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Ein alter Mann zieht aus der Hauptstadt in eine entlegene Ortschaft im Grenzland, dort will er die letzten Jahre verbringen. Welche geistigen Eindrücke bleiben, fragt er, aus einem Leben, das der Betrachtung gewidmet war und dem Lesen? Die sehnsüchtige Anmutung einer dunkelhaarigen Frau? Der Familiensitz in einer kargen Landschaft? Die gelenkige Schönheit eines gewissen Rennpferdes? Die Farbigkeit durchscheinender Glasfenster? Eine Zeile Proust? Und so beginnt der Mann, im Zwielicht seiner Tage, diesen seinen Schatz zu katalogisieren, kaum ahnend, wohin sein »Bericht« ihn führen wird und…mehr

Produktbeschreibung
Ein alter Mann zieht aus der Hauptstadt in eine entlegene Ortschaft im Grenzland, dort will er die letzten Jahre verbringen. Welche geistigen Eindrücke bleiben, fragt er, aus einem Leben, das der Betrachtung gewidmet war und dem Lesen? Die sehnsüchtige Anmutung einer dunkelhaarigen Frau? Der Familiensitz in einer kargen Landschaft? Die gelenkige Schönheit eines gewissen Rennpferdes? Die Farbigkeit durchscheinender Glasfenster? Eine Zeile Proust? Und so beginnt der Mann, im Zwielicht seiner Tage, diesen seinen Schatz zu katalogisieren, kaum ahnend, wohin sein »Bericht« ihn führen wird und welche Geheimnisse dabei ans Licht kommen.

Grenzbezirke ist eine Geste des Abschieds. In Bildern gespenstischer Tiefe erzählt Gerald Murnane das Leben eines leidenschaftlichen Lesers, strauchelnden Liebhabers und praktizierenden Gläubigen - ein Glauben nicht an die Gemeinplätze der Religion, sondern an die unwiderlegbare Leuchtkraft des Erinnerns und der Literatur.
Autorenporträt
Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete – und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene – Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. In den vergangenen Jahren war Murnane immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018

