. Ohne sich auf das Niveau des Kinderblicks zu begeben, gelingt es ihm dabei - trotz des reflektierenden Erwachsenenblicks - diese Zeit und ihre Atmosphäre spürbar zu machen.
An manchen Stellen bekommt seine Prosa lyrische Qualitäten. Besonders wird dies in der kurzen Erzählung "Der Schlaf der Gerechten" deutlich. Diese Titel gebende Erzählung ist nachgerade ein Prosagedicht. Seine Sprache verdichtet sich hier um das Thema Schuld und Tod in ungewöhnlichen Metaphern und Bildern zu einem erst zu entschlüsselnden Tableau.
Hoch literarisch
Jede der Erzählungen ist düster und hinterlässt einen bitteren Geschmack. Aber der Strom der Erinnerung, aus dem sie fließen, ist hoch literarisch, und Hilbig zeigt sich hier als großer Sprachartist, bei dem auch komplexe Sprachfiguren ungezwungen und natürlich wirken. Hilbig ist ein Autor einer verschwindenden Generation und mit Der Schlaf der Gerechten hat er einen Erzählband vorgelegt, der beweist, das diese Generation auch heute noch viel zu sagen hat und literarisch noch immer sehr ernst genommen werden muss.
(Andreas Rötzer)

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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2003

Im Lichtschein von Mutters Stubenlampe
Expeditionen im Kellergewölbe der Geschichte: Wolfgang Hilbigs Erzählband "Der Schlaf der Gerechten"

Wolfgang Hilbig ist der Wahrheit auf der Spur. Hat er sie einmal ausgemacht, fürchtet er sich nicht, ihr frontal ins Gesicht zu schauen. Seine Methode ist jene der Langsamkeit, sein taktischer Vorteil der Hang zu bleischwerer Beharrlichkeit. Zäh und lautlos wie ein Jäger nimmt er die Spur des Wildes auf. Mit einer fast einschläfernden Ruhe entwickelt er seine Geschichte, um dann plötzlich, aus dem Stand heraus, präzis und brutal zuzuschlagen. Nur: Wer ist das Wild, wer das bevorzugte Objekt seiner Beobachtung? Umzingelt er in seinen neuen Erzählungen "Der Schlaf der Gerechten" die private Beziehungsgeschichte? Beobachtet er das beklemmende Eingeschnürtsein seines Ich-Erzählers zwischen Mutter und Gattin, zwischen Gattin und Geliebten? Oder umkreist er - auch wenn es im ersten Moment gar nicht so scheinen mag - wieder die BRD und die DDR, die alte Heimat, die anziehend-abstoßende Geliebte?

Wolfgang Hilbig arbeitet wie schon in seinem dämonischen Roman "Das Provisorium" (2000) mit der gezielten Überblendung mehrerer Erzählebenen; eine Strategie, die seine Texte auf eine verstörende Weise verdichtet, wobei dem Leser die letzten Fragen zwar gestellt, aber nie beantwortet werden. Sieben Erzählungen versammelt Hilbig in dem Band "Der Schlaf der Gerechten". Die meisten sind bereits in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. Flankiert werden sie von zwei Erstveröffentlichungen - "Ort der Gewitter" und "Der dunkle Mann". Es sind die stärksten Texte des Buches. Kein Wunder, daß genau sie vom autobiographischen Substrat leben. Der 1941 geborene Autor hat, wir wissen es, eine beinahe "exemplarische" deutsche Autoren-Vergangenheit: Geboren wurde er in Meuselwitz bei Leipzig, 1985 übersiedelte er in die BRD, heute lebt er in Berlin, und losgekommen ist er vom traumatisierenden Kontinent der Kindheit nie. Also ist es wieder das Vater- und Mutterland, das er erzählerisch umstellt. Also sehen wird wieder die DDR mit ihren Fallstricken aus Lügen, Verdächtigungen und Heucheleien, an denen die Bürger baumeln. Also werden wir wieder konfrontiert mit dem Säurebad der Überwachungskultur, welche das Zusammenleben der Bürger zersetzt. Aber wir tauchen auch in die Nachtseiten des Ich-Erzählers ein, beobachten seine schwerblütigen Beziehungen, seine kühne Einsamkeit, seine neurotischen Verstrickungen, studieren die fatalen Abhängigkeiten und lähmenden Zwänge, an denen er klebt. Und wir kehren mit ihm zurück auf das Territorium der Kindheit, dorthin, wo alles seinen Anfang genommen hat.

