Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
den Punkt!
Neue Bandwurmsätze von Javier Marías
– eine Romanbesprechung im Stile des Autors
VON TOBIAS LEHMKUHL
Nicht allzu lang ist es her, dass ich diese Geschichte las – weniger lang als ein Wochenende gewöhnlich dauert, und wie gering ist ein Wochenende, wenn es vorüber ist, sich in ein paar Sätzen erzählen lässt und im Gedächtnis nur noch Asche bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Windstoß –, und doch wäre es heute unmöglich, diese Geschichte wirklich präzise wiederzugeben, und damit ist nicht gemeint, was den beiden, Eduardo Muriel und seiner Frau Beatriz Noguera, als jungen Menschen geschehen war, und nicht so sehr das – obwohl auch das – was mit ihnen geschah, als der Erzähler dieser Geschichte ein junger Mann und ihre Ehe ein unauflösliches Unglück war.
Dabei hat es solche Figuren wohl immer gegeben, sie sterben nicht aus, es wird sie weiter geben, bestimmte Figuren wandeln sich nie, ob in der Wirklichkeit oder in der Fiktion, ihrer Zwillingsschwester, sie wiederholen sich im Laufe der Jahrhunderte, als mangelte es beiden Sphären an Fantasie oder als wäre es unausweichlich, ja man könnte meinen, wir erfreuten uns an einem einzigen Schauspiel, einer einzigen fortlaufenden Erzählung, wie kleine Kinder, mit unendlichen Varianten, in altmodischem oder modernem Kostüm, aber im Grunde immer die gleiche Geschichte. Das gilt auch für die Romane von Javier Marías, der eine Vorliebe für den Klang bestimmter Namen hat, für Jaime Deza oder Juan de Vere, junge Männer noch oder doch schon Männer im besten Alter, die in seinen Fiktionen die seltsam undurchsichtigen Erzählinstanzen darstellen. Dabei sind diese Fiktionen vielleicht gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern Geschichten, die er sich vielmehr selbst erzählt, Geschichten, die er erzählen muss, um in dieser Welt existieren zu können, Geschichten, die aus ihm herausströmen wie der Atem und die es ihm, der ein tiefer Melancholiker ist, erträglich machen zu leben.
Vielleicht fungiert das Erzählen von Javier Marías nicht zuletzt als Schutzschild gegen die Anfeindungen der Moderne, gegen die Handys, in die alleschauen wie in Kristallkugeln, wie er einmal schreibt, oder vielmehr erzählt, denn tatsächlich gleichen seine Romane den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, bilden eine einzige, nie abgeschlossene Erzählung, auch wenn sie stets, und meist durchaus spannungsreich, einer Lösung zustreben, einer Lösung, die den Leser, der eigentlich ein Zuhörer ist, nicht unbefriedigt zurücklassen. Marías weiß, was ein guter Plot ist und was man von ihm erwartet, seine Bücher sind seit jeher von eben demselben Atem getragen, derselben Dringlichkeit, umweht vom gleichen melancholischen Air. Einen Punkt zu setzen fällt da schwer, dem Autor ebenso wie dem Kritiker, der sich dem verschlungenen Satzbau seines Vorbilds versuchsweise anverwandelt.
Doch zurück zu den traurigen Helden dieser Erzählung, zu Eduardo Muriel und Beatriz Noguera, wobei es zu jeder Zeit einen Eduardo Muriels und eine Beatriz Nogueras gegeben haben dürfte, von den Statisten um sie herum ganz zu schweigen; ebenso einen Juan de Vere, denn so heißt er, der Erzähler dieser Geschichte oder dieses Romans, der Verfasser dieser ausschweifenden Überlegungen, der 64o-seitigen Gedankenschleifen, Juan Vere oder Juan de Vere, je nachdem wer seinen Namen sagt oder denkt. Nichts Originelles hat seine Figur, wie er selbst behauptet, und damit hat bis zum einem gewissen Punkt recht, denn originell darf sie, darf er nicht sein, darf nicht auffallen, muss sich im Hintergrund halten, ausgestattet mit nichts als einem hervorragenden Gedächtnis, um ja auch alle Windungen und Feinheiten, um jede Bewegung und jede Geste im Hause des Regisseurs Muriel und seiner Frau Beatriz mitzubekommen und sie sich zu merken (und seine eigene Rolle zu verschleiern).
