Jula ist vier Jahre alt, als ihr Vater sie auf einem Schlitten durch das verschneite Hamburg zieht, um sie bei ihrer Großmutter abzuliefern. Der Vater geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Kein Wort über ihre verstorbene Mutter, kein Wort über die Zukunft. "Du bist jetzt vier und sehr
vernünftig", heißt es. Mit der Großmutter in einer Wohnung, doch in einer völlig getrennten Welt, lebt Onkel…mehrJula ist vier Jahre alt, als ihr Vater sie auf einem Schlitten durch das verschneite Hamburg zieht, um sie bei ihrer Großmutter abzuliefern. Der Vater geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Kein Wort über ihre verstorbene Mutter, kein Wort über die Zukunft. "Du bist jetzt vier und sehr vernünftig", heißt es. Mit der Großmutter in einer Wohnung, doch in einer völlig getrennten Welt, lebt Onkel Hans, der jüngere Bruder des Vaters. Hans kocht für sich allein, die Erwachsenen reden kein Wort miteinander, gehen sich mithilfe geheimnisvoller Zeichen bewusst aus dem Weg. Hans findet sofort Zugang zur vom Trennungsschock verstörten Jula und bringt ihr sehr bald bei, dass sie besser nicht über die Dinge spricht, die sie tagsüber gehört und erlebt hat. Details eines Kinderlebens unter Kiezgrößen und Prostituierten erfährt die Großmutter zum Glück nie, die schon immer tagsüber als Näherin gearbeitet hat.
Onkel Hans handelt mit Gebrauchtwagen und Autoteilen, bildet mit Trümmer-Otto und Schuten-Ede ein geschäftlich außerordentlich erfolgreiches Trio. Jula verbringt ihre Tage wie Hans Maskottchen auf dem "Platz", putzt Auto-Kennzeichen und lernt außer Buchstaben und Zahlen dabei von ihm, was es über Menschen und Autos zu wissen gibt. Zahlen werden zu einem Bindeglied mit tragischer Bedeutung zwischen Onkel und Nichte. "Bummeln mit Onkel Hans war Heimatkunde ohne Schule", wird Jula als Erwachsene rückblickend feststellen. So wie Jula ihre Umwelt mit den Augen in Tischhöhe wahrnimmt, genau so fühlt es sich an, vier Jahre alt zu sein. Aus erwachsener Perspektive von heute ist die Diele von Schulturnhallen-Größe zu einem winzigen Flur geschrumpft.
Bei jedem Gang mit der Großmutter in den Keller begegnet Jula der Krieg. Der ehemalige Luftschutzkeller trägt noch Spuren aus der Zeit der Luftangriffe auf Hamburg. Die Großmutter als großartige Geschichtenerzählerin verpackt die Bombennächte in Abenteuergeschichten. Jula erfährt, dass das merkwürdige Verhältnis zwischen Hans und seiner Mutter u. a. in Erlebnissen in diesem Keller begründet liegt. Mit 8 Jahren wird sie sich allmählich Hans auffallender Ordnungsliebe, seiner Ängste und Zwänge bewusst. Der Onkel fühlt sich beobachtet und verfolgt; kaum verwunderlich bei jemandem, der als Jugendlicher Krieg und Nationalsozialismus erlebt hat. Zwanzig Jahre später, als aus Jula längst wieder Juliana geworden ist, konfrontiert ein Verkaufsangebot für eine Wohnung im Haus ihrer Kindheit Juliana mit ihrer Nachkriegskindheit.
Jula balanciert elegant zwischen mehreren Welten, eine für Zeiten des Umbruchs, in denen die Erwachsenen mit sich und dem Überleben beschäftigt waren, absolut treffende Wahrnehmung. Ein wichtiges Thema des Buches sind die Versuche der Erwachsenen, Kinder vor vermeintlichen Gefahren zu schützen. Was ist wirklich gefährlich, das Bekannte oder das Unbekannte? Sind Erfahrungen Erwachsener in der Gegenwart überhaupt noch anwendbar? Schützt Verschweigen Kinder? Sehr authentisch wird dieser Konflikt deutlich im auf der Straße aufgeschnappten Lied- und Versgut jener Zeit, das Peter Rühmkorf später "das Volksvermögen" nennen wird.
Monika Helds großartiger, berührender Roman wirkt zunächst tragikomisch durch die Perspektive eines Kindes, das noch nicht einordnen kann, was es von den Erwachsenen aufschnappt. Erzählt wird von der Icherzählerin im Rückblick mit dem Wissen der Gegenwart. Mit Julas allmählicher Annäherung an Hans Kriegstrauma entwickelt sich die Kindheitsgeschichte zum Roman einer Generation, die über ihre Erlebnisse nicht sprechen und deshalb keine therapeutische Hilfe finden konnte.