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Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur "verlorenen Generation", der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Anita ist aus Not in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die regelmäßigen Demonstrationen auf der Puerta del Sol im…mehr

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Produktbeschreibung
Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur "verlorenen Generation", der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Anita ist aus Not in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die regelmäßigen Demonstrationen auf der Puerta del Sol im Herzen der überhitzten Metropole. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern: Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle - auch Mutters geheimnisvoller deutscher Liebhaber - für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als Anita sich hätte träumen lassen: "Es fühlte sich gut an, meine Mutter zu sein. Ich war schön, auf eine mir unbekannte Weise ... Selbst in den Gesichtern mancher Frauen sah ich ein Aufleuchten."

Unerschrocken nimmt Anna Katharina Hahn in ihrem dritten Roman die drängendsten Probleme der Gegenwart ins Visier: Das Kleid meiner Mutter ist ein phantastischer Generationen- und Liebesroman aus den Zeiten der Eurokrise und zugleich ein poetisches Welttheater zwischen Spanien, Berlin und Stuttgart. Am Ende scheinen fast alle Fäden bei einem geheimnisumwitterten Schriftsteller zusammenzulaufen, dem man nachsagt, über Leichen zu gehen. Doch vielleicht ist auch das eine Täuschung.
Autorenporträt
Hahn, Anna Katharina
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage, der auch ins Englische und Finnische übersetzt wurde. Ihr Roman Am Schwarzen Berg stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. 2016 erschien Das Kleid meiner Mutter. Die Recherchen für Aus und davon führten sie in die USA und nach Mainz, wo sie 2018 die renommierte Stelle als Stadtschreiberin innehatte. Zugleich zeigt sie in ihrem neuen Roman ein unbekanntes Stuttgart, fern aller Klischees von der satten Schwabenmetropole.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Alkohol, Zigaretten, ein bisschen Party - wo die Perspektive fehlt, vermag nur der kurze Rausch ein wenig vom alltäglichen Jammertal abzulenken. Dass die ausgebildete Lehrerin Anita mit Gelegenheitsjobs ihr Dasein bestreiten muss, gehört zum Los der "Generación Cero". Im Blues der Nostalgie schreibt sich die 1970 in Stuttgart geborene Autorin Anna Katharina Hahn in das Schicksal jener verlorenen Jugend Spaniens ein. Sie erzählt von Armut und Überdruss und geht dabei weit über eine bloße Sozialkritik hinaus. Die Wirklichkeit ist nicht genug. Zumindest nicht für ihre Heldin. Als Anita eines Abends ihre Eltern tot im Bett auffindet, wird ein Experiment schnell zu einem neuen Existenzentwurf: Mit den alten Kleidern ihrer Mutter schlüpft sie förmlich in ein neues Leben, das ihr selbst rätselhaft, magisch und surreal erscheint. Eine wendungsreiche Geschichte, gehalten in einem leichtfüßigen, bisweilen lapidaren Ich-Erzähler-Sound, die zwar eine solide Lektüre verspricht, wer allerdings Hahns intelligente Fabulierkunst - etwa in ihren Romanen "Kürzere Tage" oder "Am schwarzen Berg" - zu schätzen gelernt hat, den werden Phrasen wie "sie sind meine besten Freunde, mein Heimathafen" kaum zufriedenstellen. So bleibt bei ihrem neuen Roman leider das Prädikat: ausbaufähig.

© BÜCHERmagazin, Alva Gehrmann

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Soziale Millieus gestochen scharf abbilden, das kann Anna Katharina Hahn, was sie mit "Kürzere Tage" bewiesen hat, findet Rezensent Ijoma Mangold. "Das Kleid meiner Mutter" beginne ebenfalls vielversprechend, mit einem ähnlich gekonnten Zugriff auf die Gegenwart Spaniens, seiner lost generation, einer jungen Generation, die akademisch gut ausgebildet und trotzdem arbeitslos ist. Doch als der Roman zum Künstlerroman umschwingt, gerät alles aus den Fugen, klagt der Kritiker. Prätentiös, pathetisch und ungeschickt kommen Hahns Versuche daher, in eine "Dimension künstlerisch-existenzieller Radikalität" vorzudringen, schreibt Mangold enttäuscht. Das behauptete Genie, der Schriftsteller Gert De Ruit, auf dessen Spuren sich die junge Protagonisten begibt, wirke so ganz und gar nicht genial, eher wie ein mittelmäßiger Möchtegern, ein Selbstdarsteller. Fazit des Rezensenten: Was so leichtfüßig und vielversprechend begann, scheitert am Ende "kolossal".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2016