LITERATUR
Am Horizont des Bewusstseins
In Australien gilt Gerald Murnane als großer Schriftsteller, in Deutschland ist er kaum bekannt. Jetzt ist sein zweiter Roman
auch hier erschienen: „Grenzbezirke“ erforscht die Ränder der Zivilisation, der Erinnerung, der Wahrnehmung
VON JÖRG MAGENAU
Die Grenzbezirke, die dem neuen Roman des großen australischen Schriftstellers Gerald Murnane den Titel geben, sind erst einmal ganz direkt geografisch zu verstehen. Ein Mann, Mitte 60, ist aus der Hauptstadt, wo er lange lebte, in ein kleines Dorf an der Grenze gezogen, um hier ungestört an dem zu arbeiten, was er seinen „Bericht“ nennt. Dieser Bericht beginnt mit der Erklärung, was es bedeutet, seine „Augen zu hüten“. Die Erklärung führt zunächst zurück in die Kindheit, in der er seine Schulausbildung in einem Orden geistlicher Brüder erhielt. Die Knaben mussten dort möglichst oft an der Spendung der heiligen Sakramente teilhaben und in einen Gebetszustand hineinfinden, von dem der Berichterstatter nicht so recht wusste, wie er denn richtig zu erreichen wäre.
„Die Augen hüten“ war damals durchaus moralisch gemeint, nämlich sich vor den Sünden und Verführungen der Welt zu hüten, indem man gar nicht erst hinsieht. Der alt gewordene „Berichterstatter“ aber hat seinen Glauben längst verloren – und zwar bei der Lektüre der Romane von Thomas Hardy. Für ihn ist das Augenhüten zu einer ästhetischen Operation geworden. Er übt das Schauen ohne hinzusehen, das ungesteuerte Wahrnehmen an den äußeren Grenzen des Sichtfeldes, da wo die Bilder unscharf werden und nur noch aus Farben und Formen bestehen, die zu eigenen Assoziationen herausfordern.
Damit ist nicht nur der Gegenstand dieses Buches – religiöse Erfahrungen und Glaubensverlust – vorgezeichnet, sondern auch die Richtung angegeben, die Murnanes Schreiben antreibt: Von der Moral zur Ästhetik und darüber hinaus in einen Bereich metaphysischer Erkundungen. Licht- und Schattenverhältnissen widmet er allergrößte Aufmerksamkeit. Dabei sind es gerade die Unschärfen, die ihn interessieren. Das gilt auch für die Erinnerungen, die sich einstellen und die eher nebensächliche Dinge bewahren, wie die Farbe von Fenstern oder die Sitzordnung in einer Kirche. Der Berichterstatter versammelt all die unwillkürlich aufleuchtenden Details, die sich aus einem dunklen Grund des Vergessens erheben.
„Grenzbezirke“ ereignet sich also in jeder Hinsicht an den Rändern: an den Rändern des Landes, der Wahrnehmung, der Gegenwart, des Bewusstseins, der Seele. „Grenzbezirke“, in Australien unter dem Titel „Border Districts“ 2017 erschienen, knüpft damit an das abseitige, rätselhafte „Die Ebenen“ an, einen frühen Roman Murnanes, der in deutscher Übersetzung von Rainer G. Schmidt vor einem guten Jahr erschienen ist und mit dem man diesen in seiner Heimat gefeierten, bei uns aber immer noch nahezu unbekannten Autor hierzulande überhaupt erst entdecken konnte.
Dass er, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt wird, so randständig bleiben konnte, hat mit seiner eigenen Lebensweise zu tun. Seinen Heimatdistrikt, das australische Victoria, hat der inzwischen knapp 80-Jährige nie verlassen, sich vielmehr auch dort an die Peripherie zurückgezogen. Öffentliche Auftritte lehnt er ab. Am ehesten kann man ihn bei Pferderennen antreffen, einer Leidenschaft, der auch der Berichterstatter der „Grenzbezirke“ anhängt.
Was dieser Berichterstatter darüber hinaus von sich preisgibt, ist nicht viel. Aus einer Prägung im Brüderorden, dem Glaubensverlust und dem Rückzug an die Peripherie, wird keine nacherzählbare Biografie, kein bürgerlicher Lebenslauf. Bücher über Themen und Inhalte, über die man reden kann, langweilen ihn. Ihm geht es um „Worte und Sätze, die erwarten, gelesen zu werden“. Deshalb vertraut der Berichterstatter seinen Assoziationen auch dann, wenn er sich selber fragt, warum er das „langweilige Zeug“ eingefügt habe. Er betrachtet fasziniert das Foto der Autorin einer Biografie über George Gissing, die im Profil, scharf angestrahlt, abgebildet ist, so dass ihr Augapfel zu leuchten scheint. Das erinnert ihn an die bunten Glasmurmeln seiner Kindheit, die er sich so dicht ans Auge hielt, dass sie die Iris berührten. So wie sich die Welt beim Blick durch diesen Glaskörper veränderte, so ist auch die innere Perzeption vorzustellen: Ein Drogenabhängiger berichtete ihm einmal, dass er nach der Einnahme von Halluzinogenen das Gefühl habe, sein Schädel bestehe nicht aus Knochen, sondern aus Glas, sodass die einzelnen Gedanken darin als bunte, wimmelnde Punkte sichtbar wurden.
Aus derlei Gedankenpunkten, Sichtflächen und Farbspielen setzt sich die Prosa Gerald Murnanes zusammen. Es sind verwischte, nie ganz ortsfeste Bilder, die sich so verhalten wie die Atomteilchen nach der Unschärferelation Heisenbergs: Wo sie sich genau aufhalten, lässt sich nicht bestimmen, es gibt nur gewisse Wahrscheinlichkeitsräume, in denen es sinnvoll ist, sie zu erwarten. So ist auch das entstehende Porträt des Berichterstatters nicht das einer konsistenten Person mit klaren Linien, sondern das Abbild eines Bewusstseins, das sich selbst ein Rätsel bleibt.
Von großer Bedeutung sind darin die Spuren des Gelesenen, aber so, dass er sich meist weder an den Titel noch an den Autor erinnert, sondern nur an einen vagen Lesemoment und an eine Szene, die ihm aus welchen Gründen auch immer im Gedächtnis blieb. Aus solchen Momenten fügt sich das Gelesene zu einem eigenen, neuen Buch zusammen, als ob alle Lebenslektüren tatsächlich einem einzigen, großen Buch gefolgt wären. Auch Proust – als Erinnerungsgenauigkeitskünstler wohl der Antipode Murnanes – gehört dazu. Bei ihm erinnert sich der Berichterstatter an eine Stelle, die erklären sollte, warum das Band zwischen Leser und fiktionaler Figur enger ist als irgendein Band zwischen Menschen aus Fleisch und Blut. Nur leider kann er die Abschrift mit dem Zitat nicht mehr finden, so dass ihm auch im Falle Proust nur die ungefähre Erinnerung bleibt.
Der Berichterstatter liest vorwiegend Biografien. Neben George Gissing werden John Clare und Richard Jefferies genannt, Autoren mithin, die selber eher an den Randbezirken des Vergessens angesiedelt sind. Biografien aber sind das Genre, in dem die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wohl am deutlichsten spürbar, weil am problematischsten ist. Auch in diesem Grenzbezirk hält Murnane sich vorzugsweise auf. Sein Berichterstatter ist so unverkennbar mit autobiografischen Elementen ausgestattet, wie er eindeutig eine Romanfigur ist – falls man ihn überhaupt als Figur und nicht nur als eine Schreibfunktion bezeichnen möchte. Er lenkt die Aufmerksamkeit immerzu auf sein Schreiben. Formeln wie „Während ich den vorigen Satz schrieb, fragte ich mich …“ durchziehen den ganzen Text.
Damit wird nur scheinbar die Fiktion zerstört, indem der Schreib- und Denkvorgang des Autors in den Blick gerät. Tatsächlich entsteht dahinter die Fiktion eines schreibenden Autors, dem man beim Schreiben über die Schulter und in den gläsernen Kopf sehen kann.
Das Buch endet mit zwei Versen aus einem Gedicht von Shelley, die der Berichterstatter sein Leben lang kitschig fand, aber trotzdem immer im Gedächtnis behielt. Sie fassen die Sichtweise Murnanes in aller Kürze zusammen: Wie eine Kugel aus vielfarbenem Glas / färbt Leben das weiße Strahlen der Ewigkeit. Also erzählt er von diesem Strahlen am Horizont des Bewusstseins, das alles gelebte Leben enthält, es aber nicht direkt abbildet, sondern als transzendentalen Effekt. Das gelingt Murnane mit seiner kristallklaren Sprache, die Rainer G. Schmidt auch dieses Mal in ein makelloses Deutsch gebracht hat.
Gerald Murnane: Grenzbezirke. Roman. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2018, 232 Seiten, 18 Euro
Er übt das Schauen, ohne
hinzusehen, das
ungesteuerte Wahrnehmen
Dahinter steht die Fiktion eines
Autors, dem man beim
Schreiben über die Schulter schaut
Die „Grenzbezirke“, die dem Roman den Titel geben, sind erst einmal geografisch zu verstehen: Der 80-jährige Schriftsteller Gerald Murnane hat seine Heimat im australischen Randbezirk Victoria nie verlassen.
Foto: mauritius images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2019

