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Ein Quartett durchgedrehter Germanisten, das einen verschollenen Schriftsteller jagt. Ein Kommissar in einer mexikanischen Wüstenstadt, in der Hunderte von Frauen vergewaltigt und ermordet wurden. Ein amerikanischer Journalist, der dort über einen Boxkampf berichten soll und sich verliebt. Und in ebendieser Stadt wurde der Schriftsteller zuletzt gesehen. Alles hängt mit allem zusammen, die Wege und die Spuren kreuzen sich - aber die Welt bleibt ein Rätsel. Roberto Bolaños postum erschienener Roman ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der Gegenwart, ein Jahrhundertwerk und weltweiter Bestseller. …mehr

Produktbeschreibung
Ein Quartett durchgedrehter Germanisten, das einen verschollenen Schriftsteller jagt. Ein Kommissar in einer mexikanischen Wüstenstadt, in der Hunderte von Frauen vergewaltigt und ermordet wurden. Ein amerikanischer Journalist, der dort über einen Boxkampf berichten soll und sich verliebt. Und in ebendieser Stadt wurde der Schriftsteller zuletzt gesehen. Alles hängt mit allem zusammen, die Wege und die Spuren kreuzen sich - aber die Welt bleibt ein Rätsel. Roberto Bolaños postum erschienener Roman ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der Gegenwart, ein Jahrhundertwerk und weltweiter Bestseller.
Autorenporträt
Roberto Bolaño ist eine der großen Entdeckungen der Weltliteratur; seine Romane verweben 'schlechterdings alles Essentielle der vergangenen Jahrtausende' (Die Zeit). Roberto Bolaño wurde 1953 in Santiago de Chile geboren, lebte in seiner Jugend lange in Mexiko-Stadt und siedelte später mit seiner Familie nach Spanien um. Dort starb er 2003, im vergeblichen Warten auf eine Lebertransplantation, als er gerade an seinem Meisterwerk '2666¿'arbeitete. In der Werkausgabe von Roberto Bolaño sind im Fischer Taschenbuch bisher folgende Titel erschienen: 'Stern in der Ferne', 'Die Naziliteratur in Amerika', '2666', 'Amuleto', 'Das dritte Reich', 'Lumpenroman', 'Der unerträgliche Gaucho', 'Die wilden Detektive', 'Telefongespräche', 'Chilenisches Nachtstück' sowie 'Mörderische Huren'. Im S. Fischer Verlag erschienen erstmals auf Deutsch die Romane 'Der Geist der Science-Fiction' (2018), 'Monsieur Pain' (2019) und 'Die Eisbahn' (2021). Christian Hansen, 1962 in Köln geboren, lebt in Berlin und Madrid. Er übersetzt u.a. Werke von Roberto Bolaño, José Pablo Feinmann, Juan Goytisolo, Amin Maalouf, Alan Pauls, Sergio Pitol, Guillermo Rosales und Vizconde de Lascano Tegui.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2009

Alle Wünsche werden wahr

Jetzt sollte man schnell auslesen, was noch auf dem Nachttisch liegt. Dieser Herbst wird ein literarisches Fest. Eine Vorschau auf die besten neuen Bücher.

Von Felicitas von Lovenberg

Sie selbst nennen sich "endurance bibliophiles", Büchernarren mit Ausdauer. Bis zum 22. September wollen sie gemeinsam "Infinite Jest", den überlebensgroßen Roman von David Foster Wallace, lesen. Tausend Seiten in 92 Tagen, macht 75 Seiten die Woche. Es ist nicht zu spät, sich ihnen anzuschließen: unter www.infinitesummer.org sind sie seit Ende Juni dabei, sich das Mammutwerk zu erschließen. Von Twitter über Tumblr, LiveJournal und Facebook (4576 Freunde) sind alle dabei.

Anstatt diese denkwürdige Leseerfahrung jetzt im Internet zu machen, kann man aber auch noch bis zum 24. August damit warten, wenn die deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach unter dem Titel "Unendlicher Spaß" bei Kiepenheuer & Witsch erscheint - und die allgemeine Ferienzeit stattdessen nutzen, die noch ungelesenen Titel des Frühjahrs, von all den Sommerkrimis und Strandbüchern ganz zu schweigen, wegzulesen. Überhaupt sollte man jetzt möglichst schnell alles auslesen, was noch auf dem Nachttisch liegt. Denn ab Mitte August beginnt ein Literaturherbst, wie wir ihn seit Jahren nicht erleben durften. Mit der Krise hat es nichts zu tun, dass die Literatur in solcher Blüte steht, jedenfalls nicht unmittelbar; die meisten der neuen Bücher sind lange zuvor begonnen, viele schon lange zuvor geschrieben worden. Anders als der Autor Thomas von Steinaecker, ebenfalls im September mit vielversprechendem neuen Roman ("Schutzgebiet", Frankfurter Verlagsanstalt) zur Stelle, vor einigen Tagen an dieser Stelle befürchtete, sind weit und breit keine ernstzunehmenden Romane über Investmentbanker, die ihrem Porsche hinterhertrauern, in Sicht. Zwar geht es auch in vielen der neuen Bücher um Verarmung - aber um jene, die der Verlust an Zuversicht, an Hoffnung, an Möglichkeiten bedeutet.

Es sind zwei Werke, die in diesem Herbst die Aufmerksamkeitsenergien bündeln werden. Neben "Unendlicher Spaß", jenem bereits 1996 im Original erschienenen Meilenstein nicht nur der amerikanischen, sondern der Gegenwartsliteratur überhaupt, erscheint Roberto Bolaños alle Kategorisierungen und Genres sprengender Gewaltakt "2666" (7. September, Hanser). Außer dem schieren Umfang, 1500 beziehungsweise gut tausend Seiten, haben beide Werke gemein, dass sie sich schlecht erklären, dafür umso stärker lesend erleben lassen. Beide vereinen literarische Innovation und Lesbarkeit auf eigene unerhörte, markerschütternde Weise. Und beide Autoren, der im letzten Jahr mit sechsundvierzig gestorbene David Foster Wallace ebenso wie der 2003 im Alter von fünfzig Jahren gestorbene Roberto Bolaño, sind eminente writers' writers; Autoren, die andere Autoren inspirieren und die so weit über ihr eigenes Schaffen hinaus wirken.

Im ersten der fünf Teile von "2666" kreisen vier Literaturkritiker - ein Franzose, ein Italiener, ein Spanier und eine Engländerin -, um ihr Idol, den in jeder Hinsicht schwer fassbaren Schriftsteller Benno von Archimboldi. Angeblich soll er in Mexiko gesichtet worden sein, und so machen sie sich auf den Weg nach Santa Teresa - eine Gegend, die Bolaño-Leser bereits aus "Die wilden Detektive" kennen. Erst im fünften und letzten Teil von "2666" wird Archimboldi tatsächlich auftauchen, aber da ist es für jegliche erlösende Offenbarung längst zu spät. Denn der dunkle Kern des Romans ist eine Serie von Morden und Vergewaltigungen an Hunderten von Frauen in und um Santa Teresa. Es gibt keine Steigerung in "2666", weil das ganze Buch eine einzige Klimax ist, die furios-ausführliche Darstellung einer zutiefst korrupten Welt, die, wenn sie an ihrer Hässlichkeit nicht zugrunde gehen will, nur in einer Kunst Trost finden kann, die sich dieser Missgestalt stellt. Für "2666" muss man eine neue Bezeichnung in die Literaturgeschichte einführen: bolañoesk.

Auf Nebenwirkungen sollte man auch bei Sibylle Bergs Roman "Der Mann schläft" (17. August, Hanser) gefasst sein, eine Liebesgeschichte zwischen besserem Wissen, Lebenserfahrung und Hoffnung, erzählt von einer bis zum Anschlag aufgedrehten Zinnsoldatin. Ein Mann und eine Frau finden sich, erstaunlich genug. Das geht sogar gut - bis sie zusammen verreisen. "Der Mann schläft" ist zynisch, melancholisch und zart, ein in seiner messerscharfen, sich selbst niemals ausnehmenden Diagnosesucht brutal ehrlicher und verstörender Roman. Das Ungeheuerliche liegt auch hier natürlich im Leser selbst: "Ich fand meine Seele nicht so überragend, dass ich mir noch einen mit den gleichen Unfähigkeiten gewünscht hätte."

Ganz anders aufgekratzt, aber ebenfalls von hoher Neugier bei höchster Analysestufe getrieben ist "Wer weiß was", Silvia Bovenschens zweiter Roman (9. September, S. Fischer): ein aberwitziges Totschlagrätsel über gemeuchelte Literaturwissenschaftler, mentale Fingerabdrücke und die Gefahren des Gebrauchs zu vieler Adjektive. Dass Bovenschens "deutliche Mordgeschichte" mit einem Krimi außer einigen Leichen wenig zu tun hat, dafür umso mehr mit großer Literatur, versteht sich bei dieser Autorin von selbst.

Vom Überleben in einer Zeit und an einem Ort, wo ein ganzes System einem nach dem Leben trachtet, schreibt Herta Müller. "Atemschaukel" (17. August, Hanser) ist der Bericht von Leopold Auberg, einem jungen Mann, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges aus Hermannstadt deportiert wird. Herta Müller, deren Mutter fünf Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager verbringen musste, hat die Schicksale vieler Angehöriger der deutschen Bevölkerung Siebenbürgens zu einem Roman verwoben, der vor allem von einem erzählt: von Oskar Pastior, mit dem zusammen Herta Müller dieses Buch eigentlich hatte schreiben wollen. Von der Überwindung, die es sie nach seinem Tod 2006 gekostet hat, "das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben", wie sie im Nachwort gesteht, spürt der Leser nichts - sondern ausschließlich die Sprachmacht einer großen Autorin, die Wucht eines Bekenntnisses zur Poesie unter widrigsten Umständen. "Atemschaukel" ist ein überwältigender, ergreifender, demütig machender Roman, die vielleicht nachhaltigste Leseerfahrung dieses Herbstes.

Mit Wünschen muss man bekanntlich vorsichtig sein, denn sie könnten in Erfüllung gehen. Aber wenn man sich einen Roman wünschen dürfte, der in die eigene Lebenswirklichkeit zielt - dann ist dieser Wunsch mit dem neuen Buch von Thomas Glavinic auf sehr unheimliche und beunruhigende Weise in Erfüllung gegangen. "Das Leben der Wünsche" (17. August, Hanser) hebelt das Schicksal aus - und legt es seinem Protagonisten in die zitternden Hände. Ein Unbekannter bietet Jonas an, ihm drei Wünsche zu erfüllen. Jonas hat nur einen: "Ich wünsche mir: mehr Wünsche. Ich wünsche mir, dass sich alle meine Wünsche erfüllen. Dies ist mein erster Wunsch, und auf die anderen zwei kommt es nun nicht mehr an, ich schenke sie Ihnen." Aus dem märchenhaft anmutenden Angebot wird bitterer Ernst, denn Jonas hat die Konsequenzen seines Wunsches nicht bedacht. Als er seine Frau tot in der Badewanne findet, hat die Wunscherfüllung gerade erst angefangen.

Dass das Glück nicht in einer perfekten Fassade steckt, entdeckt der Architekt Alex in Peter Stamms neuem Roman "Sieben Jahre" (12. August, S. Fischer). In Sonja hat er eine Vorzeigefrau, schön, intelligent, erfolgreich - und trifft sich zu seinem eigenen Befremden doch immer wieder mit einer anderen, obwohl er sie vollkommen reizlos findet. Seine Affäre mit der dumpfen, doch ihm völlig ergebenen Iwona ist der guilt trip eines Süchtigen, der seine Droge nicht benennen kann. Wer hat mehr Macht über uns: die, die wir lieben, oder jene, die uns lieben?

T. S. Spivet ist zwölf und ein manischer Kartograph. Mit Diagrammen und Charts bringt er seine Art von Ordnung in eine unentzifferbare Welt. Er verzeichnet einfach alles: die Flugrouten der Fledermäuse rund ums Haus, die Streuung von McDonald's-Restaurants im nördlichen Montana, den Pegelstand des Sees und den Alkoholpegel seines Vaters. Als er mit einer Auszeichnung vom Smithsonian Institute eine Einladung nach Washington erhält, macht er sich an Bord eines Güterzugs auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise. Reif Larsen, der "Die Karte meiner Träume" (22. September, S. Fischer) während seines Studiums schrieb, ist das neuste Wunderkind der amerikanischen Literatur, was sich nicht nur am Vorschuss von einer Million Dollar für sein Debüt und dessen zeitgleiches Erscheinen in dreißig Ländern ablesen lässt, sondern vor allem an diesem witzigen und anrührenden Buch selbst, das auf jene charmante Weise verspielt ist, für die man nie zu alt werden möchte.

Es ist noch nicht lange her, da war auch Andrew Sean Greer, Jahrgang 1970, ein Jungstar aus Amerika. Sein neuer Roman, "Geschichte einer Ehe" (12. August, S. Fischer), ist das Werk eines reifen Romanciers, der seine Mittel grandios beherrscht. Eine Vorzeige-Ehe im Kleinstadt-Amerika der fünfziger Jahre: Pearlie, ihr schöner Mann Holland und Sohn Sonny. Wie sich herausstellt, hat Holland ein schwaches Herz aus dem Krieg mitgebracht - aber in einer anderen Hinsicht, als Pearlie sich je hätte träumen lassen. Als ein alter Freund von Holland ihr 100 000 Dollar bietet, muss sie entscheiden, ob sie ihren Mann kampflos aufgeben will.

Auch die britische Literatur ist mit außergewöhnlichen Werken vertreten, allen voran mit dem neuen Buch von Rose Tremain, die leider in Deutschland, anders als in ihrer britischen Heimat, kein Begriff ist. Ihr beherzter, kluger Roman "Der weite Weg nach Hause" (21. September, Suhrkamp) erscheint lediglich als Taschenbuch, sollte aber nicht übersehen werden. Er erzählt die Geschichte des Polen Lev, der nach London kommt, um Geld zu verdienen - und dabei einen Crashkurs in westeuropäischen Ansprüchen und Sichtweisen machen muss, bei dem ihm "Hamlet" unverhofften Beistand leistet. A. L. Kennedy tut in ihrem neuen Erzählungsband "Was wird" (August, Wagenbach) erneut das, was sie am besten kann: Innerstes nach außen kehren. Und schließlich liefert David Nicholls mit "Zwei an einem Tag" (3. August, Kein & Aber) so etwas wie eine englische Entsprechung des Glattauer-Erfolgs "Gut gegen Nordwind" - ohne E-Mail.

Und wem die Augen müde werden, der sperre die Ohren auf und lausche den Dichtern selbst: Hundert Jahre deutsche Lyrik in Originalaufnahmen versammelt die Edition "Lyrikstimmen" vierhundert Gedichte, von 124 Autoren vorgetragen (16. Oktober, Hörverlag). Allein die erste der neun CDs bietet mit dem schülerinnenhaften Vortrag Ricarda Huchs über den deklamatorischen Singsang von Karl Kraus bis hin zum lispelnden Wilhelm Lehmann deutsche Dichtung in Bestform.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2009

Noch massiver, noch bizarrer
Amerika feiert ein Meisterwerk: Roberto Bolaños „2666”, den Roman eines endlosen Schiffbruchs
Häufig sieht man ihn auf Fotos rauchen. Doch hängt ihm die Zigarette nicht lässig zwischen den Mundwinkeln, im Gegenteil, eher angestrengt saugt er an ihr: Die Wangen ziehen sich zusammen und aus den Augen scheint jeder Glanz gewichen, als hätte sich das Leben daraus zurückgezogen, dem Rauch folgend, der langsam seinen Rachen runterkriecht, ein trockener, betäubender Nebel. Wenige heftige Züge, dann ist vom Tabak nichts mehr geblieben, zwischen den Fingern klemmt nurmehr der Filter, zerquetscht, als habe sein Besitzer ihm noch den letzten Rest abpressen wollen.
Gerne glaubt man angesichts dieser Fotos, dass Roberto Bolaño heroinabhängig gewesen sein soll. Man kauft ihm, der so ausgemergelt, so getrieben und auch ein wenig schmuddelig wirkte, bereitwillig den Junkie ab. Doch wahrscheinlich hat man dann einige Hinweise in seinem Werk allzu leichtgläubig für wahr genommen. Seine Freunde wenigstens und seine Witwe erklären, das mit dem Heroin sei ein Missverständnis. Und doch widmete die International Herald Tribune dieser Frage jüngst einen halben Artikel. Die andere Hälfte beschäftigte sich mit dem Gerücht, Bolaño habe Chile im Jahr 1973 gar nicht betreten. Deswegen könne er auch nicht, wie er behauptet habe, einige Tage in den Folterkellern Pinochets gefangen gewesen und nur durch Glück entkommen sein.
Würden diese Vermutungen zutreffen, sie änderten nichts an der Wahrhaftigkeit seines Werkes. Interessant dabei ist , dass Bolaño, Meister literarischer Verwirrspiele und kriminalistischer Dramaturgien, inzwischen selbst zu einem Gegenstand der Spekulation geworden ist. Das hängt mit dem gewaltigen Erfolg zusammen, den der Autor von „Die wilden Detektive” schon zu Lebzeiten feiern konnte, der aber posthum ungeahnte Ausmaße angenommen hat. Als Bolaño 2003, gerade einmal 50-jährig, an den Folgen einer Hepatitis starb, ging bereits das Gerücht, sein Nachlass berge ein monumentales Manuskript, einen Roman, gegen den all sein bisheriges Schaffen wirken werde wie ein Setzling im Urwald. Dabei hatten schon „Die wilden Detektive”, 1998 erschienen, einen beeindruckenden Umfang, und überhaupt war Bolaños literarischer Ausstoß in den zehn Jahren vor seinem Tod enorm gewesen, als wisse er um sein frühes Ende, als sei sein Leben ein Wettlauf mit dem Tod gewesen.
Der Literatur hatte er sich schon als junger Mann in Mexiko gewidmet. Mit einem Freund gründete er die „Infrarealisten”, eine literarische Gruppe, deren hauptsächliche Tätigkeit darin bestand, auf Lesungen arrivierter Autoren Lärm und Unruhe zu verbreiten. 1977 dann ging Bolaño nach Europa, verdingte sich als Tellerwäscher und Campingplatzwächter und hielt sich von der Literatur oder doch wenigstens vom Betrieb fern. Wahrscheinlich war es eine Inkubationszeit, denn als er seine spätere Frau kennenlernte, Vater wurde und sich an der Costa Brava niederließ, brachen die Geschichten nur so aus ihm hervor. Bekannt wurde er 1996 mit der wunderbaren, auf Deutsch beschämenderweise vergriffenen „Naziliteratur in Amerika”, einer Sammlung halbfiktiver Lebensläufe von Schriftstellern zweifelhafter Moral.
Bolaños Personal, das muss gesagt werden, besteht fast immer aus Schriftstellern, aus verschwundenen Schriftstellern vornehmlich, desaparecidos, die wiederum von anderen Schriftstellern gesucht werden, literarischen Detektiven, die messerscharfe Debatten über die Frage des Metrums in der Lyrik Nerudas führen können. Das ist auch der Fall in „2666”, jenem Roman, der in der spanischsprachigen Welt ein Jahr nach Bolaños Tod aus seinem Nachlass veröffentlicht und dort einhellig zum Buch des Jahres erklärt wurde. Im vergangenen Herbst erschien „2666” auch auf Englisch. Leser und Kritiker in den USA und Großbritannien sind seitdem von ihm wie hypnotisiert. Seien „Die wilden Detektive” schon zu einem Fetisch geworden, so das Magazin Time, werde dieser Erfolg von „2666” bei weitem übertroffen: „noch massiver, noch bizarrer, ein Meisterwerk”, kurz: „der herausragendste Roman des gegenwärtigen Jahrhunderts”. Der New Yorker rief sogar den vergangenen Januar zu einem National Reading Month „2666”; aus: Dreißig Tage lang diskutierten Literaturredakteure des Magazins mit den Lesern im Internet darüber, was sie an dem 1100-Seiten-Werk fasziniert.
Dabei wirkt ein Roman, der die Literatur selbst zum Thema hat, auf den ersten Blick nicht gerade übermäßig attraktiv. Doch schon die New York Times Book Review stellte fest, dass es sich bei Bolaño um das Gegenteil eines sterilen, selbstbezüglichen Literaten handele. Der Schriftsteller Benjamin Kunkel sagte, Bolaños Romane hätten zwar die Literatur zum Thema, gingen aber über diese hinaus. Auch der englische Romancier John Banville meinte ehrfürchtig, bei Bolaño handele es sich um einen jener seltenen Schriftsteller, die für die Zukunft schrieben, „ein seltsames, schräges Genie”. Jonathan Lethem schließlich, Autor der „Festung der Einsamkeit”, schrieb in der New York Times, „2666” sei wie eine Zeitbombe, die, einmal explodiert, ganz unvermeidlich erscheine und doch eine Offenbarung darstelle. Mit „2666” habe Bolaño einen Meilenstein gesetzt, der kenntlich mache, was für den Roman als Form möglich sei „in einer post-nationalen Welt”, es sei ein Buch, das, „während du es liest, deine Gedanken liest”.
In seinem Hymnus erwähnt Lethem auch David Forster Wallaces Opus Magnum „Infinite Jest”; er zieht Don DeLillo, Philip K. Dick, Denis Johnson, Jorge Luis Borges und James Ellroy zum Vergleich heran. In anderen Besprechungen ist von Charles Dickens die Rede, von William Faulkner, David Lynch und Stanley Kubrick, immer wieder auch von Joyces „Ulysses”, vom „Mann ohne Eigenschaften” und von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”. So droht „2666” in einer Woge aus Superlativen unterzugehen.
Darum sei, auf dass sie Halt biete, kurz die Handlung des Romans skizziert: „2666” setzt sich aus fünf Teilen zusammen, die Bolaño ursprünglich separat veröffentlichen wollte, um seinen Kindern ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen. Sein Nachlassverwalter, der Kritiker Ignacio Echevarría, und sein Verleger Jorge Herralde entschieden sich jedoch anders und brachten das Werk gebündelt auf den Markt. Der erste Teil nun handelt von vier Literaturkritikern, die sich auf die Suche nach einem deutschen Schriftsteller namens Benno von Archimboldi machen. Seine Spur führt sie in die mexikanische Wüste Sonora. Hier begegnen sie einem Philosophen, Almafitano, dessen Leben Gegenstand des zweiten Buches ist. Der dritte Abschnitt widmet sich einem schwarzen Boxer, der in die Sonora-Wüste reist, um dort einen Kampf zu bestreiten. Der vierte handelt von einer Serie nicht aufgeklärter Frauenmorde. Über dreihundert Seiten hinweg verbindet Bolaño hier Kurzbiographien der Opfer und Beschreibungen ihrer Leichen. Der fünfte Teil schließlich beschäftigt sich mit dem Leben Benno von Archimboldis, seinen Erfahrungen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs und seiner Reise nach Mexiko. Von den vier Literaturkritikern ist nicht mehr die Rede.
Augenscheinlich aufeinander bezogene Geschichten also – doch warum sie „ein akkurates Abbild der Welt” bilden sollen, wie es im Bolaño-Blog des New Yorker heißt, und inwiefern sie die Summe der Literatur von Dickens bis David Foster Wallace ziehen, erklärt sich daraus nicht unmittelbar. So sehr die Handlungsstränge durch allerlei Motive und Symbole miteinander verknüpft sind, am Ende bleibt der Roman offen. Er strebt keiner Lösung zu und bietet keinerlei Erklärung an.
Es ist erstaunlich, welche Resonanz ein so umfangreiches und komplexes Werk wie „2666” erfährt, erstaunlicher aber noch ist, dass sich niemand an seiner Rätselhaftigkeit zu stören scheint. Es ist, als würden alle, die es lesen, etwas Besonderes dabei spüren, ohne dass jemand wirklich sagen könnte, worum es sich bei diesem Gefühl handelt. Es gibt höchstens ein paar Hinweise: Im New Yorker heißt es, das Gebäude von „2666” ruhe auf „toten – gefolterten, missbrauchten – Frauenkörpern”. Die New York Times Book Review spricht von einer Welt „endlosen Schiffbruchs”. Für Adam Kirsch (im Online-Magazin Slate) scheint der Roman einen einzigen großen Bogen zu spannen, gleich einer Zeichnung der „Flugbahn des Universums am Rand des Untergangs”. Newsweek nennt „2666” einen Albtraum, aus dem man erwachen will, es aber nicht kann. Das Time Magazin schließlich warnt, „2666” sei ein „gefährliches Buch”, in dessen wildem Chaos man sich verlieren könne. Deswegen aber sei es so wahrhaftig, denn Signal ohne Rauschen, das wäre geschönt.
All das klingt, als habe man es hier mit einer Offenbarung zu tun, einer Apokalypse, als weise der Roman in eine allzu nahe Zukunft, und nicht erst ins Jahr 2666. Schon lange schwingt in der Rezeption von Bolaños Werk ein religiöser Unterton mit, als sei Literatur das letzte Versprechen, das die profane Welt zu bieten habe. Der Schriftsteller selbst wurde spätestens mit Erscheinen der „wilden Detektive” wie eine Art Erlöser gefeiert, nicht trotz, sondern wohl gerade wegen seiner rauen, kompromisslosen Art. Schnell galt er (und gilt heute noch) als der bedeutendste Schriftsteller spanischer Sprache. Insbesondere in Lateinamerika war man froh, als endlich jemand auftauchte, der den saturierten Betrieb aufmischte und dabei Romane schrieb, die nicht nur ästhetisch über Mario Vargas Llosas oder Gabriel García Marquéz’ jüngste Elaborate hinauswiesen, sondern auch von einer ganz anderen moralischen Dringlichkeit getrieben zu sein schienen.
Es drängt sich der Verdacht auf, als spiegele „2666” das Unbehagen an unserer Gegenwart, als biete es zugleich aber auch eine Art von Trost, die nichts mit den heuchlerischen Glücksversprechen einer Isabel Allende oder eines Paulo Coelho gemein hat. Deutsche Leser müssen die in der zweiten Jahreshälfte im Hanser Verlag erscheinende deutsche Ausgabe abwarten. Wer sich so lange nicht gedulden mag, der kann sich mit Bolaños jüngst erschienenen „Fragmenten einer Autobiographie” die Zeit verkürzen. Auch sie wecken die Hoffnung, dass die Keller und Kammern der Literatur Spuren unseres Daseins bewahren mögen: „Mir träumte, das Ende der Welt sei gekommen”, heißt es da, „und das einzige menschliche Wesen, das es betrachtete, sei Franz Kafka. Am Himmel kämpften Titanen um Leben und Tod. Von einer schmiedeeisernen Parkbank in New York sah Franz Kafka dem Weltenbrand zu.” TOBIAS LEHMKUHL
Der New Yorker forderte einen nationalen Lesemonat „2666”
Ein Roman wie ein Albtraum, aus dem man nicht erwachen kann
Ein seltsames Genie: Roberto Bolaño, 1953-2003. Foto: Basso Cannarsa/Opale
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