Hilfe, man hat meine Eltern geschrumpft!
Anna Katharina Hahn auf hispanischen Spuren: Ihr Roman "Das Kleid meiner Mutter" ist ein Vexierspiel

Es beginnt als Krisenroman: "Du hast, du nicht, du hast, du nicht. Oder: winner, loser. Geldverdiener, Hungerleider, Geldverdiener, Hungerleider. Jeder zweite von uns ist arbeitslos. Sie nennen uns ,Generación Cero'. Die einzigen, die sich um uns kümmern, sind unsere Familien." So steht es auf Seite 19, und schon zuvor hatte Anita ihr Klagelied einmal angestimmt. Wir sind im Madrid des Sommers 2012, auf den Plätzen und in den Parks bricht sich der Volkszorn Bahn, vor allem seitens junger Menschen. Anita aber ist meiste nicht dabei, obwohl auch sie jung ist und in einem ebenso engagierten wie desillusionierten Freundeskreis verkehrt. Anita bleibt zu Hause, bei ihren Eltern, doch die sind tot. An einem der sowohl politisch als auch wettertechnisch heißen Augusttage findet die arbeitslose Vorschullehrerin das alte Paar leblos im Schlafzimmer. Und im Laufe dieses Buchs schrumpfen die Körper der Toten immer weiter zusammen, bis sie klein sind wie Puppen und auf die entsprechende Weise ausstaffiert von Anita mit auf die Straße genommen werden können.

Was also ist das nun für ein Roman? Ganz sicher kein reines Krisenbuch. Anna Katharina Hahn will viel mehr. Und das soll etwas heißen nach den beiden Romanen, mit denen sie bekannt geworden ist: "Kürzere Tage" (2009) und "Am schwarzen Berg" (2012), beide angesiedelt in Stuttgart. Das waren in der Tat Krisenromane, wenn auch nicht in ökonomischer, sondern in psychologischer Hinsicht: geradezu chirurgische Schnitte ins Profil des deutschen Mittelstands, geschrieben aus einer tiefen Vertrautheit der 1970 im schwäbischen Ruit geborenen und nach langen Jahren in Berlin mittlerweile wieder in der baden-württembergischen Landeshauptstadt lebenden Autorin. Mittelstand, das waren in Spanien auch noch die Eltern von Anita, ein pensionierter Literaturkritiker und seine Frau. Doch die Tochter - wie auch ihr in Deutschland arbeitender Bruder - halten sich nur noch gerade so über Wasser. Sie haben betreffs ihrer Zukunftshoffnungen bereits einen eigenen Schrumpfungsprozess hinter sich. Aber das ist nur vordergründig das Thema des Romans "Das Kleid meiner Mutter".

Anita wird, wann immer sie sich in ein Kleid ihrer Mutter hüllt, meist mit dieser verwechselt. Niemand außer ihr weiß ja überhaupt, dass die Eltern tot sind, aber ist nicht auch das eine große Wahnvorstellung, inklusive des Zusammenschrumpelns wie nach einem Voodoozauber? Wir werden es nie erfahren, denn Anna Katharina Hahns Buch nimmt mehrere Wenden und wird dabei jedes Mal etwas anderes: etwa zu einem modernen "Decamerone", denn im vom Wirtschaftskreislauf abgekoppelten Freundeskreis von Anita erzählt man sich regelmäßig Geschichten wie bei Boccaccio - auch hier weiß niemand, ob sie wahr sind, obwohl das als Voraussetzung gilt, sie zum Besten geben zu dürfen. Und so sind in die Handlung eingeschoben zwei Madrider Anekdoten: von zwei Ladendieben im Supermarkt, die unter der Kälte der von ihnen am Körper versteckten Tiefkühlkost kollabieren, und von einer jungen Verkäuferin, die nach der Arbeit ein einsames Mädchen aus dem Laden einfach mit nach Hause (natürlich das Elternhaus) nimmt, dort mit ihrem Freund und dem Kind Familie spielt, ehe sie die Kleine zur Polizei bringt. Tieftraurige und auch tief menschliche Geschichten.

