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Es war vermutlich Aristoteles, der als Erster einen dem Menschen eigentümlichen Sinn entdeckte: den Sinn wahrzunehmen, dass man wahrnimmt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch nun dessen Archäologie: In 25 Kapiteln zeichnet er die verschlungen Wege dieses besonderen Sinns bei Denkern vom antiken Griechenland bis zum 20. Jahrhundert und in Disziplinen von der Philosophie über Psychologie und Literatur bis zu medizinischen Abhandlungen nach. »Der innere Sinn« ist eine originelle, elegante und weitreichende philosophische Untersuchung der Frage, was es bedeutet, dass man sich lebendig…mehr

Produktbeschreibung
Es war vermutlich Aristoteles, der als Erster einen dem Menschen eigentümlichen Sinn entdeckte: den Sinn wahrzunehmen, dass man wahrnimmt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch nun dessen Archäologie: In 25 Kapiteln zeichnet er die verschlungen Wege dieses besonderen Sinns bei Denkern vom antiken Griechenland bis zum 20. Jahrhundert und in Disziplinen von der Philosophie über Psychologie und Literatur bis zu medizinischen Abhandlungen nach. »Der innere Sinn« ist eine originelle, elegante und weitreichende philosophische Untersuchung der Frage, was es bedeutet, dass man sich lebendig fühlt.

»Daniel Heller-Roazens Archäologie eines Gefühls wirft ein völlig neues Licht auf eine Reihe von wesentlichen Momenten in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften. Doch noch wesentlicher für diese außergewöhnliche Arbeit ist, dass sie ein faszinierendes Forschungsfeld entdeckt, das von allergrößte Bedeutung für das zeitgenössische Denken ist: des Gefühls, durchdas wir - vor oder jenseits des Bewusstseins - fühlen, dass wir existieren.«
Giorgio Agamben
Autorenporträt
Heller-Roazen, DanielDaniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer - Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Den Autor bezeichnet Markus Wild als klugen Stilisten und belesenen philosophischen Kopf. Gute Voraussetzungen, um dem inneren Sinn, dem Gefühl des Daseins nachzuspüren, findet Wild. Daniel Heller-Roazen macht das, den Leser fordernd, ausgehend von Aristoteles und in Form eines Streifzugs durch die Ideengeschichte, durch Stoa, Tausendundeine Nacht, Leibniz, Rousseau. So weit, so gut, meint der Rezensent. Was ihm am Ende jedoch fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem Bewusstseinsbegriff, diese Chance, erklärt Wild, lasse sich der Autor entgehen und damit die Möglichkeit, dem Leser ein wirklich weites Feld zu eröffnen, eines, das über anticartesianische Muster hinausgeht. In seinen Grenzen hält Wild das Buch aber dennoch für anregend und angenehm an unseren Daseinssinn rührend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012

Zart ist das Fleisch und sehr gebrechlich der Gedanke

Zuletzt bloß ein Schnörkel: Daniel Heller-Roazen arrangiert die philosophische Tradition, um uns zwischen Denken und Empfinden nicht länger wählen zu lassen.

Von Jürgen Kaube

Daniel Heller-Roazen versucht ein Problem zu lösen. Für einen Literaturwissenschaftler ist das ein erfreuliches Motiv, sich mit überlieferten Texten zu befassen, nämlich nicht einfach nur weil sie da sind oder weil er sie für bedeutend hält. Wodurch, so lautet sein Problem, wissen wir, dass wir empfinden? Für einen Literaturwissenschaftler ist das eine sehr ungewöhnliche Frage. Philosophen haben sie behandelt, Entwicklungspsychologen, auch Neurophysiologen.

Doch über welche Mittel sollte die Philologie oder die Hermeneutik gebieten, um herauszufinden, worin die Einheit der Sinneswahrnehmung besteht oder ob es unterhalb des Bewusstseins ein Vermögen gibt, seiner selbst gewahr zu werden? Heller-Roazen schlägt selbst die naheliegende Antwort aus, dass Literatur die Empfindung anspricht, Emotionen auslöst, Lesen ein Akt der Wahrnehmung ist. Für ihn spielt nicht einmal Literatur, die Emotionen thematisiert, eine Rolle. Vier, fünf Hinweise auf E. T. A. Hoffmann, Kafka und Proust, das ist schon die ganze Rolle, die Dichtung in dieser Studie spielt.