Im Lichtspielhaus der Gedankenbilder

Warum werden manche Menschen am Schreibtisch plötzlich zu Exzentrikern? Der australische Autor Gerald Murnane befragt in "Grenzbezirke" sich selbst, die Vergangenheit und die ganze Welt.

Gerald Murnane, der am kommenden Montag achtzig Jahre alt wird, ist mit Sicherheit einer der sonderbarsten Schriftsteller unserer Zeit. Er lebt in großer Bescheidenheit in Goroke, einem winzigen Ort im Bundesstaat Victoria, nördlich von Melbourne, den er nach eigener Aussage fast nie verlassen hat - er findet die Vorstellung, dies zu tun, sogar abwegig. Er liebt Pferderennen und die ungarische Sprache, hat in den letzten Jahrzehnten nicht länger als dreißig Minuten ferngesehen und noch nie, wie er sagt, eine E-Mail verschickt. In Hängeregistraturen sammelt er nach einem ausgefeilten System alle seine Notizen, Briefe und Schriften und tippt seine Bücher, von denen bisher seit 1974 mehr als fünfzehn erschienen sind, auf einer alten Schreibmaschine in einer winzigen, sehr aufgeräumten Bürobaracke, die in krassem Gegensatz zu seinem "untidy mind", seinem unaufgeräumten Geist, steht, den er unverhohlen eingesteht. Wenn das Sonnenlicht im australischen Hinterland zu stark durch die Fenster strahlt, zieht er die Vorhänge zu, knipst eine Leselampe an und tippt mit zwei Fingern im, wie er sagt, perfekten Einklang mit dem Aufkommen seiner Gedanken.