Anita hat sie beim Zuhören heimlich mitgeschnitten und hört sie sich in ihrer häuslichen Isolation an. Aber es brechen noch viel mehr Geschichten in ihre Einsamkeit: durch die Aufforderung eines Zeitungsredakteurs, doch den Vater zu bewegen, endlich die versprochene Rezension des neuen Romans von Gert De Ruit, eines geheimnisvollen deutschen, besonders in Spanien erfolgreichen Schriftstellers, der niemanden empfängt, zu liefern. Im Computer des Vaters findet Anita die fertige Besprechung, und gemeinsam mit weiteren Dokumenten, die sie zu Hause entdeckt, rekonstruiert sie ein Liebeswechselspiel, dass De Ruit mit ihrer Mutter und seiner spanischen Übersetzerin trieb, während diese Übersetzerin auch einmal mit dem Vater liiert war. Kein Wunder, dass es für die Ich-Erzählerin Anita immer schwieriger wird, dem Dilemma zu entgehen, dass Anna Katharina Hahn ihr gleich zu Beginn der Handlung in den Mund gelegt hatte: "Genauigkeit ist nicht gerade meine Stärke . . . Aber während ich diese Sätze hier schreibe, denke ich, dass ich besonders meinem Papa, einem extrem peniblen Menschen, schuldig bin, diese Geschichte nicht schlampig zu erzählen. Es ist gut, seine Gedanken zu ordnen. Das tue ich für mich selbst, denn im Augenblick bin ich nicht nur der einsamste Mensch in Madrid, sondern auch der verwirrteste." Letzteres wird schlimmer.

Einsam aber bleibt Anita nicht, denn rasch treffen auf dem Mobiltelefon ihrer Mutter Botschaften eines anonym bleibenden Mannes ein, der sich irgendwann als Gert De Ruit erweist. Seinem Namen ist dieselbe Herkunft wie Anna Katharina Hahn eingeschrieben, aber auch er wird die Tochter seiner Geliebten in deren Kleidung nicht erkennen. Seine Hellsicht liegt woanders; er hat sie sich als Halbwüchsiger im Zweiten Weltkrieg erworben, als sein Vater, ein Chemiker in NS-Diensten, die Ermordungsmethode des Gaswagens entwickelte - angeregt durch ein Kinderspiel seines Sohns mit Elastolinsoldaten und einem Modellauto. Mit diesem Vater will gebrochen sein, und der Sohn wählt sich seinen Künstlernamen statt des richtigen, der Gernot Alwin Stähle lautete. Dass diese Initialen sich zum Wort "Gas" ergänzen, ist leider einer von mehreren arg plakativen Ausrutschern, die sich die sonst so subtile Erzählerin Anna Katharina Hahn im Umgang mit der Vergangenheit leistet. Und Nachlässigkeiten gibt es: so das binnen vier Jahren von 22 auf "weit über dreißig" gestiegene Alter einer Figur oder das von Gold auf Silber wechselnde Material eines Eherings. Aber dass man hier so genau zum Lesen verführt wird, zeigt auch die Herausforderung, die Anna Katherina Hahns Roman darstellt.

Das gilt ebenfalls für die Idee der untergetauchten deutschen Schriftstellerberühmtheit, für die man weniger den notorischen B. Traven als Vorbild heranziehen sollte als vielmehr Roberto Bolaños Figur Benno von Archimboldi aus "2666". Anna Katharina Hahns "Das Kleid meiner Mutter" ist der bolañeskeste Roman, der sich denken lässt. Was immerhin gut zur spanischen Atmosphäre passt.

