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Der elegante Pfarrer
Moritz Pliquet liest „Im Schatten des Todes“
Überschaubar ist die Welt des Pfarrers von Grantchester, einem Städtchen vor den Toren von Cambridge, aber sie ist nicht beengt. Der Ort hat kaum Teil am größeren Weltgeschehen, aber er ist nicht abgeschnitten von ihm. Mit der Eisenbahn ist man rasch in London, und Pfarrer Sidney Chambers ist das Gegenteil eines provinziellen Geistes. Er spielt Cricket, liest viel, mag warmes Bier und Jazz. Er ist ein Mann von Anfang dreißig, schlank und gut gewachsen, so klar im Denken wie zurückhaltend im Auftreten. Eine „unaufdringliche klerikale Eleganz“ zeichnet ihn aus, und die Frage, wann der Junggeselle heiraten wird, beschäftigt viele im Ort.
Das Gerede, Nachbarschaftsplaudereien wie Gerüchte, prägen die Beziehungen der Menschen zueinander. Ein uneheliches Kind wäre gewiss kein Skandal mehr wie noch ein halbes Jahrhundert zuvor, relativ bedeutungslos zwar, aber unbesprochen bliebe es nicht. Und wenn Sidney Chambers in einem Lokal etwas zu lang die Hand einer hübschen Frau hält, dann wird alsbald von seiner bevorstehenden Hochzeit getuschelt. Jeder kennt einen, der fast alles über den anderen weiß, man lebt in einer Atmosphäre der Nähe und Geheimnislosigkeit, als gäbe es keine Gardinen und Vorhänge.
Gerade weil nichts unverborgen bleibt, häufen sich die Geheimnisse. „The Grantchester Mysteries“ heißt James Runcies Buch auf Englisch: eine Sammlung von lose miteinander verbundenen Fallgeschichten, in deren Zentrum der Pfarrer steht, der wider Willen zum Detektiv wird. Nicht nur, weil er mit Inspektor Keaton befreundet ist, sondern vor allem, weil die Menschen ihm vertrauen, seinen Rat suchen, weil er im Geflecht des Geredes eine privilegierte Position innehat. Man kann ihm etwas berichten, ohne befürchten zu müssen, er würde es weitertratschen oder – was wohl noch schlimmer wäre – auf sich beruhen lassen. Deswegen erfährt er davon, dass der Selbstmord eines Anwalts wohl doch kein Freitod war, dass in bezechter Gesellschaft ein prunkender Verlobungsring verschwand, dass alte Leute vor der Zeit sterben und andere sich nun vor dem Arztbesuch fürchten.
Moritz Pliquet trifft den richtigen Ton für das Gerede, die untergründige Spannung in der heilen Welt von Grantchester, für Schroffheiten, Überdrehtes, Beiläufigkeiten. Der Hörer folgt ihm gern und genießt das Gefühl, all das schon einmal gehört oder gesehen zu haben. England 1953, ein ermittelnder Pfarrer, Verbrechen, die aus dem Vertrauten, aus dem Alltag erwachsen, kleine Leidenschaften und Aufklärung durch genaue Beobachtung, Zuhören, Menschenkenntnis – James Runcies Geschichten von Pfarrer Sidney Chambers leben auch von der Erinnerung an Pater Brown oder Agatha Christie. Wenn alle Verdächtigen und Zeugen zum Nachspielen einer verhängnisvollen Stunde geladen werden, wenn der Täter sich gleichsam selbst überführt, freut man sich der alten Bekannten. Runcie setzt die Konventionen des Genres lustvoll in Szene, als fordere er uns auf, noch einmal im Ohrensessel Platz zu nehmen, Brandy ins Glas zu gießen, daran zu nippen, nachzuerleben, wie es einmal gewesen sein könnte: damals, als der Fehltritt, der Irrtum und die Liebe sich aussprachen in deutlichen Sätzen und es nur eines Junggesellen bedurfte, Zusammenhänge zu durchschauen.
JENS BISKY
James Runcie: Der Schatten des Todes. Gelesen von Moritz Pliquet. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 6 CDS, 451 Minuten Laufzeit, 19,99 Euro.
James Runcies Geschichten
leben auch von der Erinnerung
an Agatha Christie
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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