Der Weg, den der Autor einschlägt, führt vielmehr zu Aristoteles. Was ihn an der von diesem Philosophen ausgehenden Denktradition fasziniert, ist der Versuch, jene Einheit der Empfindung, jenes Seiner-selbst-gewahr-Sein ohne einen Begriff von Bewusstsein zu formulieren, die Vertrautheit mit sich also nicht als Erkenntnis zu verstehen. Stattdessen leitet der Begriff der "aisthesis" die Untersuchung. Es gibt, sagt Aristoteles, fünf Sinne, mehr nicht. Allerdings sei der Tastsinn ein besonderer, weil letztlich alles Wahrnehmen als ein Ertasten spezifischer Qualitäten durch Organe, gewissermaßen Fühler, beschrieben werden kann; aber nicht das Sehen beispielsweise als Schmecken. Außerdem folgt das Tasten für Aristoteles keiner klaren Unterscheidung wie hell/dunkel, laut/leise oder bitter/süß, sondern ist für mehrere empfänglich: warm/kalt, trocken/feucht, rauh/glatt.

Schon an dieser Stelle folgt Heller-Roazen dem Klassiker recht treuherzig. Denn das Auge unterscheidet wohl auch farbig/unfarbig oder rund/eckig, die Ohren hoch/tief oder lang/kurz. Oder genauer: In der Wahrnehmung kommen Kategorien zum Einsatz, die sich der Wahrnehmung allein nicht entnehmen lassen, sondern von Sprache abhängen, von einsozialisierten Vokabularen, vielleicht auch von universalgrammatischen Strukturen oder dem, was Kant "Kategorien" und "Verstandesbegriffe" genannt hätte. Endlos beispielsweise ist die Debatte über die Grundlagen der Farbwahrnehmung.

Heller-Roazen aber tritt gewissermaßen unbewaffneten Verstandes an die alten Texte heran und erörtert darum auch nicht, welche optischen, akustischen oder biologischen Vorstellungen die Antike und später auch das Mittelalter pflegten. Er unterstellt vielmehr, man habe damals im Großen und Ganzen dasselbe über Auge und Ohr und Haut gewusst wie heute. Ums Heute kümmert er sich dabei aber auch nicht weiter, obschon es ja naheläge, einfach bei Sinnesphysiologen nachzufragen, wie der Gesichtssinn unterscheidet. Was sagt Aristoteles mit Bezug aufs Auge, was sich bei den Forschern nicht findet? Die Antwort ist leider trivial: Man kann sich am "humanities departement" von Princeton legitimerweise mit Aristoteles, aber nicht mit Sehzäpfchen beschäftigen. Das ist aber ein bisschen so, als müsse jemand durch Platon- oder Rousseau-Lektüre herausfinden, ob die EU ein Demokratiedefizit hat.

Hinzu kommt eine zweite Merkwürdigkeit. Aristoteles fragt sich, wie "gemeinsame Sinnesqualitäten", also Bewegung, Gestalt, Größe und die Anzahl von etwas, wahrgenommen werden? Aber spricht er beispielsweise die Zahl nicht nur deshalb als "gemeinsame Sinnesqualität" an, zu der dann erstaunlicherweise das Zählorgan fehlt, weil er das mit Kategorien ("Zahl", "Menge") ausgestattete Denken nicht als ein solches Organ behandelt? Und auch sein Problem, mit welchem Vermögen etwas als zugleich hell und süß wahrgenommen wird, verlangt nicht, einen sechsten Sinn der "Zugleichwahrnehmung" aufzufinden. Heller-Roazen aber hält daran fest, den Verzicht auf Bewusstsein, Denken, Urteilen oder Wissen als Erklärungselemente für die Identität von Gegenständen gegenüber ihren Eigenschaften irgendwie interessant zu finden. Das führt zu Sätzen wie dem, es sei, "als sperrte sich die gemeinsame Kraft dagegen, mit einem einzigen Namen angesprochen zu werden". Das mag sein, aber wieso überhaupt vermuten, es handele sich bei jener Kraft um ein Empfindungsvermögen. Werden Zahlen empfunden?

Der Grund, aus dem Heller-Roazen am aristotelischen "Verzicht" auf eine kognitive Problemlösung interessiert ist, liegt in einem Misstrauen gegenüber der neuzeitlichen Philosophie. "Und wenn das Bewusstsein doch eine Unterart von Berührung und Kontakt wäre?", fragt er und schlägt vor, das "Cogito ergo sum" durch ein "Sentio ergo sum", "Ich empfinde, also bin ich", zu ersetzen. Man könne Existenz auch fühlen. Recht wohl, aber bei Descartes ging es nicht um irgendeine, sondern um gewisse Existenz. Soll man der Katze, ach was, dem Wechseltierchen Reflexion (senti-o) zumuten? Oder im Vokabular der spätantiken Kommentatoren: Ist die "synaisthesis", die dafür sorgt, dass wir nicht nur sehen, sondern auch wahrnehmen, dass wir sehen, nicht doch das "Ich, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können"?

