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Vor mehr als 30 Jahren haben John Berger und Jean Mohr das tägliche Leben eines englischen Landarztes beobachtet, photographiert und aufgeschrieben. Entstanden ist dabei das einzigartige Zeugnis einer vergangenen Zeit und das Porträt eines bewundernswerten Mannes, der es verstand, in den Lebensgeschichten seiner Patienten zu lesen, ihre individuelle Situation zu verstehen. »Dieses Buch spricht wie kaum ein anderes von der ärztlichen Berufung, von Kreativität, von Kunst, vom auszuhaltenden Druck der Unzulänglichkeit. Vom Wesentlichen also.« Tages-Anzeiger »John Berger vertieft sich in den Arzt,…mehr

Produktbeschreibung
Vor mehr als 30 Jahren haben John Berger und Jean Mohr das tägliche Leben eines englischen Landarztes beobachtet, photographiert und aufgeschrieben. Entstanden ist dabei das einzigartige Zeugnis einer vergangenen Zeit und das Porträt eines bewundernswerten Mannes, der es verstand, in den Lebensgeschichten seiner Patienten zu lesen, ihre individuelle Situation zu verstehen. »Dieses Buch spricht wie kaum ein anderes von der ärztlichen Berufung, von Kreativität, von Kunst, vom auszuhaltenden Druck der Unzulänglichkeit. Vom Wesentlichen also.« Tages-Anzeiger »John Berger vertieft sich in den Arzt, seine Arbeit, seine Umstände, um einen Menschen zu verstehen, der Menschen versteht. Die Kunst seiner dichten Beschreibung besteht in einer Genauigkeit, die weder ableitet noch beweist.« Walter van Rossum
Autorenporträt
Berger, John
John Berger, 1926 in London geboren, studierte Zeichnung und Malerei. Seine bahnbrechende Fernsehserie 'Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt' definierte unsere Art, Kunst zu betrachten, neu; das Buch zur Serie wurde zum Standardwerk. In 'Der siebte Mensch' beschäftigte er sich als einer der ersten mit dem Thema Migration. Mit seinen Romanen, Geschichten und Essays, seiner politischen Insistenz und seinem zärtlichen Blick auf die Wirklichkeit wurde er zu einer der eigenständigsten Stimmen des 20. Jahrhunderts. John Berger starb Anfang 2017 in der Nähe von Paris.

Mohr, JeanJean Mohr, 1925 in Genf geboren, ist ein Schweizer Dokumentarfotograf und wichtiger Vertreter der Humanitären Fotografie. Seit 1949 fotografiert er für Organisationen der Welt wie die Unesco und das Internationale Rote Kreuz. Zusammen mit dem Erzähler und Essayisten John Berger veröffentlichte Jean Mohr drei Bücher, die 'Eine andere Art zu erzählen' erkunden. Alle drei gelten heute als Klassiker der Moderne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1998

Schöne Krankheit Leben
Aus John Bergers Praxis Von Burkhard Scherer

Zuerst stürzt ein Baum auf einen Holzfäller und klemmt dessen Bein ein. Der alarmierte Arzt bringt in seinem Landrover eine ausgediente Tür als Behelfstrage mit, versorgt den Verletzten und beruhigt dessen Kollegen, daß das Bein nicht amputiert werden müsse, obwohl es aussieht wie ein vom Auto überfahrener Hund. Darauf sinniert er über die Ursachen des schweren Asthmas einer schweigsamen Frau Ende Dreißig. Somatische Gründe waren bislang nicht zu entdecken, eine zufällige Information über ein gebrochenes erotisches Versprechen des Chefs der Patientin scheint ihm schließlich den Schlüssel zu ihrem Trauma zu liefern. Als eine alte Frau nach zwei kurz aufeinanderfolgenden Herzinfarkten stirbt, bleibt ihm als Trost für den Witwer nur die Bemerkung: "Es wäre schlimmer für sie gewesen, wenn sie überlebt hätte."

Das sind Patientenbegegnungen aus drei Kategorien: Unfallmedizin, Psychosomatik und Sterbebegleitung. Der Arzt ist immer der gleiche, Dr. John Sassall, Landarzt in einem Dorf in Gloucestershire. Er ist noch auf anderen Gebieten tätig: als Chirurg und Geburtshelfer, als Anreger und Organisator kommunaler Verbesserungen sowie als das "objektive Gedächtnis" der Region und ihrer Einwohner.

John Berger war als Patient auf Sassall - oder Eskell, wie er im wirklichen Leben hieß - gestoßen, und beide waren voneinander angetan. Systematisch beobachtete Berger auf der Grundlage dieser Freundschaft den Arzt und seine Umgebung, gemeinsam mit dem Schweizer Fotografen Jean Mohr, dessen Bilder fast die Hälfte des Buches einnehmen. Sie sind mehr als Illustrationen, oft gehen sie über das hinaus, was John Berger mitteilt.

Bergers Essay fragt, wie Krankheit zu verstehen sei, ob als Störung der körperlichen Mechanik, die durch medizinische Benennung und Therapie zu beheben ist, oder als Ausdruck eines derangierten Lebens? Berger tendiert ebenso wie Sassall - dieser erst nach einer Krise und Neubesinnung, als er Mitte Dreißig war - zur zweiten Antwort und gelangt damit zu Konsequenzen, die Sassalls Praxis überschreiten.

Einfühlend versucht Berger, die Depressionen des rastlos arbeitenden Arztes aus dessen Mitgefühl für seine Patienten zu erklären. "Welche Wirkung hat es, fünf- bis sechsmal die Woche mit schwerstem Leid anderer Menschen konfrontiert zu sein?" - das ist eine der Fragen des Buches, auf die Berger keine explizite Antwort gibt. Aber er schaut hin, befragt die Realität gründlich und klug und bleibt nicht bei dem stehen, was auch für Sassall ein Haßbegriff ist: der "gesunde Menschenverstand", der alle Fälle der Welt vorhandenen Deutungsmustern unterwirft.

Die englische Originalausgabe des Buches erschien im Jahre 1967 unter dem Titel "A Fortunate Man. The Story of a Country Doctor", der mit dem Text korrespondiert, denn Berger schrieb: "Nach dem unzulänglichen Maßstab unserer Gesellschaft ist Sassall glücklich." Er meinte damit, daß der Sohn aus einer städtischen Mittelstandsfamilie, der, beeinflußt durch das Werk Joseph Conrads, Kapitän werden wollte und schließlich Mediziner wurde, seinen universalistischen Lebensanspruch tatsächlich in die Praxis umzusetzen vermochte. Und das in einer Gegend, die nach landläufiger Meinung in den angrenzenden Bezirken von "Waldmenschen" bevölkert war, einer Spezies, die aus Mangel an Möglichkeiten ihre Lebensziele niedrig hängt.

Im deutschen Titel fehlt nun der erste Teil. Nach der Erstveröffentlichung wurde Dr. Sassall/Eskell berühmt und das Buch nicht nur unter britischen Medizinstudenten zu einem wichtigen Text, ein Schicksal, das man sich auch für die deutsche Ausgabe wünschen möchte. Aber bald schon kamen auch Menschen von weit außerhalb seines Einzugsbereiches, um sich von ihm behandeln zu lassen. Der Arzt soll mit Irritation reagiert haben. Vor fünfzehn Jahren hat sich Dr. Eskell, damals verwitwet und kurz vor einer Wiederverheiratung, erschossen.

"Wenn er nicht mehr am Leben wäre, hätte ich einen anderen Essay geschrieben", hieß es bei John Berger 1967. Er hat keinen neuen Essay geschrieben, aber eine Nachbemerkung, in der zu lesen ist: "Ich schaue von dem gewaltsamen Tod aus, und durch ihn hindurch, mit zunehmender Zärtlichkeit auf das, was er unternahm und anderen anbot, solange er durchhielt." Dieses Sentiment wird man als Leser dieser Hommage an einen Landarzt, der nicht aus der Fernsehserie kommt, teilen, und man fühlt sich, außer zur Bewunderung für einen Mediziner, dem man nie begegnet ist, freundlich aufgefordert zur Reflexion über existentielle Fragen. Das ist selten, Ärzte wie Dr. Eskell sind es auch.

John Berger: "Geschichte eines Landarztes". Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Uter. Mit Fotografien von Jean Mohr und einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 172 S., Abb., geb., 34,- DM.

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