Er braucht eine Weile, dieser Juan oder Javier, um in Gang zu kommen, anfangs stottert die Erzählmaschine ein wenig, es bedarf meist dreier Worte, um einen Sachverhalt endlich zu fassen, er muss immer wieder „nachhaken, bohren, herauskitzeln“, bevor es dann wirklich an all das „schmutzige, unangenehme, niederträchtige“ geht, von dem in „So fängt das Schlimme an“ auch die Rede ist, von franquistischen Kinderärzten unter anderem, die die Gunst der Mütter einfordern, bevor sie ihre Kleinen behandeln. Aber schließlich und letztendlich ist „nichts einfacher, als jemandem die Zunge zu lösen, fast jeder ist darauf versessen, zu reden.“
Und hat man einmal damit angefangen, gibt es bald kein Halten mehr, wobei man nicht vergessen darf, dass es immer auf den Standpunkt ankommt, und der des Zuhörers oder Lesers einer Geschichte – der letztlich einem Gerücht Aufmerksamkeit schenkt, so sehr der Berichtende auch schwört, aus erster Hand zu erzählen und die Tat begangen zu haben oder beteiligt gewesen zu sein – deckt sich niemals mit dem, der sie erlebt und in die Welt gesetzt hat oder mit jenem des Rezensenten, der die Geschichte, die Bücher, die Romane unter der Prämisse liest, sie wiedergeben, sie auf seine Art noch einmal erzählen zu müssen, der besagte 640 Seiten auf 140 oder, wenn er Glück hat, auf 180 Zeilen zu komprimieren und zudem noch darüber zu urteilen hat – ein Ding der Unmöglichkeit, und ungerecht obendrein, nicht nur dem Autor, auch dem Leser des Literaturteils gegenüber, so es ihn überhaupt noch gibt, am Ende sich selbst gegenüber, eine Aufgabe die stets, ja, einen Selbstbetrug darstellt, denn auch wenn der Rezensent einmal zufrieden ist und meint, seine Aufgabe mit Bravour erfüllt zu haben, stellt sein Beitrag doch nur eine jämmerliche Verkürzung dar, oder, wie in diesem Fall, ein schwaches Echo des Stils.
Aber da uns nichts bleibt, als weiterzumachen, weiterzuerzählen, weiterzurezensieren, wollen wir uns nicht – wie Beatriz Noguera – umbringen, um ein anderes Schicksal zu wählen, sollte uns überhaupt je eine Wahl bleiben, sei hier noch einmal gesagt, dass es auf den Plot nicht ankommt, auch wenn man durchaus wissen will, warum Eduardo Muriel mit seiner Frau nicht mehr schläft, was sie ihm angetan hat, welche Lüge er, nach zwölf Jahren Ehe und drei Kindern nicht verzeihen konnte, welcher Verrat es war, der dazu führte, dass sein Schlafzimmer ihr verschlossen bleiben sollte auf immer, und dazu, dass dieser Juan de Vere oder Juan de Vera mit ihr schläft, die fast zwanzig Jahre älter ist als er, nur einmal, was freilich einmal zu viel sein kann, will man nicht zugleich Vater und Onkel eines Kindes – aber brechen wir hier ab, denn um den Plot geht es, wie gesagt, nicht, sondern um diesen wunderbar einlullenden Marías-Sound, diese mäandernden Bandwurmsätze, um die wie aus dem Nichts kommenden Reflektionen über Liebe, Tod, Fiktion und Verrat, die heruntergekocht auf ein paar wenige Worte zwar nie mehr darstellen als bloße Allgemeinplätze, die man trotzdem so gerne liest, weil sie einem das wohlige Gefühl vermitteln, die Welt, der Mensch ließe sich doch irgendwie ordnen und verstehen, für einen Moment in Sprache fassen – was immerhin reine Geschmacksache ist und jedem anders gehen kann.
Wer aber bis hierhin gelesen hat, dem wird es ähnlich gehen, und er wird losziehen, sich diesen locker-luftigen Ziegelstein von Buch kaufen (oder dazu das vermaledeite Internet aufsuchen), wird – so lesesüchtig wie der Autor erzählsüchtig und vielleicht, um für den Moment, für ein paar Stunden nicht allein zu sein – es in einem Rutsch verschlingen, auch wenn danach von der Geschichte und den pseudophilosophischen Überlegungen „nur noch Asche im Gedächtnis bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Wind.“
Kann ein Ziegelstein
zugleich locker und luftig sein?
Bei diesem Erzähler ja
Javier Marías: So fängt das Schlimme an. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
640 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Bespiegelt sich auch im neuen Buch
ganz gern selbst: der spanische Autor Javier Marías.
foto: Anna Weise/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von Ehen und anderen Diktaturen: Javier Marías erzählt seinen großen neuen Roman formvollendet aus dem Ohrensessel.
Von Jan Wiele
Tief in der Nacht wird alles wahrscheinlich, erhält andere Dimensionen": Dieser Satz kann als paradigmatisch für den spanischen Erzähler Javier Marías gelten. Er birgt sowohl das romantische Potential der Nacht, in der erotisch alles möglich ist (auch in diesem Roman geht wieder einiges!), als auch die Möglichkeit für dramatische, ja tödliche Zuspitzungen. Beides hat Marías in seinem Werk seit den frühen Erzählungen "Während die Frauen schlafen", einem der schönsten roten Wagenbach-Bändchen, und dem sehr erfolgreichen Roman "Mein Herz so weiß" vielfach ausgespielt. Hier nun in "So fängt das Schlimme an" verwirklicht es sich, wenn der Erzähler Juan de Vere nachts heimlich die leichtbekleidete Beatrice Noguera beobachtet und später auch verführt - sowie bei deren versuchtem Selbstmord in einem Madrider Hotel, der gerade noch verhindert wird.
Wir schreiben das Jahr 1980. Spanien ist im Umbruch, die Menschen erholen sich von vier Jahrzehnten Franco-Diktatur und entdecken neue Freiheiten. Auch dabei wird der Mottosatz wirksam: "Jeder, einerlei welchen Alters, machte damals die Nacht zum Tag", heißt es einmal, als der damals dreiundzwanzigjährige Juan mit dem fast dreimal so alten, derben Lebemann Doktor van Vechten durch die Szeneclubs der Hauptstadt zieht. Das ganze Setting des Romans ist einigermaßen glamourös, denn Juan arbeitet für den erfolgreichen Regisseur Muriel Noguera, bei dem Kulturprominente aus aller Welt, aber auch Politiker ein- und ausgehen. So taucht zum Beispiel eine Nichte des Dichters García Lorca auf oder hat der amerikanische Schauspieler Jack Palance einen Gastauftritt auf einer Party. Noch mehrmals kreuzt Marías seine Fiktion spielfreudig mit historischen Begebenheiten und Persönlichkeiten - darunter jene des real existierenden spanischen Literaturwissenschaftlers Francisco Rico (F.A.Z. vom 21. Oktober 2014). Er erhält als "Professor Rico" diesmal sogar ziemlich viel Raum für seine bildungssatten Einlassungen und antiquierten Redensarten, die Susanne Lange so geschickt ins Deutsche überträgt, dass einem die ironische Zeichnung dieser Figur nicht entgehen kann.
Die Exkurse in die Filmgeschichte wie auch die weidlich ausgekosteten Namensspielereien ufern gelegentlich etwas aus, aber man kann es Marías trotzdem kaum übelnehmen - er war schon immer ein Meister eines enzyklopädischen Stils und der eingeschobenen Bemerkungen. Oft dienen diese Einschübe auch nur der Spannungssteigerung, denn trotz amüsantem Beiwerk hat der Roman einen ernsten Kern und zeichnet sich wieder durch das aus, was dieser Schriftsteller am besten beherrscht: Er stellt eine dramatische, unerhörte Begebenheit in den Mittelpunkt, die nur sehr langsam, aber detektivisch genau aufgeklärt wird.
So weiß der Leser von Anfang an, dass Beatrice allnächtlich vor der Schlafzimmertür ihres Ehemannes Muriel um Einlass fleht, dieser jedoch der Bitte nicht stattgibt und die Frau noch dazu mit Beleidigungen überzieht. Warum er das tut, versteht man erst Hunderte Seiten später nach ihrem Suizidversuch. Parallel zur Klärung des Ehedramas stöbert Juan in der Vergangenheit des dubiosen Doktors van Vechten, der bei seiner sexuellen Trophäenjagd wirklich keine Gelegenheit auslässt und sich in den Franco-Jahren dabei auch niederträchtiger erpresserischer Mittel bedient haben soll. Auch die Details dieser Geschichte kommen aber nur sehr allmählich ans Licht, der Leser wird nach allen Regeln der Kunst auf die Folter gespannt. Und natürlich wäre es kein Marías-Roman, wäre nicht auch der zunächst naiv scheinende Erzähler am Ende heftigst in die erotischen und dramatischen Verwicklungen verstrickt.
Im Zentrum des Romans steht eine Engführung von menschlichen Verfehlungen in Liebesdingen und solchen im franquistischen Spanien: So ist immer wieder von der Amnestie die Rede, mit der man nach den schlimmen Auswirkungen des Bürgerkriegs einen Neuanfang versuchen wollte, und sie wird mit jener Amnestie verglichen, die verletzte Liebende einander gewähren. Das ist ein heikler Vergleich. Das Für und Wider von solch gnädiger Verdrängung in beiden Sphären erörtert Marías philosophisch und überaus poetisch in zahlreichen erzählerischen Exkursen, die sich ganz vom Stoff und von der Figur des Erzählers Juan lösen. Dieser immerhin hat aber selbst schon ein hohes Reflexionsniveau, erzählt er doch seine Geschichte des Jahres 1980 bereits mit mehr als dreißigjährigem Abstand von heute aus.
Trotz der vielen Zeitsprünge in einer Geschichte, die insgesamt ein ganzes Jahrhundert umspannt, herrscht im Roman allerdings kein postmodernes Durcheinander, sondern Erzählung und Meta-Erzählung sind stets fein säuberlich in Kapitel getrennt. Dieses Formvollendete passt zu Marías' insgesamt etwas altertümlich wirkendem Stil, der gelegentlich Züge zur raunenden, opahaften Sentenz hat: "Nichts war von Dauer in jenen wilden Tagen." Aber bis auf solche Schmunzelstellen kann man seinem Ton durchaus verfallen; es ist eben auch schön, einem Erzähler alter Schule zuzuhören, der weltliterarisch beschlagen ist und den man sich als whiskyschwenkenden Gentleman im Ohrensessel vorstellt.
Romantisch eingebettet wird die ganze komplizierte Geschichte schließlich noch durch ein wiederkehrendes literarisches Motiv, nämlich den Bezug auf den Mond als stillen Zeugen der Ereignisse. Immer wieder ruft der Erzähler ihn als den "greisen Turmwächter" an, der doch eigentlich schon alles gesehen haben müsse und daher durch nichts mehr aus der Bahn geworfen werden könne. Dieses Motiv bestimmt auch die Exkurse über das Wesen des Erzählens und der Literatur, von der man ja auch schon länger sagt, sie könne nichts Originelles mehr schaffen. Aber Marías gelingt es eben dann doch, die alte Geschichte so zu erzählen, dass sie immer neu wirkt.
Javier Marías: "So fängt das Schlimme an". Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 640 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main