Es besteht gar kein Zwang, hier einer der vielen erkenntnistheoretischen Positionen recht zu geben. Aber für den Leser ist es doch etwas misslich, dass der Autor auf diese bloße Vermutung, die Neuzeit irre und in der Bewusstseinstheorie seit Descartes und Kant sei irgendwie der Wurm drin, seine Darstellung aufbaut. Sie soll ausreichen, ihm zweihundert Seiten lang vertrauensvoll durch Texte zu folgen, in denen Aristoteles über schlafende Tiere nachdenkt, Priscian von Lydien eine Wahrnehmung vermutet, die noch aktiv ist, wenn gar nichts wahrgenommen wird, und Chrysipp sich über die Symbiose von Schalentieren äußert.

Gewiss, das Motiv der Selbsterhaltung, das die Stoa an solchen Lebewesen exemplifizierte, hängt mit Heller-Roazens Problem dadurch zusammen, dass man gern erführe, was für ein Selbst sich da erhält. Gewiss auch, dass es nicht das Selbst des Selbstbewusstseins sein kann, wenn auch Steckmuscheln sich zu erhalten suchen. Aber möchte der Literaturwissenschaftler das betreffende Geschehen bei den Muscheln wirklich ohne Evolutionstheorie und Genetik klären? Zwei von fünfundzwanzig Kapiteln des Buches behandeln Forschung, solche aus dem neunzehnten Jahrhundert zu Phantomschmerzen und psychiatrische über "Depersonalisation" aus der ersten Hälfte des zwanzigsten.

Hierin liegt aber immerhin eine Antwort auf die Frage nach der Zuständigkeit des Hermeneuten: Er wendet sich der Philosophie als einer Art Literatur zu, der gegenüber es gleichgültig ist, dass es zu ihren Motiven auch Forschung gibt. Auf diese Weise könnte man auch die Befruchtungslehre des Thomas von Aquin oder die Staatstheorie Hegels als anregende Erzählung über denkbare Welten lesen. Die Frage, ob es stimmt, muss dabei selbstverständlich eingeklammert werden. Kollegen Heller-Roazens praktizieren das ganz ähnlich, sein Lehrer Giorgio Agamben etwa entwickelt Bürokratietheorien aus scholastischen Texten über Engel, Judith Butler hat herausgefunden, dass das Geschlecht nichts als ein "Diskurs" ist, und zwar ein verordneter, wieder andere Literaturwissenschaftler denken sich die Wirtschaft anhand von Metaphern aus, die Wirtschaftswissenschaftler benutzen.

Das alles ist nicht ohne Ertrag. Auch die Forschung enthält Unschärfen, Undurchdachtes, Metaphern und Paradoxien. Mitunter, man denke an die Volkswirtschaftslehre, macht sie sogar einen ziemlich schlichten Eindruck. Und selbstverständlich enthalten umgekehrt die philosophische wie literarische Tradition Einsichten und Einreden gegen allzu glatte Deduktionen aus den Welten disziplinärer Erkenntnis. Dass "die Seele immer denkt", wie Leibniz formulierte, um auch für den Schlaf "kleinste" Wahrnehmungen zu postulieren - doch weshalb sagte er dann "denkt"? -, ist eine ebenso poetische Vorstellung, wie Leibnizens Argumente gegen Descartes einleuchten. Das berühmteste Diktum von Leibniz, es sei nichts im Verstand, was zuvor nicht in den Sinnen gewesen wäre, außer dem Verstand selbst, muss Heller-Roazen aber weglassen, denn es macht Leibniz von seinem Kronzeugen zu einem der Gegenpartei.

Doch wie immer es um solche Zeugen bestellt sein mag: Ob Schlaf ein Beispiel für eingeschränkte Wahrnehmung oder für eingeschränktes Bewusstsein ist, was Phantomschmerzen sind und was Synästhesien, dem allem kommt man keinen Schritt näher, wenn poetische Rätselhaftigkeit nicht mehr als Leerstelle der Forschung, sondern als befriedigendes Ergebnis behandelt wird. Denn was liefert nach vierhundert Seiten die Suche nach der Einheit der Wahrnehmung? "Unser Sein ist das gemeinsame Element, zu dem sowohl Perzeption wie Intellektion letztlich führen. Element, doch nicht Objekt: denn weder das Vermögen der Wahrnehmung noch das Denken können die Tatsache, ,dass wir sind' (nos esse), als ein Ding unter anderen erfassen. Diese Tatsache ist unberührbar, obgleich kein ,Transzendentes', sie wird im Bereich von ,Wahrnehmung oder Denken', das sie ermöglicht, fortwährend berührt."