"Ort der Gewitter", die Eingangserzählung, ist eine solche Kindheits-Etüde. Auffällig an diesem Text ist, daß er um eine klaffende Dauerlücke angeordnet ist: Die Position des Familienvorstandes ist unbesetzt. Es ist Nachkriegszeit, Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in diesem DDR-Dorf mit seinen Trümmerfeldern, aus denen schwarzes Gebälk und Ruinenwände ragen: Reste ehemaliger Munitionsfabriken, in denen während des Kriegs die Gefangenen der Konzentrationslager gearbeitet haben. Wahrheit, auf die Wolfgang Hilbig aus ist, heißt hier: die Fratze des Krieges erkennen und die Spuren der Verwüstung benennen, die sie in den Menschen zurückgelassen hat. Viele der Kinder, die verwahrlost auf den Bürgersteigen herumlungern, sind vaterlos. Ihre Tage verbringen sie herumstreunend, auf den Eingangsstufen vor den Haustüren sitzend, die wegen des Kohlestaubes immer geschlossen sind, sich zu Banden zusammenrottend, die in fremden Kellern nach vergessener Munition wühlen. Wie schon in früheren Büchern evoziert Wolfgang Hilbig das Drama des vaterlosen Kindes, das in einem Vakuum erwachsen werden soll, mit einem einzigen, grandios schlichten Bild: Der Knabe liegt im Doppelbett neben der Mutter. Der Vater, so erfährt man, ist in den Eisfeldern von Stalingrad verschollen. Es sind diese blitzschnell eingeblendeten Imaginationen, mit denen die ungeheuerliche, zu Tode geschwiegene Not einer ganzen Generation eingefangen wird. Das Kind nämlich erwacht im Vaterbett und erkennt sich auf einmal im Spiegel auf der anderen Zimmerseite wieder; wie es jetzt von einem Gefühl der Fremdheit überfallen wird, von diesem Eindruck wankender Bodenlosigkeit, da es im eigenen Spiegelbild keine Spur von Ähnlichkeit mit dem bräunlichen Porträtbild des Vaters mit dem Stahlhelm entdeckt, und wie es sich selbst in der eigenen Verspiegelung immer verlorener vorkommt, das sagt auf knappstem Raum mehr über den Selbst- und Identitätsverlust und über das ambivalente Verhältnis einer Generation zu ihren Kriegervätern, als dies ganze Untersuchungen zu leisten vermöchten.

Gegenstück dazu ist die Erzählung "Der dunkle Mann". Virtuos führt Hilbig die Brechung der eigenen Geschichte im historischen Drama vor. Er deckt die Wahrheiten im Faltenwurf der Geschichte auf und führt literarisch die Relativität jedes definitiven Urteils vor. Denn obwohl der Schriftsteller mit der Figur des Stasi-Spitzels, der das Privatleben seines Ich-Erzählers schamlos ausspioniert, die Würdelosigkeit dieses Staates und seine höhnische Respektlosigkeit vor der Privatsphäre des einzelnen kraß vor Augen führt, gibt er uns am Ende doch keine Gewißheiten und schon gar keinen Schiedsspruch in die Hand.

Es gibt in diesem Text kaum feste Standorte - nur schwimmende Flöße, von denen aus die Landschaft überblickt werden kann. Ein Schriftsteller, der mit seiner Frau seit längerem im Streit lebt, erhält eines Abends einen dubiosen Anruf. Was sich ihm vorerst verhüllt, wird ihr sofort klar: Es gibt eine geheime Verbindung zwischen dem Mann im Dunkeln und den wild entbrannten Diskussionen über die Archive der Staatssicherheit, die eben geöffnet wurden. Hilbig läßt an dieser Stelle auch die emsigen deutschen Schriftstellerkollegen nicht ungeschoren, die, wie es heißt, "auf dem Bildschirm vorwärts und rückwärts über die Öffnung einiger Tonnen von Stasi-Akten redeten" und sie, so schien es ihm, "zum Hauptthema ihres literarischen Lebens machen wollen, wohl in Ermangelung eines anderen, eigenen Themas". Er könne, meint der Ich-Erzähler spottend, den Verdacht nicht unterdrücken, "die auf einmal öffentlich zugänglichen Akten hätten ihnen ihr literarisches Leben gerettet". Der mysteriöse Anrufer entpuppt sich als feiger Überwacher, der sich jetzt, da die Verhältnisse gekippt sind, rechtzeitig mit seinem Opfer arrangieren möchte - bevor ihn die Rache des Verfolgten treffen würde.