All das wissen wir aus nicht sonderlich stilisiert wirkenden Filmbeiträgen, meist für das australische Fernsehen, in denen Murnane regelmäßig als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis vorgestellt wird. Wobei der Schriftsteller in einem dieser Beiträge ohne weitere Begründung sagt, dass er nach der Verleihung desselben "sicher" nicht mehr schreiben könne. Kurioserweise ist Murnane außerhalb Australiens vor allem in Schweden bekannt; in Deutschland sind bisher erst zwei seiner Bücher erschienen, beide im letzten Jahr. Erst der Band "Die Ebenen", im englischen Original 1982 herausgekommen, dann vor wenigen Monaten "Grenzbezirke", das in Australien 2017 erschien.

Muss man das alles wissen, wenn man "Grenzbezirke" aufschlägt? Jedenfalls ist man nach den ersten Seiten dieses "Berichts", der sich mit "scheinbar fiktionalen Stoffen" beschäftigt, wie der Autor schreibt, dankbar für jeden Strohhalm, der einem eine Richtung weist. Wie ernst nimmt dieser Autor selbst seine Gedanken und Beobachtungen, die er an einer frühen Stelle im Buch als "langweilig", "banal" und "kindisch" beschreibt, wie ironisch ist er?

Liest man sich in Murnanes Bücher ein, muss man sich von Beginn an nicht nur über den Autor, sondern auch über die Abschweifungsfähigkeit des menschlichen Geistes wundern. Und eigentlich am meisten darüber, dass dieser Geist sein Potential ausgerechnet an einem liebenswürdigen älteren Herrn beweist, der vor dem Mainstream in die australische Provinz geflüchtet ist, um die Schilderung von allerlei Alltäglichkeiten derart mit überzeitlicher Bedeutung aufzuladen, dass man als Leser das recht schmale Buch gedanklich erschöpft zwar ein Dutzend Mal weglegen muss, jedes Mal aber zufrieden zurückbleibt. Dabei gehen Murnanes Gedankengänge selten in einer direkten Erkenntnis oder Pointe auf.

Es stehen Sätze darin, die einen kurzzeitig verwirren, einem zugleich aber so vertraut und substantiell vorkommen, dass man sie im Grunde als den wahren Mainstream bezeichnen könnte: einen Gedankenstrom voller innerer Fragen und Antwortversuche, den zu hören sich die meisten Menschen abgewöhnt haben, der aber möglicherweise die Grundlage des Allgemein-Menschlichen darstellt. Man staunt bei der Lektüre der "Grenzbezirke" ebenso oft darüber, in welch abenteuerliche Abseitigkeiten sich Murnane zu verlieren traut, wie man sich fragt, warum so etwas nicht viel öfter gewagt wird und wie verarmt doch letztlich die Vorstellungswelt vieler Autoren (und auch die eigene) im Vergleich zu jener Murnanes ist.

Worum geht es in diesem Buch, dem eine lineare Handlung im klassischen Sinne fehlt? Zunächst einmal um nicht mehr und nicht weniger als einen in die Jahre gekommenen Mann, der in einem abgelegenen Grenzgebiet "Absätze" schreibt - vor allem über Erinnerungen, die von Gegenständen (Buntstiften, Murmeln, Pop-Songs) ausgelöst werden, wobei Murnane betont eigenständig Marcel Prousts "Recherche" fortführt. Es gibt aber auch Passagen über brisante und aktuelle Themen wie die Frage: Was geht im Glauben eines Priesters vor, der Kinder missbraucht?

Faszinierend naheliegende Fragen wie diese schüttelt Murnane nur so aus dem Ärmel: Warum ist es so schwierig, beim Meditieren den Geist zu leeren; warum bedauert man bei einer Schwarzweißfotografie so selten, dass sie keine Farbe hat; warum werden manche Menschen am Schreibtisch plötzlich zu Exzentrikern?