Man muss kein Reduktionist mit der Seelenenge einer Steckmuschel sein, um das - unser Sein ein unberührbares Element, das fortwährend berührt wird - einfach für wolkig, um nicht zu sagen: philosophischen Kitsch zu halten. Wenn Heller-Roazen mit den Worten schließt, nur jenes Unberührbare, also unser Sein, könne mit Lust berührt werden und solche Freude sei nur "Wesen von zartem Fleisch vorbehalten", dann mag das auf internationalen Konferenzen als Einladung zum Seitensprung funktionieren. Die Passion der Literaturwissenschaft für die Philosophie aber wird hier nicht erwidert. Vielleicht ist ihr Gelingen Wesen mit kognitiven Absichten vorbehalten.

Daniel Heller-Roazen: "Der innere Sinn".

Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 512 S., geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Ökumene der Lebewesen
Mensch, Tier, Bewusstsein – ein wegweisendes Buch: Daniel Heller-Roazen rehabilitiert den inneren Sinn
Zu den höchsten Hürden der vielerorts betriebenen Annäherung von Geistes- und Naturwissenschaften gehören unterschiedliche Sprachkulturen und deren oft unklare Voraussetzungen. Fragt ein Geisteswissenschaftler alter Schule nach „Leben“ und „Natur“, erwartet er etwas anderes als jene technischen Auskünfte, wie sie die Sciences anzubieten haben. Dahinterzukommen, wie etwas funktioniert und wie man es künstlich erzeugen oder nach Belieben verändern kann, ist offenkundig etwas anderes als begreifen zu wollen, was etwas ist, wie es dazu geworden ist und was es für die Menschen, die damit umgehen, bedeutet.
  Inzwischen haben sich unterschiedliche Strategien herausgebildet, mit diesen Unterschieden umzugehen. Man kann sie bagatellisieren und sogar verleugnen, wie es derzeit häufig geschieht. Ebenfalls populär ist ein entschlossenes Laissez-faire, das die Entscheidung über den Standard der Wissenschaftlichkeit dem Spiel der Kräfte anvertraut und faktisch diejenigen begünstigt, die über die entsprechenden Mittel verfügen. Einen schweren Stand hat demgegenüber der dritte, der Idee der Universitas einzig angemessene Weg: Die Kohabitation der Fächer auf der Basis einer Logik des Wissens, die den vielfältigen Formen theoretischer Erkenntnis gerecht wird und ihnen ihre Autonomie belässt.
  Welche Tiefen eine solche Logik des Wissens auszuloten hätte, zeigt jetzt der in Princeton lehrende Philosoph Daniel Heller-Roazen. Seine Studie über den inneren Sinn bietet zum einen eine hochgelehrte Bedeutungsgeschichte. Zum anderen aber relativiert sie das Schisma der Wissenschaften, indem sie am gegebenen Beispiel vor Augen stellt, wie es überhaupt entstehen konnte. Der jüngst mit der Medaille des Collège de France geehrte Ideenhistoriker legt die Genese eines ganzen Vorstellungszusammenhangs frei, der im Laufe der Geschichte den Status einer Selbstverständlichkeit erlangte und sich schließlich der Befragung entzog. Es handelt sich um die Überzeugung, dass Mensch und Tier durch eine Kluft namens „Bewusstsein“ getrennt seien und dass auch die Ordnung der Wissenschaften sich an dieser vermeintlichen Grundtatsache zu orientieren habe.
  Auf der Suche nach den Entstehungsbedingungen der Konvention geht Heller-Roazen zurück bis zu Aristoteles und den zahlreichen Aristoteles-Kommentaren des Mittelalters, die schließlich dem Weltbild der Neuzeit den Weg bahnten. Für die Frage der Herkunft ist die Begriffssprache dieser Texte besonders aufschlussreich. So spricht Aristoteles, um das Weltverhältnis von Mensch und Tier zu bestimmen, nirgends vom Bewusstsein, auch nicht vom „Bewusstsein der Wahrnehmung“, sondern von der „Wahrnehmung der Wahrnehmung“. Wichtig war ihm der Gedanke, dass zu der reinen Wahrnehmung etwas hinzutreten müsse, das den Vollzug der Wahrnehmung als solchen bestätigt, und das ist, wie Aristoteles in seiner Schrift über die Seele schreibt, der „gemeinsame Sinn“. Dieser Sinn ist Menschen und Tieren gemeinsam: Alles, was Wahrnehmung hat, bestätigt der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias noch im dritten Jahrhundert, hat „auch eine Mitwahrnehmung seines eigenen Wahrnehmens“.