Und die Autorin macht ohnehin alles mehr als wett durch den Ton ihres Romans, der glasklar ist, obwohl Szenen wie aus Träumen geschildert werden. Durch die romantische Dokumenten- und Berichtsfiktion, die immer wieder die inneren Monologe von Anita unterbricht, wird die Ich-Erzählerin entlastet, sonst hätte Anna Katharina Hahn deren Wahrnehmung gar nicht so in der Schwebe halten können. Die Liebe der Schriftstellerin zur Tradition der schwarzen Romantik ist bekannt; in Hahns zweitem Erzählungsband, "Kavaliersdelikt" von 2004, also vor den beiden Romanerfolgen publiziert, nimmt die Titelerzählung Erzähl- und vor allem Irritationsmuster des neuen Stoffs bereits vorweg, wenn sich eine junge Literaturwissenschaftlerin plötzlich in die Welt einer von ihr gerade erforschten mittelhochdeutschen Rittergeschichte hineinträumt. Doch was damals inhaltlich noch ein Privatissimum war, wird in "Das Kleid meiner Mutter" zur politisch-ästhetischen Stellungnahme, zur Ausflucht für eine von der Gesellschaft aufgegebene junge Frau, die aber bis zum Schluss ihre eigene Sicht auf die Dinge anzweifelt: "War denn die ganze Welt verrückt geworden?"

Ja, müsste sie sich antworten, weil der Wahnsinn der ökonomischen Situation, die dieses Buch grundiert, ein noch größerer ist als ihre eigene selbstdiagnostizierte Verwirrtheit. Beide Konfusionen ineinander zu verschachteln, erfordert literarisches Geschick, um einerseits Abstand vom Thesenroman und andererseits von der Kolportage zu halten. Indem das glückt, erweist sich Anna Katharina Hahn als große Erzählerin. Die hiermit allerdings eher ein kleines Publikum erreichen dürfte, weil diese zeitkritische Prosa selbst sich in alte Kleider hüllt, die den Blick leicht täuschen.

ANDREAS PLATTHAUS

Anna Katharina Hahn:

"Das Kleid meiner Mutter".

Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 311 S., geb., 21,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2016

Gestiefelte Katzen
Die europäische Krise, die spanische Jugend und eine unheimliche Begegnung von Schauerromantik
und Gruppe 47: Anna Katharina Hahns leichtfüßiger Roman „Das Kleid meiner Mutter“
VON HELMUT BÖTTIGER
Stuttgart kann einen sehr krautigen Geschmack haben. Das liegt nicht nur an der angrenzenden Filderebene, die für ihren Kohlanbau berühmt ist, es liegt auch am speziellen Charakter des literarischen Milieus dort. Anna Katharina Hahn hat ihrer Heimat schon diverse Farben und Gerüche abgewonnen, und auch in ihrem dritten Roman setzt sich dieser Gärungsprozess fort. Eine gewisse Rolle spielt dabei ein janusköpfiger Verlag, am brackig sich hinziehenden Wasserlauf des Neckars, wo der Weg vor einer entsprechend „krautigen Landzunge“ endet. Dort liegt das Hausboot, an dessen Bug in zinnoberroten Lettern die Aufschrift „Ianua Nova Editiones“ zu lesen ist.
  Dieser lange vor sich hin dümpelnde Verlag hat mit der Entdeckung eines Autors namens Gert De Ruit einen aufsehenerregenden Coup gelandet. De Ruit ist eine große, geheimnisumwobene Figur: ein Autor, von dem man nichts weiß und den noch niemand gesehen hat, ein Phantom à la Thomas Pynchon oder B. Traven. Manche Spuren verweisen nach Spanien, manche auf ein gravierendes deutsches Familienschicksal, aber solch diffuse Hinweise steigern nur noch den Kult. De Ruit entzieht sich konsequent und erhebt sich dadurch zu einem Mythos. Als großer Unbekannter durchzieht er den Roman von Anna Katharina Hahn, und durch das, was man von ihm erfährt, wird er umso rätselhafter.
  Am Hausboot des Stuttgarter Verlegers befindet sich aber nur eine der Quellen der heftig ins Kraut schießenden Fantasien dieses Romans. Die eigentliche Hauptfigur und Ich-Erzählerin ist nämlich die Spanierin Ana María. Sie gehört der desillusionierten jungen Generation Südeuropas an: gut ausgebildet, aber ohne jede Chance auf eine angemessene Beschäftigung. In ihrer Clique nehmen sie ab und zu desaströse Gelegenheitsjobs an, aber sie ziehen notgedrungen wieder in ihre Kinderzimmer bei den Eltern zurück und sind von ihnen abhängig. Hier entsteht ein hautnahes Bild des aktuellen Spanien und der europäischen Misere, das Porträt einer verlorenen Jugend.
  Anas Clique nennt sich „La Plaga“, und wie sie sich abends die Zeit zu vertreiben suchen, verweist untergründig auf das Kompositionsprinzip des Romans. Sie erzählen sich gegenseitig Geschichten und geben sich dabei strenge literarische Regeln: Es muss in der Gegenwart spielen und wirklich passiert sein. Das Modell der Geschichte in der Geschichte, der Erzählverschachtelungen und -verpuppungen zeigt sich im Verlauf des Romans immer radikaler, und dabei geht der realistische Ton allmählich in etwas anderes über.
  Es beginnt damit, dass die Eltern Anas überraschend sterben. Das nimmt einen Zug ins Traumhafte, Unwirkliche an: Ana, die nicht weiß, wie sie die Wohnung halten und sich finanzieren soll, akzeptiert diesen Tod nicht, sie streift den Toten neue Kleider über und setzt sie in zwei Sessel am Fenster. Und sich selbst zieht sie ein Kleid ihrer Mutter Blanca an, schminkt sich wie sie und wird von den Nachbarn und Verkäufern an der Straße tatsächlich für die schöne und alterslose Blanca gehalten. Es beginnt ein unerwartetes Spiel mit der Märchenstruktur, das immer neue Überraschungsmomente bereithält.
  Im Kleid ihrer Mutter kommt Ana einem Doppelleben Blancas auf die Spur. Vergleichsweise harmlos ist die Art, wie diese ihren Teil zur Haushaltskasse beigetragen hat: Sie verdingte sich regelmäßig mit einer Freundin im Prado als Aktmodell für Videoinstallationen und Fotosessions. Auch die erotische Ausstrahlung der Mutter, die Ana plötzlich spürt, eröffnet eine ungeahnte neue Dimension: die ungewohnten Pumps, die dekolletierten Kleider wirken anders als die Sneakers und Jeans, mit denen sie normalerweise herumläuft. Und dann entdeckt sie auf Blancas Oldtimer-Handy die SMS eines unverkennbaren Liebhabers namens „R“ – hier entspinnt sich die Schriftstellergeschichte, und es überkreuzen sich vielfach die Handlungsstränge: der Vater, der sich als Literaturkritiker durchschlug und ein Kenner des charismatischen Schriftstellers De Ruit war, und die Mutter, von der langsam aber sicher durchscheint, dass sie eine Affäre mit diesem Schriftsteller hatte.
  Es gibt hier mehr als nur einen doppelten Boden. Und verschiedene Motive ziehen sich irritierend durch den Text und laden ihn an vermeintlich unscheinbaren Stellen auf: Puppen, kandierte Veilchen oder das kunstvolle Schälen einer Orange. Spätestens als Ana im Computer ihres Vaters seine Kritik des neuesten Romans von De Ruit entdeckt, wird das intertextuelle Changieren deutlich: „Die Temperatur dieses Erzählers ist die Überhitzung, seine Begleitmusik eine Kette von Explosionen.“ Es wirkt wie eine Anleitung zum Lesen des Romans von Anna Katharina Hahn selbst: „ein Roman über Spanien und Deutschland, über Sprachverlust ebenso wie die Ohnmacht der Worte, über den Wunsch, sich die Maske aus Haut vom Gesicht zu reißen und ein anderer zu werden.“
  Das dichte Netz von literarischen Anspielungen geht von den Spiegelungen des Don Quijote aus und zieht sich bis zur großen Phantasmagorie eines Schriftstellers in Roberto Bolaños „2666“. Einen verborgenen, doch immer wieder an die Oberfläche tretenden Grundtext bildet aber die deutsche Romantik, vor allem die Kunstmärchen Ludwig Tiecks. Als der Schriftsteller Gert de Ruit endlich ins Bild tritt, hat er einen Hund bei sich, den er „Stromian“ ruft, wie der das „Romantische“ als Anagramm im Namen führende Hund im „blonden Eckbert“ von Ludwig Tieck. Und einmal, in den lustvoll in die reale jüngere deutsche Literaturgeschichte einmontierten Szenen mit De Ruit, taucht dieser auf einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1953 auf, verdirbt es sich dort durch eine Schlägerei mit dem Literaturbetrieb und wäre fast fotografiert worden: Doch er „schlüpft gerade aus dem Bild, man erkennt nur einen gestiefelten Fuß“. Der „gestiefelte Kater“ als literarisches Signet Ludwig Tiecks, das ist einer der Tricks von De Ruit, mit denen er Zeiten und Texte durchstreift. Und dass er in seiner Biografie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts symbolisiert, gehört zu den dramatischen Brandherden, mit denen sich der Text, sich selbst befeuernd, immer wieder fortschreibt.
  Ana emanzipiert sich von ihren Eltern durch ein Hineintauchen in die deutsche Schauerromantik. Das ist raffiniert vorbereitet und verblüfft durch die Art der Erkenntnisschübe, ohne den sozialen Sprengstoff zu ignorieren. Wie hieß es doch in Tiecks sich selbst kommentierenden „Phantasus“? Das Märchen „verwirrt unsre Phantasie bis zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu lösen und frei zu machen.“ Auch Anna Katharina Hahn nutzt diese romantischen Errungenschaften. Ihr Stil allerdings ist eher einfach, ganz im Gegensatz zu Roberto Bolaño oder dem großen deutschen Spanien-Illusionisten Fritz Rudolf Fries, der ähnliche Arrangements vorgenommen hat; hier schlug das Vexierspiel auch in der Sprache durch.
  Anna Katharina Hahn hingegen bleibt durchweg bei der Tonlage ihrer schmissig und direkt beschreibenden Protagonistin. Doch das muss nicht nur ein Nachteil sein. Die Autorin ist ja in jenes Stuttgart hineingewachsen, das mit dem von James Stirling konzipierten Gebäude der Neuen Staatsgalerie eines der wichtigsten Monumente der Postmoderne hervorgebracht hat, und sie konterkariert nun dieses staatsgaleriehafte Stuttgart mit wahrhaft romantischer Ironie. Das ist mehr als bloß ein Kabinettstückchen und lässt viele krampfhafte Gegenwartsposen der jüngeren deutschen Literatur gestiefelt, gespornt und umso leichtfüßiger hinter sich.
Ana verdingt sich im Prado als
Aktmodell für Videoinstallationen
Das staatsgaleriehafte Stuttgart
wird hier in Ironie getaucht
Autorin eines Romans „über den Wunsch, sich die Maske aus Haut vom Gesicht zu reißen und ein anderer zu werden“: Anna Katharina Hahn.
Foto: Jürgen Bauer / Suhrkamp
  
  
  
  
Anna Katharina Hahn:
Das Kleid meiner Mutter. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 310 Seiten, 21,95 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»In sehr einfacher, undramatischer Sprache entwickelt Anna Katharina Hahn so aus einer Erzählung des Alltags in Madrid ein großes europäisches Tableau, ein romantisches Welttheater, und wir lernen: Das Leben gibt es, aber nur jetzt!« Denis Scheck ARD 20160403