Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 0,99 €
  • Gebundenes Buch

Wunden, die das Leben schlug.
Larissa Boehnings geschichtensatter großer Roman über drei Frauen auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben
Moskau, Ende der 30er Jahre, Hitlers Landsleute sind politisch unerwünscht. Die überzeugte Kommunistin, aber deutschstämmige Sängerin Nadja sieht sich gezwungen, mit ihrer Familie auszuwandern. Ausgerechnet ins verhasste Nazideutschland müssen sie, ihr Mann Anton und die zwei Kinder. An eine Bühnenkarriere ist in Berlin nicht zu denken. Ihr anpassungsfähiger Mann übernimmt von nun an allein die Ernährung der Familie, er erstellt für eine Zeitung…mehr

Produktbeschreibung
Wunden, die das Leben schlug.

Larissa Boehnings geschichtensatter großer Roman über drei Frauen auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben

Moskau, Ende der 30er Jahre, Hitlers Landsleute sind politisch unerwünscht. Die überzeugte Kommunistin, aber deutschstämmige Sängerin Nadja sieht sich gezwungen, mit ihrer Familie auszuwandern. Ausgerechnet ins verhasste Nazideutschland müssen sie, ihr Mann Anton und die zwei Kinder. An eine Bühnenkarriere ist in Berlin nicht zu denken. Ihr anpassungsfähiger Mann übernimmt von nun an allein die Ernährung der Familie, er erstellt für eine Zeitung Horoskope. Nie wird Nadja ihm seinen eilfertigen Verrat aller früheren Ideale verzeihen. Sie verschließt sich in sich selbst - bis sie mit einem ehemaligen Kollegen Antons zu korrespondieren beginnt, der nach Amerika ausgewandert ist. Als dieser ankündigt zurückzukommen, zieht Anton alle Register des Verrats, um seine Frau zu halten. Eine Generation später steht Nadjas gerade erwachsene Tochter Senta am Grenzübergang Friedrichstraße und muss eine Entscheidung treffen: Der von ihr geliebte Gregor will in die DDR. Für immer. Er zieht die Revolution der Liebe vor, Senta (in Abgrenzung zu ihrer Mutter) die Vernunft - sie bleibt, obschon gerade schwanger, in Westberlin. Bald darauf heiratet sie Gregors besten Freund und täuscht ihn über die wahre Vaterschaft ihres ersten Kindes. Dreißig Jahre und einige Kinder später wird ihr ein Kassiber von Gregor zugespielt, der inzwischen im Gefängnis sitzt und auf Fluchthilfe hofft ... Erst in der dritten Generation verheilen die Wunden, die die Vertreibung Nadjas aus Moskau schlug.

Larissa Boehning ist ein großer Wurf gelungen, eine dreifache Ost-West-Geschichte, eine dreifache Suche ihrer Figuren nach Heimat, sich und ihren Wurzeln - und das alles in einer Sprache, die in der deutschen Literatur ihresgleichen sucht: hochmusikalisch, biegsam und leuchtend, als sei sie mit Goldfäden durchzogen.
Autorenporträt
Boehning, LarissaLarissa Boehning, Jahrgang 1971, ist in Hamburg aufgewachsen und lebte eine Zeit lang in Spanien. Seit 2007 wohnt sie mit ihrer Familie wieder in Berlin. Larissa Boehning arbeitet als Grafikerin, Dozentin und freie Schriftstellerin. Für eine Geschichte aus "Schwalbensommer" erhielt sie den Literaturpreis Prenzlauer Berg (2002). Ihr Romandebüt "Lichte Stoffe" (2007) war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Kulturpreis der Stadt Pinneberg und dem Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt des Jahres 2007 ausgezeichnet. 2011 erschien "Das Glück der Zikaden", 2014 "Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2011

Der Krieg, die Schande und das Schweigen

Larissa Boehning erzählt von drei seltsam verschlossenen, aber starken Frauen - und macht deren Schicksale zu Marksteinen der deutsch-deutschen Geschichte.