  Aus aristotelischer Sicht ist der innere Sinn so etwas wie das Kennzeichen der Lebendigkeit. Die christlichen Kommentatoren geben diese ursprünglich flache Hierarchie der Lebewesen auf und setzen dem die noch heute geläufige Normierung entgegen. Die aristotelische Unterscheidung zum Gegensatz verschärfend, erheben sie insbesondere das animal rationale zur exklusiven Größe, während sie zugleich den Gemeinsinn marginalisieren. Zwar spricht auch und gerade Augustinus vom „inneren Sinn“, unterscheidet ihn aber scharf von der Vernunft, die den Menschen aus der Gemeinschaft des Lebendigen heraushebe und ihn berechtige, über die anderen Lebewesen zu herrschen.
  Im weiteren Verlauf lösen sich diese beiden Entwicklungslinien immer deutlicher voneinander ab: Auf der einen Seite befruchtet der innere Sinn das „Empfinden der Existenz“, für das Heller-Roazen bei Montaigne, Rousseau und Maine de Biran Belege findet, auf der anderen führt er zum „Bewusstsein“, um sich schließlich im Bedeutungshof dieses Königsbegriffs der Neuzeit fast spurlos zu verlieren. Umfing die aristotelische Wahrnehmung der Wahrnehmung noch die Ökumene der Lebewesen, so besiegelt Descartes den von den christlichen Autoren initiierten Prozess der Ablösung, indem er die Wahrnehmungstätigkeit überhaupt nur noch vom Denken her denkt. Dazu passt das Bild einer abgespaltenen, einer nichtmenschlichen Natur, der eben dieser Bezug zum Bewusstsein abgeht.
  Natur, das ist jetzt nur noch eine Ansammlung freilaufender Automaten und, wie Descartes schreibt, „Tiermaschinen“. Heller-Roazen bringt in Erinnerung, was bei diesem Marsch in die Bewusstseinsphilosophien der Neuzeit auf der Strecke blieb. Um von Anfang an die Distanz zu wahren, setzt seine Geschichte mit der Lobrede auf das süße „Gefühl des Daseins“ ein, die E. T. A. Hoffmann seinem Kater Murr ins Schnäuzchen gelegt hat. Das ist mehr als eine augenzwinkernde Reminiszenz. Mit sanfter Stimme macht sich der weise Kater über die verbreitete Praxis lustig, vorneuzeitliche Formen des Wissens in das Schema mitgebrachter Kategorien zu zwängen. Derlei Cartesianisierungen, Kantianisierungen und Hegelianisierungen der Vorgeschichte sind nicht bloß anachronistisch. Sie verstellen uns auch die Möglichkeit, uns auf dem Umweg über die Geschichte eines Besseren belehren und über die eigenen Befangenheiten aufklären zu lassen.
  Mit beispielhafter Geduld und Umsicht praktiziert Heller-Roazen nun genau dies: Aufklärung über die Entstehung unserer tiefsten und fraglosesten Überzeugungen. Und wenn er auch nicht viel Aufhebens davon macht, so ist doch klar, dass diese Grabungen in den Tiefenschichten unserer geistigen Verfassung die duale Ordnung des Wissens und der Wissenschaften, an die wir uns gewöhnt haben, nachhaltiger verändern müssen als jede kurzfristige, von tagespolitischen Interessen geleitete Reform. Heller-Roazens Archäologie des inneren Sinns stößt das Tor zu einer zeitgemäßen Logik der Wissenschaften auf und steckt zugleich das Pensum ab, das auf diesem Weg zu bewältigen wäre. Ein solches Projekt wäre nicht länger ein Machtspiel. Es würde verlangen, dass beide Seiten, Geistes- und Naturwissenschaften, über ihren Schatten springen und sich gemeinsam der Möglichkeit gemeinsamer Grundlagen vergewissern.
RALF KONERSMANN
Arbeitet an der Überwindung der Natur/Geist-Trennung: Daniel Heller-Roazen lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft in Princeton.
FOTO: BETTINA STRAUSS PRESSEFOTO
    
    
          
Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls. Aus dem Englischen von Horst
Brühmann. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 2012. 512 Seiten, 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heller-Roazen besitzt eine Gelehrsamkeit, welche es mit den Heroen der Geisteswissenschaft, mit [...] Bloch und Michel Foucault, aufnehmen kann und diese manchmal sogar, fast leichtfüßig, überbietet. Hans Ulrich Gumbrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung