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Produktbeschreibung
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2017

Wie er den SS-Traum zerstören konnte
Nur niemals würdelos: Robert Antelmes Erinnerungsbuch "Das Menschengeschlecht" erscheint zum heutigen hundertsten Geburtstag des Autors in einer Neuausgabe

Als mir ein Freund vor einigen Jahren Robert Antelmes Buch "Das Menschengeschlecht" schenken wollte, weil es - wie wahr! - in jede deutsche Bibliothek gehöre, war der Titel vergriffen. Das passte leider zur hiesigen Publikationsgeschichte des 1947 in Paris erschienenen Textes, den der heute vor hundert Jahren auf Korsika geborene Publizist nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau, der Heimkehr nach Frankreich und vor allem nach seiner Genesung von den Strapazen der Haft zu schreiben begonnen hatte. Zeitliche Unmittelbarkeit und Beschreibungsintensität bei gleichzeitig kühler Reflexion von Antelmes Erfahrungen machen "Das Menschengeschlecht" nur mit "Ist das ein Mensch?" des zwei Jahre jüngeren Primo Levi vergleichbar, einem Buch, das auch 1947 herauskam und ein ähnliches Schicksal dokumentiert und analysiert. Wie Antelme war auch der Italiener 1944 deportiert worden.

Allerdings war Levi als Jude der Ermordung zugedacht, Antelme als französischer Widerstandskämpfer dagegen nicht zwingend; er sollte bis zur Erschöpfung - und das hieß meist doch: bis zum Tod - arbeiten und war deshalb den größten Teil im niedersächsischen Gandersheim inhaftiert, in einer Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Levi war in Auschwitz. In der Praxis machte das, wie man den Büchern entnehmen kann, keinen großen Unterschied. Hunger, Krankheit, Prügel, Demütigung erlitten beide, überlebt haben sie gegen jede Wahrscheinlichkeit. Antelmes Schwester starb als Deportierte; ihr ist sein Buch gewidmet.

In der Nachkriegszeit waren solche Schilderungen noch unerhört, und in ihren jeweiligen Muttersprachen sind Antelmes und Levis Bücher nach wie vor die angesehensten Zeugnisse für die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus. Erstmals ins Deutsche übersetzt wurde "L'espèce humain" schon 1949 von Rudolf Schacht als "Die Gattung Mensch": in der DDR, denn Antelme war Kommunist. In der Bundesrepublik dagegen Fehlanzeige bis 1987, als Eugen Helmlé eine Neuübersetzung des Buchs unter dem seither gängigen Titel "Das Menschengeschlecht" für Hanser anfertigte, jenen Verlag, der im gleichen Jahr auch "Ist das ein Mensch?" in sein Programm nahm, nachdem dessen deutsche Erstpublikation 1961 bei S. Fischer noch weitgehend untergegangen war. Heute ist es irritierend zu sehen, wie zögerlich die zwei bedeutendsten Erinnerungsbücher von Häftlingen des NS-Lagersystems in Westdeutschland rezipiert wurden. Immerhin kam 1990, im Todesjahr Antelmes, eine Taschenbuchausgabe seines "Menschengeschlechts" heraus. Seitdem aber wieder Fehlanzeige. Der Freund erwarb das Buch seinerzeit antiquarisch für mich.

Jede Seite darin ist unvergesslich. Man kann es aufschlagen, wo man will: Überall tritt dem Leser ein in jeder Hinsicht scharfer Geist entgegen - scharfsichtig in der Beobachtung, scharfzüngig in der Kommentierung, scharfkantig in der Rücksichtslosigkeit auch sich selbst gegenüber. Aber nie scharfmacherisch: "Das Schreckliche hat hier nichts Gigantisches", schreibt Antelme in der Einleitung. "In Gandersheim gab es weder Gaskammer noch Krematorium . . . Den Auftrieb zu unserem Kampf bezogen wir aus dem wahnsinnigen und an uns selbst gestellten Anspruch, bis zum Ende Menschen zu bleiben." Es ist, als hätte der Franzose damit auf die Titelfrage von Levis Erinnerungsbuch antworten wollen: Ja, das waren Menschen, und sie sind es unter unmenschlichen Bedingungen geblieben.

Die zentrale Stelle dazu findet sich nach drei Vierteln des Buchs: "Es ist ein SS-Traum zu glauben, unsere historische Mission sei es, zu einer anderen Gattung zu werden, und da diese Verwandlung zu langsam stattfindet, töten sie uns . . . es gibt nicht mehrere menschliche Gattungen, es gibt nur eine Gattung Mensch. Und weil wir Menschen sind wie sie, wird die SS letztlich nichts gegen uns ausrichten können." Antelme beschreibt einen Triumph der Menschlichkeit, der darin besteht, sich nicht über (und gegen) die Mörder zu erheben, sondern vielmehr deren Überheblichkeit zu beschämen - auch um den Preis des eigenen Lebens. Würde ist für ihn Widerstand, und dieses emphatische Bekenntnis zur moralischen Integrität macht Antelmes Bedeutung aus. Auch im Hinblick auf die Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus, denen man Passivität vorgeworfen hat. Als Résistance-Kämpfer war Antelme dieser Haltung nicht verdächtig, aber seine Schilderungen des Alltags in den Lagern waren dennoch hoffnungslos. Nie jedoch würdelos.

Deshalb ist es ein Glück, dass der Diaphanes Verlag nun zum hundertsten Geburtstag "Das Menschengeschlecht" neu herausgebracht hat - in der unveränderten Übersetzung von Helmlé. Nur der einstige Untertitel "Als Deportierter in Deutschland" ist entfallen, aber den gibt es auch im französischen Original nicht. Und eigentlich hatte der Verlag geplant, gleichzeitig noch ein schmales Bändchen mit zwei bislang unübersetzten Texten herauszubringen: einen entfallenen Abschnitt aus "Das Menschengeschlecht" und den schon 1945 veröffentlichten Essay "Rache?", in dem Antelme sich dagegen ausgesprochen hatte, deutschen Kriegsgefangenen dasselbe anzutun, was der Nationalsozialismus mit den Konzentrationslagern über die Welt gebracht hatten. Leider wird dieses Buch wegen Schwierigkeiten mit dem Übersetzer, wie der Verlag sagt, nicht mehr erscheinen.

Aus ursprünglich 400 Seiten des "Menschengeschlechts" sind im Neusatz nun knapp 500 geworden. Aber das Gewicht des Buchs verdankt sich nicht seinem Umfang. Es gehört nach wie vor in jede deutsche Bibliothek.

ANDREAS PLATTHAUS

Robert Antelme: "Das Menschengeschlecht". Neuausgabe.

Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes Verlag, Zürich 2016. 476 S., br., 14,95 [Euro].

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»Antelmes Buch ist ein fast unerträglich präzise abgefasster Erlebnisbericht über die Qualen der KZ-Häftlinge und gleichzeitig eine ethische Reflexion darüber, ob sich unter solchen extremen Bedingungen Menschlichkeit behaupten kann.« Peter Meisenberg, WDR 3