Murnane wird zu einem solchen vor allem durch die Regeln, die er sich in seinem Schreibexperiment auferlegt. So nimmt er sich vor, "sämtliche Bilderfolgen aufzuzeichnen, die mir in den Sinn kommen, nachdem ich meine Aufmerksamkeit auf die signalisierende oder zuzwinkernde Einzelheit gerichtet habe", nach der er vor allem an den "Rändern" seines "Gesichtsfeldes" Ausschau hält. Mit einer ähnlichen Aussage, allerdings weniger abstrakt, hatte er bereits den Roman "Die Ebenen" begonnen.

An einigen wenigen Stellen führt das Experiment zu leblosen Passagen, ansonsten aber sitzt man als Leser staunend vor einem Gedankenbild-Lichtspieltheater, das seinen Sog aus einer Art literarischen 3D-Technik mit räumlichen und zeitlichen Überlagerungen gewinnt, die wie in der folgenden Passage elegant durch ein taktiles Moment verbunden werden und den Übersetzer Rainer Schmidt vor größte Herausforderungen gestellt haben: "eine einzelne Murmel konnte an mehr erinnern, als ich suchte: an einen ganzen Nachmittag in meiner Kindheit oder an eine Baumreihe in einem Hinterhof, wo ich doch nur ein paar bestimmte Augenblicke zurückgewünscht hatte, in denen mein Geist von ein paar bestimmten Blättern gestreift wurde".

Am faszinierendsten aber sind Murnanes Gedanken über das Lesen und die Theorie der Wahrnehmung, welche die Hauptfigur anhand von farbigen Fensterbildern entwickelt. Dabei stellt Murnane das Lektüreerlebnis als eigene Welt hinter der literarischen vor. Mindestens ebenso wichtig wie das Gelesene sind für ihn all jene Wahrnehmungen, die die Lektüre begleitet haben: Ort, Zeit, Lebenssituation und natürlich Fragen. In welchen Räumen siedeln wir unsere Lektürevorstellungen an; wie genau stellt man sich beim Lesen eine Landschaft vor? Zentral für das gesamte Buch aber ist das Leitmotiv der bunten Glasfenster, in denen sich sowohl die Wirklichkeit als auch die fiktive Welt einfärben und die, wie der Ich-Erzähler betont, ihn zum Abfassen seines Berichts veranlasst haben.

Darum schreibt Gerald Murnane wohl Bücher, weil bei einem Buntglasfenster der äußere Betrachter nicht nachvollziehen kann, was der innere sieht. Und es wäre keine Verständigung zwischen beiden möglich, wenn Murnane nicht versuchte, aller Schwierigkeit zum Trotz, die eigene Wahrnehmung mit seinen Lesern zu teilen. Auf den Schlussseiten der "Grenzbezirke" bemüht er zu diesem Zweck sogar religiöse Bilder, zu denen er schon vor langer Zeit den Glauben verloren hat.

UWE EBBINGHAUS

Gerald Murnane: "Grenzbezirke".

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 231 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Dorothea Dieckmann legt sich für den australischen Autor Gerald Murnane ins Zeug, der in Australien erst spät, hierzulande nur ansatzweise entdeckt wurde. Murnane führt ein zurückgezogenes Leben, weiß Dieckmann, er reist kaum, fliegt nicht. Aber er hegt eine Obsession für Pferderennen, die auch in seinem neuen Buch "Grenzbezirke" eine große Rolle spielen. So viel kann Dieckmann immerhin über den Inhalt des Buches sagen, denn Murnane entwerfe eher eine "geistige Bildwelt", als dass er im konventionellen Sinne erzähle, erklärt die Rezensentin: Leitmotive, Bilder und Wahrnehmungen verbinden sich in Murnanes Literatur zu einem fiktionalen Universum, in dem Wirklichkeit und Möglichkeit zusammenfallen. Für die Rezensentin ist das nicht weniger als die "Neuerfindung des Erzählens".

© Perlentaucher Medien GmbH
» ... einer der merkwürdigsten Autoren, die ich je gelesen habe. Sich dem Merkwürdigen zu nähern, ist immer nicht so ganz einfach, aber wenn man es dann hat, dann denkt man: 'An welch magischer Kraftquelle sitzt man denn da?'« Ijoma Mangold SWR 20190523