Was Wolfgang Hilbig erzählstrategisch unternimmt, verdient Beachtung: Er zeigt Opfer und Täter in einem grotesken Totentanz, der alle Qualitäten einer Umarmung verkörpert: Das Spiel entwickelt sich nach den Regeln der Erotik. Es geht von der Annäherung durch das Locken des Täters über die Berührung durch seine niederträchtigen Konfessionen bis hin zur Verschmelzung der Gegner, der Tötung des Spitzels und der kaltblütigen Entsorgung des Leichnams durch das Opfer - wobei sich Opfer und Täter in der verbissenen Todes-Umklammerung immer ähnlicher werden. Ganz abgesehen davon, daß Wolfgang Hilbig erneut seine ebenso bildstarke wie dramaturgische Gestaltungskraft unter Beweis stellt: Die Geschichte hat ihre großen literarischen Qualitäten, weil es dabei keineswegs bleibt. Im Gegenteil, die politische Sequenz ist auf feinste Weise verschränkt mit der Ehegeschichte zwischen dem schwerenöterischen Schriftsteller und seiner coolen Frau aus dem Westen. Und die Karikatur des turbulenten Ehelebens im West-Häuschen, in dem einfach kein Frieden sein kann, ist wiederum eng verwoben mit der Mutter-Sohn-Geschichte, die einen Sohn zeigt, der nur am Rockzipfel der Mutter überleben und nur im Lichtschein ihrer Stubenlampe schreiben kann.

Natürlich wird damit "Der dunkle Mann" zum Gleichnis des krisenhaften Annäherungsprozesses der beiden Deutschland. Nur: Wolfgang Hilbigs Sätze führen auf ihrer Oberfläche keine Thesen mit sich, seine Helden verkündigen keine Botschaften, und der Autor läßt sich von keiner Seite vereinnahmen. Beeindruckend wird der Text gerade durch seine feine, hochdifferenzierte Textur. Es sind Recherchen im verschütteten Gelände, Expeditionen im angsterregenden Kellergewölbe der Geschichte.

Wolfgang Hilbig: "Der Schlaf der Gerechten". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 192 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Ins Wasser gehen
Ein kurzes Aufbäumen, und ich war wieder still: Wolfgang Hilbigs Erzählband „Der Schlaf der Gerechten”
Mehrfach wird in diesem Buch vor der Lektüre von „Buffalo Bill” oder dem „Reiter mit der schwarzen Maske” gewarnt, als seien die Abenteuer der Männlichkeit jemals mehr als ein Versprechen gewesen. Man werde, so die Mutter, von den Heftchen aus West-Berlin „bis ins Innerste und endgültig verdorben”. Gelesen hat der Junge sie dennoch. Welche Abenteuer wären ihm sonst geblieben in der Zeit des beginnenden Friedens? „Der Frieden, das war deutlich, wurde von den Uhren beherrscht, die Uhrzeiten hatten die Macht übernommen, und sehr schnell war zu bemerken, dass man der Macht der in Ordnung gebrachten Zeitabschnitte nicht mehr entging.”
Mit dem Wunsch, sich unter Kerlen zu behaupten, mit Zigarette, Gewehr und Romanheft also, beginnt Wolfgang Hilbig sein neues Buch. In der letzten der sieben Erzählungen begeht der Held einen Mord und dürfte damit endgültig als erwachsen gelten. Nur die Landschaft wirkt weiterhin zeitlos, unerlöst, verkommen. Brachen, Ruinen, Schlamm bestimmen die Szenerie. Was darin dem männlichen Helden widerfährt, ist von vorgestanzten Mustern nicht sehr weit entfernt, und man würde den Band vielleicht schnell wieder aus der Hand legen, gäbe es da nicht den selten so rein und rundum gelungenen Hilbig-Sound, den ruhig und kraftvoll fließenden Strom der Worte, der Zeit still stellt, wie ein andauernder Rausch es tut. „Es gab”, heißt es in der ältesten Erzählung, „Flaschen im Keller” aus dem Jahr 1987, „keinen Tropfen Alkohol der in mir nicht am rechten Platz gewesen wäre.”
Die kleine Omega-Insel
Das „kräuterschnapsbittere Herz”, die „sirupgefüllten Adern”, die „kandierten Eingeweide”, die nichts bei sich behalten, bis im Innern „nur noch staubschwarzer Kristall ist”, scheinen in diesen Erzählungen nach Worten zu suchen. Man kann sie, obwohl zu verschiedenen Zeiten entstanden, wie einen fortlaufenden Text lesen, der von der Nachkriegszeit bis zur Begleichung einer alten Rechnung nach dem Fall der Mauer reicht. Gute Bekannte kann man wieder treffen, Heizer, wie Hilbig selber einer war, den Schriftsteller C. aus dem Roman „Ich”, die Stadt M., die Tagebaulandschaften. Bis ins Innerste verdorben scheint in diesen schwarzen Erzählungen vieles, das Private wie das Historische.
Da gibt es „Kommen”, wahrscheinlich die schönste Erzählung des Bandes, eine Art Pubertätsgeschichte, die beginnt, wie ein romantisches Märchen: „Es ist, als hätten mir während meiner ganzen Kindheit die Ohren geklungen vom Geschrei der Frauen.” Meist soll es geklungen haben, als wollten sie sagen: „Wir gehen ins Wasser”, wozu der Junge, kalt, unpünktlich, ein liebesunwilliger Nestflüchter, regelmäßig Anlass bot. Eine „kleine Halbinsel, die in Form eines Omega in einen abgelegenen Waldsee hineinragte”, wird ihm zum Zufluchtsort. Hier erlebt er, ein Deutscher in der Landschaft, seine erotische Erweckung.
Er ist, als das geschieht, allein: „ein kurzes Aufbäumen und Strecken meiner gefangenen Wirbelsäule nur, und ich war wieder still, plötzlich war ich weich und gefühllos, selbst nur noch Fäulnis und Wasser, und ununterscheidbar von den Elementen um mich und über mir, mit denen ich mich vermischt hatte”. Nun, nach diesem Augenblick fehlen ihm die Frauen, und sie werden immer fehlen, und es bleibt nur die Landschaft, die Hilbig, vor keiner Doppelung, keiner Übersteigerung zurückscheuend ausmalt.
Dass Hilbigs einzigartiger Begabung, Szenen, Orte, Gerüche und die tastbaren Dinge zu beschreiben, der Sinn für das Konstruktive, den Bau einer Geschichte fehlt, hat man, gerade nach der irrtierenden Lektüre seiner Romane ab und an bemerkt. Vor dieser Erzählung wird das Urteil nichtig, weil die Unterscheidung nicht mehr gilt. Hier treiben in der Tat die Worte, Motive die Handlung voran, als habe einer Tieck ins Expressionistische übertragen.
Direkter, politischer geht es in der Erzählung „Der dunkle Mann” zu, der letzten des Bandes. Fernsehen, Stasi, Umweltschutz werden hier angesprochen, mache Meinung kennt man aus Hilbigs Frankfurter Poetikvorlesung „Abriss der Kritik”. Abgehandelt werden eine Liebesaffäre, der Tod durch Krebs, unterschlagene Briefe. Ein Schriftsteller und den für ihn verantwortlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit treffen sich in der seltsamen Stimmung der Nach-Wende-Zeit, in der Szenen aus Groschenromanen noch einmal möglich werden. Einmal löst sich die Spannung der Sätze hier nicht in Vereinigung mit der Landschaft, sondern in Mord und einem eingefrorenen Lächeln.
Dass die Ordnung immer schon feststand, dass alles in Abschnitte eingeteilt war, hat Hilbigs Schriftstellerbiografie geprägt, ihn zum Fachmann für die Zwischenreiche, die vom Zugriff verschonten Orte gemacht, an denen man allein sein konnte, in Ruhe gelassen mit sich und der Sprache. In „Kommen” und „Der dunkle Mann” gewinnt diese Einsamkeit eine neue Qualität. Der einzelne rennt nicht mehr gegen Mauern, schreibt nicht mehr gegen alle Welt, fast heiter vereint er sich mit dem großen Gang des Ganzen durch die Wiederaufnahme sehr bewährter Muster.
JENS BISKY
WOLFGANG HILBIG: Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 191 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Roman Bucheli stellt fest, dass Wolfgang Hilbig auch in diesen Texten "wie unter Zwang" zu den Schauplätzen seiner Kindheit zurückkehrt. Das sind vor allem die durch den Braunkohleabbau zerstörten Landschaften bei Leipzig und der kleine Ort Meuselwitz, in dem Hilbig geboren wurde, erzählt der Rezensent. In den Erzählungen geht es um "Verhängnisse der Kindheit" und um "Versäumnisse des Erwachsenen", resümiert Bucheli, dem es vorkommt, als gingen die Erzählungen aus einem einzigen großen "Strom der Erinnerung" hervor. Insgesamt macht der Band auf den Rezensenten einen eher düsteren Eindruck, aber er hat wohl auch nichts anderes erwartet. Einziger Rückzugsort ist der Küchentisch der Mutter des Erzählers, wobei das, wie der Rezensent betont, keine "Regression" darstellt, sondern zum Zeichen einer gegenseitigen "Fürsorglichkeit" wird.

© Perlentaucher Medien GmbH
Wolfgang Hilbig beschreibt Gerüche, Staub und Hitze so, dass der Leser riecht, schnieft, schwitzt und die letzten Seiten mit rußgeschwärzten Fingern umblättert. Berliner Zeitung