Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Athen und Sparta im Kampf um Hegemonie / Von Uwe Walter
In der Spätzeit des Ost-West-Gegensatzes wurde das Nordatlantische Bündnis bisweilen mit dem Attischen Seebund verglichen; dies bezog sich auf die geopolitische Lage beider Bündnisse: eine demokratisch und freiheitlich verfaßte Vormacht und mehrere kleinere Staaten diesseits und jenseits des Meeres, verbündet gegen eine bedrohliche und tyrannische Landmacht im Osten. Sehr weit trugen die Analogien nie, denn die Vormacht Athen behandelte ihre Verbündeten ihrerseits als Vasallen; vollends ausgeblendet werden mußte der Peloponnesische Krieg von 431 bis 404 vor Christus, in dessen Verlauf Athens Griff nach der Weltmacht scheiterte und an dessen Ende der Zusammenbruch der Stadt stand.
Doch auch für die neue, eher in ihren Aporien als ihrem Grundriß erkennbare Weltordnung unserer Tage findet sich in der griechischen Geschichte der sogenannten klassischen Zeit unter der Fülle der Ereignisse ein Text, der lesbar gemacht zu werden verdient, auch wenn er keine frohe Kunde bringt. Zu Beginn seiner Kriegs- und Politikgeschichte der griechischen Ägäisanrainer im vierten Jahrhundert kontrastiert der amerikanische Althistoriker John Buckler die Hoffnungen vieler Zeitgenossen in der Stunde von Athens Niederlage mit einem Ausblick auf die Zukunft dieses Moments. Viele Griechen erwarteten, das Ende des Krieges und damit auch der Bipolarität zwischen Athen und Sparta würde nun die ersehnte Freiheit bringen. Aber tatsächlich bewirkte der Sieg Spartas nicht einmal einen dauerhaften Frieden, und der neue Hegemon mußte erkennen, daß es schwieriger war, eine Nachkriegsordnung zu gestalten, als den Gegner niederzuringen. Für die Rolle als einzige griechische Großmacht mangelte es den Spartanern nicht nur an Ressourcen, sondern auch an Know-how und Phantasie. Sie kannten die Welt, die sie beherrschen wollten, zu wenig, ihre eigenen Institutionen waren kaum exportierbar, und es fehlte an einer Elite, mit der sich ein Reich regieren ließ. Hinzu kamen Probleme mit den eigenen Verbündeten und im inneren Gefüge des besiegten Feindes. Bucklers lakonische Analyse eröffnet, bewußt oder ungewollt, die Tür zu mehr als einer Geschichte.
Der Einschnitt des Jahres 404 war tief, aber zugleich führten viele Kontinuitätslinien über diese Urkatastrophe der griechischen Geschichte hinweg. Raimund Schulz macht beide Einsichten zur Leitlinie seiner auf Athen und Sparta fokussierten Darstellung der griechischen Staatengeschichte zwischen 480 und 350 vor Christus. Das Buch orientiert sich an den Vorgaben der Lehrbuchreihe "Geschichte kompakt", es ist jedoch eine differenzierte und originelle Interpretation, die auch durch die Verknüpfung der inneren Strukturen und Entwicklungen beider Poleis mit deren Handeln nach außen überzeugt. Es war, um nur eine einleuchtend herausgearbeitete Linie zu nennen, das Bemühen beider Mächte, ihr jeweiliges Bündnissystem gegen partikulare und zentrifugale Bewegungen zu festigen und die eigene Hemisphäre zu sichern. Dies erzeugte eine Machtdynamik und rief immer wieder unabsehbare Folgeentwicklungen hervor. So machten die Athener im fünften Jahrhundert die Ägäis zum mare clausum, und so wurde die angebliche Gerontokratie Sparta von den verbündeten Seemächten Korinth und Megara und gegen den Willen der meisten Älteren in den großen Krieg hineingetrieben. In der Redeweise klassischer Staatengeschichte läßt Schulz "die Athener" und "die Spartaner" agieren, macht aber zugleich die Strukturen und Politikstile beider Poleis transparent. Er betont mit Recht, daß beide vielfach strukturell ähnliche Antworten auf die außenpolitischen Anforderungen fanden. Besonders gelungen ist die Erörterung der Ursachen des Peloponnesischen Krieges.