Totgesagt, wiederauferstanden, als vernutzt beschimpft - der Generationenroman ist eine zwar beliebte, von der Kritik aber oft ungnädig behandelte Gattung. Er besticht durch seine klar gegliederten Teile, nacheinander oder parallel erzählte Schicksale, die ein Netz aus Ahnen und Enkeln bilden, in das die große Geschichte verwoben ist - als System aus Ursache und Wirkung.

Die Ost-West-Achse zieht die große, geographische, seelische Linie in Larissa Boehnings zweitem Roman "Das Glück der Zikaden". Er setzt in Russland ein. Nadja, eine stolze, anerkannte Sängerin, begleitet ihr schwerkrankes Pferd in den Tod. Statt es aber, wie vom Nachbarn geraten, den Wurstfabrikanten zu überlassen, führt sie es auf eine Eisscholle. Mit dem Gewehr jagt sie Löcher in die Fläche, robbt heran, um dem Pferd Zuckerstückchen zu geben, und entfernt sich, als sie das Eis reißen hört. Was für eine Todesart. Und was für eine mutige, theatralische Prosa: Frau und Pferd und Kraft in eine Szene zu meißeln. Das hätte leicht danebengehen können, so wie sonst Szenen über Mann, Auto und Kraft, die klassische Geschlechterbilder prägen. Und tatsächlich ist es eine der Überraschungen dieser Prosa, dass solche Konfrontationen meistens ihre Wirkung entfalten. Ins Zentrum rückt eine Ursprünglichkeit, die zwingend nur diese Nadja beschreibt, von der man sonst viel zu wenig wüsste, weil sie bald schon verstummt. Denn kaum ist der Roman in Fahrt gekommen, gibt es einen scharfen Bruch im Leben dieser überzeugten Kommunistin, welche die Bühne zum Atmen braucht: Nadja, die deutschstämmig ist, sich aber russisch fühlt, wird gezwungen, das Land zu verlassen, mit Anton, ihrem Mann, und den zwei kleinen Kindern.

Man betritt die staubigen, dunklen Kulissen von Berlin am Ende der dreißiger Jahre. Hier kommt die Familie in der Wohnung Samuel Wenigers unter. Nadjas Träume sind hier unbrauchbar, die Rolle als Mutter füllt sie nicht aus. Ein immer vertraulicher werdender Briefwechsel mit Samuel Weniger nach New York spendet nur kurze Zeit Trost. Anton hingegen, pragmatisch und genügsam, erwacht. Er ernährt die Familie mit Horoskopen und Knigge für die Rubrik Vermischtes und sieht weg, als der Krieg kommt. Dann der nächste eisige Schnitt, den Larissa Boehning vorgesehen hat, um endlich zum Kern ihres Romans vorzudringen: das Schweigen, das Gefühle einfriert und Beziehungen erschwert. Nadja, vorher feindliche Deutsche, jetzt feindliche Russin, wird von vier Männern aus dem Bombenkeller getrieben und lässt die Kinder schlafend zurück. "Ein klarer Mainachthimmel. Kein Alarm, keine Schüsse, kein Grollen. Noch nie hatte sie so in die Gesichter von Fremden geschaut, jedes Detail gesehen und gewusst, dass es sich unter die Haut schrieb, stanzte, verbleute." Sie singt gegen die Schande und die Demut an, "um den Raum ihrer Illusion am Leben zu halten" - und überlebt. Zurück im Keller spürt sie Antons Hände auf ihrem Rücken, "aber sich selbst darunter nicht mehr".

Boehning komponiert diesen Stoff, der so erschreckende Kollektivbilder aufruft, mit verschiedenen Tempi. Der Rhythmus ist es, der einen beim Lesen immer wieder erfasst und vom abgehackten Stakkato in lähmendes Adagio führt. Nicht immer gelingen die Übergänge, und die Geschichte wird etwas flüchtig zusammengestaucht oder manches zu sehr aufgeladen. Im großen Verlauf freilich ist das zu verzeihen. Der Roman hat den langen Atem, diese Energie, die unbeirrbar weiterzieht, hinein in die traurige Ortlosigkeit dreier Frauenschicksale, die im Kraftfeld ihrer Männer leben und darüber fast selbst verschwinden. "Das Verheimlichen, das Schweigen, das Weiterzurückweichen" bestimmt ihr Verhalten. Nach Nadjas Erlebnissen ist das nachvollziehbar.

Ein Tier, die Zikade, gibt der Geschichte symbolischen Glanz. Die Weibchen, so erfährt man in einem Lieblingslied Nadjas, bleiben stumm, um ihr Leben zu verlängern. Nach Nadja ist es Selma, ihre Tochter, die ein Geheimnis birgt und sich für das noch Ungeborene einen neuen Vater sucht (der leibliche, ein überzeugter Kommunist, wandert bei Mauerbau ab nach Ost-Berlin). Michael heißt der ihn ersetzende, nicht geliebte Planmann, der sofort geheiratet wird und bald für fünf Kinder Vater ist, außerdem erfolgreicher Jurist, der seine Familie in einer Gründerzeitvilla in Berlin-Zehlendorf unterbringen kann - ein solide gebautes Haus. Und ein goldener Käfig, wie geschaffen für Selmas Rückzug: "Wie ihre Mutter verließ sie diese Bühne nicht mehr, diesen Ort des Rückzugs, der Einsamkeit." Einmal entscheidet sie etwas ohne ihren Mann und saniert das düstere Haus. Sie schafft sich "ihre weiße Welt" gegen die Traurigkeit. Auch ein mobiles Radiogerät hilft, die öden Phasen des Alltags mit klassischer Musik zu überbrücken - was wiederum auf die Älteste abfärbt: Katarina, die fortan manisch das Klavier traktiert, "ein Universum aus Musik und Tönen, in dem sie kreiste". Auch sie darin ein Abbild der in sich eingekapselten Mutter.

Nadja, Selma, Katarina - 1945, 1961, 1989. Marksteine deutsch-deutscher Geschichte sind das, die sich entlang dieser in ihrer Entwicklung gebremsten, doch seltsam starken Frauenfiguren ausmachen lassen. Aber auch die Männer sind im Würgegriff eines sich verlängernden Geschichts- und Familienfluchs. Larissa Boehning erzählt von den Abhängigkeiten, die durch die Schrecken der Kriegszeit gebannt und weitergegeben werden. Sie erzählt davon, wie die Wurzel, die Ursache dieser Abhängigkeiten im Laufe der Zeit sich verliert, aber alle prägt.

Ein Vorwurf gegen den Generationenroman lautet, er familiarisiere Geschichte. Problematischer erscheint bei Larissa Boehning aber der etwas modellhafte Versuch, die Kluft zwischen Ost und West durch die Rückführung der jahrzehntelang verschwiegenen Tochter zum Vater zu verfugen. Der Roman steuert - als Tribut der letzten an die erste Generation - auf eine Versöhnung zu, auf die Begegnung zwischen Katarina und ihrem leiblichen Vater Gregor. Der hatte zwischenzeitlich wieder Kontakt zu Katarinas Mutter Selma - doch die verschlossenen Frauen dieses Romans lassen sich nicht so leicht lieben. Gregor und seiner Tochter gelten dominante Romanteile, Pro- und Epilog. Zum Glück widersteht Boehning aber der Versuchung, die beiden mit ihren zersplitterten Identitäten zu Lichtfiguren deutsch-deutscher Geschichte zu stilisieren. Ihre unterschiedlichen Prägungen legen vielmehr nur den Keim für eine möglicherweise neue Sicht, wie sie der Roman selbst gut vermittelt.

ANJA HIRSCH.

Larissa Boehning: "Das Glück der Zikaden". Roman.

Galiani Verlag, Berlin 2011. 320 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2011

Das hohe Lied der
duldsamen Frauen
Larissa Boehnings zweiter Roman
„Das Glück der Zikaden“
Die Großmutter war Stalinistin, die Mutter liebte einen Kommunisten, und Katarina? Katarina spielt gerne Klavier. Wenn das mal kein Abstieg ist. Der Niedergang, diese alte Marotte des Familienromans, zerrüttet in Larissa Boehnings zweitem Roman alle politischen Überzeugungen. Und das akribisch. Einmal quer durchs zwanzigste Jahrhundert werden die drei Frauengenerationen der Familie Neudecker geschoben, immer entlang der klassischen Wegmarken: Berliner Bombennächte im Schutzkeller, Mauerbau, Wiedervereinigung. Die Neudecker-Frauen sind immer mit dabei, und immer wieder knüppeln ihnen die politischen Entwicklungen wie Schicksalsschläge auf den Hinterkopf.
Moskau, 1938. Von ihrer geliebten Partei wird Nadja, deren Familie ursprünglich deutschstämmig ist, aus der Sowjetunion ausgewiesen. Gemeinsam mit Ehemann Anton und den Kindern muss sie nach Deutschland übersiedeln. Dort ordnet Anton sich wieselflink den neuen Machtverhältnissen unter. Nadja aber versteinert innerlich, sie wird zur Fremden im eigenen Leben.
Senta, ihre Tochter, bekommt zwei Dekaden später ein Kind von einem Politaktivisten, der sie nach 1961 in Richtung DDR verlässt. Waidwund heiratet sie einen beliebigen anderen, beschließt, sich in größtmöglicher Passivität einzurichten: „Wie ihre Mutter verließ sie diese Bühne nicht mehr, diesen Ort des Rückzugs, die Einsamkeit.“ Diese Rückzugsbewegung wiederum erfasst in den neunziger Jahren dann auch ihre ihre Tochter Katarina. Sie kann die weitergereichte „Verkapselung“ nur noch im Klavierspiel überwinden.
Familienromane privatisieren Geschichte, als Testläufe können sie überprüfen, wie Generationen ihre kollektiven Erfahrungen weitergeben und befragen. Schon Larissa Boehnings Romandebüt aus dem Jahr 2007, „Lichte Stoffe“, war nach diesem Muster gestrickt. Es ging darin um die Geschichte der Nachkommen eines Berliner Trümmermädchens und eines schwarzen GI. Mochte bereits die damalige Familien-Aufstellung ein wenig schablonenhaft wirken, so erzählte Larissa Boehning, die 1971 in Wiesbaden geboren wurde, so war sie dafür umso schöner erzählt: Mit wild sprudelnder Sprache, epischem Atem und mit einer die Geschichte klug befragenden Romankonstruktion.
„Das Glück der Zikaden“ ist nun leider als eine Art Anti-Beispiel zu solchen Möglichkeiten konzipiert. Von der neuen Romanfamilie wird weder wild erzählt noch wird überhaupt nach ihr gefragt, stattdessen wird hier immerzu nur stolz geschwiegen und verweigert. Ausdruck finden soll das in einem feierlichen, hoch über den Dingen schwebenden Ton, der jedoch immer wieder ins Gesuchte und oft schlicht Ungelenke absackt: „Aber vor allem schaffte sie es, und das war ihre Kunst, aus dem Mangel eine Fülle zu generieren, einfach, weil sie fünf Kinder gebar und somit dem umfassenden Gefühl, einsam zu sein, eine Quirlhorde Lebendigkeit entgegensetzte.“
So distanziert in den Blick genommen, können die Neudecker-Frauen das zwanzigste Jahrhundert unmöglich mit Leben füllen. Jedes Geschichtsbuch für die Mittelstufe wirkt da lebenssatter. Die Blutleere und Verhaltenheit ist hier programmatisch, aber leider entspricht dieses Programm nicht den zweifellos vorhandenen Talenten der Autorin. Das ist schade. Ärgerlich wird der Roman aber erst durch seine Ideologie.
Denn vordergründig wird hier ja mit dem Versprechen gespielt, so etwas wie eine widerständige Geschichtsschreibung der Frauen vorzustellen: Eine spröde Gegengeschichte unterdrückter Korrespondenzen und Verweigerungen über mehrere Frauengenerationen hinweg, wie sie etwa die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun vor einigen Jahren in ihrer Familienbiografie „Stille Post“ erzählt hat.
Unter Larissa Boehnings Frauen aber kursiert keinerlei subversives Wissen – es sind einzig und allein poetisch-passive Fremdheitsgefühle, die hier von Frau zu Frau vererbt werden. Durch den poetischen Ton, den der Roman immer wieder anschlägt, wird das stille Dulden der Protagonistinnen eingehüllt, mit ästhetischen Weihen versehen und verklärt. Wenig, so scheint es, wird den geschilderten Frauen durch die Gesellschaft und die Geschichte ihres Jahrhunderts, nahezu alles vom Schicksal vorherbestimmt. Ihr maximales Lebensglück finden sie darin, sich schlicht mit allem, was ihnen geschieht, abzufinden.
Frauen, das sind für die drei Erdulderinnen dieses Romans eben immerzu: „Alles Töchter wie sie. Die sich nicht so verzweigen wie Söhne sich verzweigen. Sie bleiben nah bei sich stehen und sind sich nicht fremd in ihren Wünschen, Hoffnungen, in ihrer Art, enttäuscht zu werden, enttäuscht zu sein, und den Variationen, manchmal das Wesentliche zu verschweigen. Sie teilen ähnliche Formen von Einsamkeit. Manchmal verhindert das das Verstehen. Manchmal liegt darin aber auch das Glück, das Verzeihen.“ War das jetzt bloß verquast oder nicht doch in seinem Geschlechterbild erzkonservativ? Beides!
FLORIAN KESSLER
LARISSA BOEHNING: Das Glück der Zikaden. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2011. 320 Seiten, 19,99 Euro.
Familienromane privatisieren
die Geschichte, sie verknüpfen die
Erzählungen der Generationen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eingenommen ist Anja Hirsch von Larissa Boehnings zweitem Roman über drei Frauen, deren Schicksale sie zu "Marksteinen der deutsch-deutschen Geschichte" macht. Bisweilen scheint ihr die Autorin ein wenig zu dick aufzutragen und nicht immer findet sie die Komposition des Werks völlig ausgegoren. Nichtsdestoweniger attestiert sie Boehing "erschreckende Kollektivbilder" und eine "mutige, theatralische Prosa".

© Perlentaucher Medien GmbH
Das hohe Lied der
duldsamen Frauen

Larissa Boehnings zweiter Roman
„Das Glück der Zikaden“

Die Großmutter war Stalinistin, die Mutter liebte einen Kommunisten, und Katarina? Katarina spielt gerne Klavier. Wenn das mal kein Abstieg ist. Der Niedergang, diese alte Marotte des Familienromans, zerrüttet in Larissa Boehnings zweitem Roman alle politischen Überzeugungen. Und das akribisch. Einmal quer durchs zwanzigste Jahrhundert werden die drei Frauengenerationen der Familie Neudecker geschoben, immer entlang der klassischen Wegmarken: Berliner Bombennächte im Schutzkeller, Mauerbau, Wiedervereinigung. Die Neudecker-Frauen sind immer mit dabei, und immer wieder knüppeln ihnen die politischen Entwicklungen wie Schicksalsschläge auf den Hinterkopf.

Moskau, 1938. Von ihrer geliebten Partei wird Nadja, deren Familie ursprünglich deutschstämmig ist, aus der Sowjetunion ausgewiesen. Gemeinsam mit Ehemann Anton und den Kindern muss sie nach Deutschland übersiedeln. Dort ordnet Anton sich wieselflink den neuen Machtverhältnissen unter. Nadja aber versteinert innerlich, sie wird zur Fremden im eigenen Leben.

Senta, ihre Tochter, bekommt zwei Dekaden später ein Kind von einem Politaktivisten, der sie nach 1961 in Richtung DDR verlässt. Waidwund heiratet sie einen beliebigen anderen, beschließt, sich in größtmöglicher Passivität einzurichten: „Wie ihre Mutter verließ sie diese Bühne nicht mehr, diesen Ort des Rückzugs, die Einsamkeit.“ Diese Rückzugsbewegung wiederum erfasst in den neunziger Jahren dann auch ihre ihre Tochter Katarina. Sie kann die weitergereichte „Verkapselung“ nur noch im Klavierspiel überwinden.

Familienromane privatisieren Geschichte, als Testläufe können sie überprüfen, wie Generationen ihre kollektiven Erfahrungen weitergeben und befragen. Schon Larissa Boehnings Romandebüt aus dem Jahr 2007, „Lichte Stoffe“, war nach diesem Muster gestrickt. Es ging darin um die Geschichte der Nachkommen eines Berliner Trümmermädchens und eines schwarzen GI. Mochte bereits die damalige Familien-Aufstellung ein wenig schablonenhaft wirken, so erzählte Larissa Boehning, die 1971 in Wiesbaden geboren wurde, so war sie dafür umso schöner erzählt: Mit wild sprudelnder Sprache, epischem Atem und mit einer die Geschichte klug befragenden Romankonstruktion.

„Das Glück der Zikaden“ ist nun leider als eine Art Anti-Beispiel zu solchen Möglichkeiten konzipiert. Von der neuen Romanfamilie wird weder wild erzählt noch wird überhaupt nach ihr gefragt, stattdessen wird hier immerzu nur stolz geschwiegen und verweigert. Ausdruck finden soll das in einem feierlichen, hoch über den Dingen schwebenden Ton, der jedoch immer wieder ins Gesuchte und oft schlicht Ungelenke absackt: „Aber vor allem schaffte sie es, und das war ihre Kunst, aus dem Mangel eine Fülle zu generieren, einfach, weil sie fünf Kinder gebar und somit dem umfassenden Gefühl, einsam zu sein, eine Quirlhorde Lebendigkeit entgegensetzte.“

So distanziert in den Blick genommen, können die Neudecker-Frauen das zwanzigste Jahrhundert unmöglich mit Leben füllen. Jedes Geschichtsbuch für die Mittelstufe wirkt da lebenssatter. Die Blutleere und Verhaltenheit ist hier programmatisch, aber leider entspricht dieses Programm nicht den zweifellos vorhandenen Talenten der Autorin. Das ist schade. Ärgerlich wird der Roman aber erst durch seine Ideologie.

Denn vordergründig wird hier ja mit dem Versprechen gespielt, so etwas wie eine widerständige Geschichtsschreibung der Frauen vorzustellen: Eine spröde Gegengeschichte unterdrückter Korrespondenzen und Verweigerungen über mehrere Frauengenerationen hinweg, wie sie etwa die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun vor einigen Jahren in ihrer Familienbiografie „Stille Post“ erzählt hat.

Unter Larissa Boehnings Frauen aber kursiert keinerlei subversives Wissen – es sind einzig und allein poetisch-passive Fremdheitsgefühle, die hier von Frau zu Frau vererbt werden. Durch den poetischen Ton, den der Roman immer wieder anschlägt, wird das stille Dulden der Protagonistinnen eingehüllt, mit ästhetischen Weihen versehen und verklärt. Wenig, so scheint es, wird den geschilderten Frauen durch die Gesellschaft und die Geschichte ihres Jahrhunderts, nahezu alles vom Schicksal vorherbestimmt. Ihr maximales Lebensglück finden sie darin, sich schlicht mit allem, was ihnen geschieht, abzufinden.

Frauen, das sind für die drei Erdulderinnen dieses Romans eben immerzu: „Alles Töchter wie sie. Die sich nicht so verzweigen wie Söhne sich verzweigen. Sie bleiben nah bei sich stehen und sind sich nicht fremd in ihren Wünschen, Hoffnungen, in ihrer Art, enttäuscht zu werden, enttäuscht zu sein, und den Variationen, manchmal das Wesentliche zu verschweigen. Sie teilen ähnliche Formen von Einsamkeit. Manchmal verhindert das das Verstehen. Manchmal liegt darin aber auch das Glück, das Verzeihen.“ War das jetzt bloß verquast oder nicht doch in seinem Geschlechterbild erzkonservativ? Beides!

FLORIAN KESSLER

LARISSA BOEHNING: Das Glück der Zikaden. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2011. 320 Seiten, 19,99 Euro.

Familienromane privatisieren
die Geschichte, sie verknüpfen die
Erzählungen der Generationen

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

…mehr