John Bucklers Buch ist trotz seines Umfangs keine Gesamtdarstellung im heute üblichen Sinn des Wortes. Der Autor verzichtet weitgehend auf struktur- und mentalitätsgeschichtliche Unterfütterungen ebenso wie auf einen kulturgeschichtlichen Überbau. Selbst Ranke würde bei der Lektüre frösteln. Denn in dieser Erzählung wohnt kein tröstender immanenter Sinn, und die griechische Welt ist 336 vor Christus weder qualitativ anders noch gar sittlich besser als im Jahre 404. Doch die Darstellung der nackten Kriegs- und Diplomatiegeschichte, die erste Behandlung dieses Umfangs aus der Feder eines einzelnen Autors seit Karl Julius Beloch (1922), erscheint ihrem Gegenstand gerade deshalb vollkommen angemessen. Detailfragen der Chronologie von Kriegen und der Topographie von Schlachten beschäftigen angelsächsische Historiker traditionell sehr stark. In beeindruckender Weise backt Buckler diese Grundzutaten zu einem sehr dunklen, harten Vollkornbrot zusammen, das dafür mit hohem Nährwert belohnt.
In einem kurzen Epilog liefert der Autor zudem die Instrumente für ein generelleres Verständnis. Drei Ziele prägten das Handeln der Akteure, nämlich Hegemonie, Autonomie nach außen und Frieden; da sie unvereinbar waren, sei, so der lapidare Kommentar, keines von ihnen erreicht worden. Jeweils zwei der Ziele konnten zusammengespannt werden, aber das dritte auf die verbindende Linie zu zwingen, war unmöglich. Mit den drei möglichen Gegensatzkonstellationen und ihrer unteleologischen Dynamik lassen sich die Phänomene auf der Ereignisoberfläche ordnen und erklären. Hegemonie und Autonomie konnten von großen und kleinen Staaten parallel verfolgt werden und wurden es auch, aber in ihrer polaren Opposition nur um den Preis des dauernden Unfriedens. Frieden und Hegemonie wären bei einer genügend starken und stabilen Dominierungsmacht vereinbar gewesen, aber ebendie gab es nach 404 nicht mehr, während die Idee der Autonomie stark blieb und durch den Aufstieg der Mittelmächte noch stärker wurde. Der reflexhafte Primat der Selbstbestimmung nach innen und außen destabilisierte sogar die aufstrebenden Bundesstaaten, deren föderative Konstruktion theoretisch einen Ansatz zur dauerhaften Konsolidierung und Befriedung der zwischenstaatlichen Beziehungen geboten hätte. Die Epoche wurde bestimmt durch immer neue militärische Konflikte und Anläufe zur Hegemonie, bis mit dem Aufstieg Makedoniens und der durch die Schlacht von Chaironeia (338) besiegelten Unterwerfung der Griechen eine dauerhaftere Konstellation Gestalt annahm. Autonomie und Frieden zu vereinigen war schließlich die Grundidee der sogenannten Allgemeinen Friedensschlüsse, aber die Bestrebungen und die Existenz hegemonialer Mächte waren damit nicht aus der Welt, und es war gerade die Forderung nach unbedingter Wahrung der Autonomie, was den "Garantiemächten" dieser Friedensinstitute, vor allem Sparta, immer wieder einen Vorwand zur militärischen Intervention gab.
Eine besondere Mischung aus Kontinuität und Neuerungen erwies sich für die griechische Staatenwelt des vierten Jahrhunderts als verhängnisvoll. Ungebrochen galten die alten Prioritäten: Macht, Prestige, Rache, materieller Gewinn. Ebenso die Bündnisinstrumentarien und die Überzeugung, daß die beste Form von Freiheit in Herrschaft über andere bestehe. Hinzu kamen alte oder neue Akteure an der Peripherie, allen voran die Perser. Der Zerstörungsapparat in dieser multipolaren Welt wurde professioneller, teurer und unübersichtlicher: Kriegsunternehmer suchten ihre Chancen, mit staatlicher Deckung, in fremden Diensten oder auf eigene Faust. Nachdem 362 vor Christus die beiden Hegemonialmächte Sparta und Theben bei Mantineia eine letzte große Schlacht gegeneinander geschlagen hatten, sagte der Geschichtsschreiber Xenophon resigniert, daß es keine klare Entscheidung gegeben habe; Verwirrung und Ratlosigkeit waren größer als zuvor. Das von Schulz betonte Nebeneinander von politischem Scheitern und technisch-kultureller Leistungsdynamik der Griechen im Jahrhundert von Demosthenes und Platon bleibt ein reizvolles Paradox.
Raimund Schulz: "Athen und Sparta". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003. 180 S., br., 14,90 [Euro].
John Buckler: "Aegean Greece in the Forth Century BC". Brill Academic Publishers, Leiden, London, Boston 2003. 544 S., geb., 160,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH