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Gedenktag für die Opfer des Holocausts, Gedenken an die Bombardierung Dresdens, Gedenktag der Kriminalitätsopfer, Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, Tag der Wohnungslosen, Volkstrauertag: Die Liste der Opfergruppen und der öffentlich begangenen Gedenkstunden wird immer länger, und auch "Täter" wollen nun "Opfer" sein, wie im Historikerstreit zum ersten Mal deutlich wurde. Doch wie konnte es dazu kommen, dass solche grotesken Phänomene wie Opferstolz, Opferkonkurrenz und gar Opferneid um sich greifen? Fernab aller Schlussstrichdebatten erörtert Daniele Giglioli, wie sich die…mehr

Produktbeschreibung
Gedenktag für die Opfer des Holocausts, Gedenken an die Bombardierung Dresdens, Gedenktag der Kriminalitätsopfer, Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, Tag der Wohnungslosen, Volkstrauertag: Die Liste der Opfergruppen und der öffentlich begangenen Gedenkstunden wird immer länger, und auch "Täter" wollen nun "Opfer" sein, wie im Historikerstreit zum ersten Mal deutlich wurde. Doch wie konnte es dazu kommen, dass solche grotesken Phänomene wie Opferstolz, Opferkonkurrenz und gar Opferneid um sich greifen? Fernab aller Schlussstrichdebatten erörtert Daniele Giglioli, wie sich die Opferrolle in der gesellschaftlichen Diskussion zu einer politischen Trumpfkarte und entscheidenden Ressource gewandelt hat, mit der Identitätskollektive um Anerkennung und Reparationen kämpfen. Giglioli zeigt auf, welche fatale Dynamik eine Gesellschaft erfasst, die sich bald vollständig in Schuldige und Unschuldige teilt und in der das vergangene Leid erinnert werden muss. Ein ebenso überfälliger wie provokanter Debattenanstoß von bohrender Exaktheit, eine scharfsinnige Kritik der Opferfalle, die nicht zuletzt den Opfern selbst schadet.
Autorenporträt
Daniele Giglioli ist Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bergamo und schreibt für die Zeitung Corriere della Sera.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli beschreibt in "Die Opferfalle" auf den Schultern der Poststrukturalisten den Diskurs des Opfers in der Gegenwart, erklärt Henryk M. Broder. Das Opfer zu sein ist keine rein nachteilige Rolle, weil es im gleichen Zuge von der eigenen Schuld zu befreien scheint, was für den Rezensenten am Beispiel der kollektiven Selbstabsolution der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als Opfer der Diktatur leicht anschaulich wird. Leider führt Giglioli seine eigene Dekonstruktion des Opfer-Begriffs so weit, dass er Täter und Opfer letztendlich nicht mehr auseinander halten kann - selbst wo echte Unterschiede existieren und bedeutsam sind, bedauert Broder.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2016

Beschworene Wunden
Daniele Gigliolis Essay über die "Opferfalle"

Wer sich als Opfer darstellt, entzieht sich teilweise der Kritik seines Handelns. Sein Selbstverständnis wird bestimmt von dem, was ihm angetan worden ist. Er beruft sich nicht auf Autonomie, die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, sondern auf Authentizität. Je schwerer es fällt, in politischen und sozialen Konflikten zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden, desto größer ist die Versuchung, als Opfer aufzutreten oder sich auf deren Seite zu schlagen.

Das notwendige Gedenken vergangenen Unrechts wird, so die These des Literaturwissenschaftlers Daniele Giglioli in seinem Essay "Die Opferfalle", oftmals zum Ritual, das den Blick in die Zukunft versperrt. An die Stelle vernünftiger Diskurse trete dann die Konkurrenz wirklicher oder auch vermeintlicher Opfer. Giglioli geht es nicht um eine anthropologische oder psychologische Kritik einer ubiquitären Opferideologie, sondern darum, die historische Situation zu analysieren, in der sie sich endgültig durchzusetzen begann: die siebziger Jahre. Selbstverständlich kannten auch der Nationalismus des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts und die Arbeiterbewegung den Märtyrerkult, doch zum Paradigma politischer Diskussionen wurde die Opferrhetorik, scheinbar paradox, erst in dem Jahrzehnt, das erfüllt war von großen Versprechungen und Hoffnungen.

Giglioli beschreibt die siebziger Jahre als die Epoche, in der die protokapitalistische Ethik der Askese aufgrund der ökonomischen Entwicklung endgültig von der Propaganda möglichst schneller Wunscherfüllung verdrängt wurde. Das Versprechen schrankenlosen Glücks aber führe notwendig, wenn die Frustration nicht als Verzicht rationalisiert werden kann, zur Unfähigkeit, die Enttäuschung zu verarbeiten. Je deutlicher wird, dass das Gewünschte nicht zu erreichen ist, desto hartnäckiger wird die imaginierte Gerechtigkeit eingefordert. Da der Weg fundamentaler politischer Veränderungen aber versperrt zu sein scheint, trete links wie rechts an die Stelle aktiven Handelns die Beschwörung der eigenen unschuldigen Passivität.

Gigliolis Essay ist keine Denunziation derjenigen, die sich - wie berechtigt auch immer - unterdrückt oder verfolgt fühlen. Hinter dem Prestige, das Opfer beanspruchen und erlangen, erkennt er die falsche Antwort auf eine richtige Frage. Statt scheinbar alternativlose Systemzwänge zu akzeptieren, appelliert die Opferethik an die Verantwortung von Subjekten, auch wenn diese die eigene leugnen. Sie beharrt auf dem Recht jedes Einzelnen, jeder diskriminierten Gruppe, in ihrer spezifischen Erfahrung von Leid anerkannt zu werden. Hinter dem falschen Stolz verberge sich immer ein Rest des legitimen. Diese letzte dialektische Volte Gigliolis wird nicht jeden überzeugen, denn die assoziative, manchmal sprunghafte Argumentation lässt die Frage unbeantwortet, wer im konkreten Fall Anspruch auf Unterstützung, Solidarität oder zumindest Mitleid hat. Die Kritik imaginierter Hilflosigkeit kann die Analyse realer Gewaltverhältnisse nicht ersetzen. Dennoch, mit seinen pointierten Anmerkungen zu einem wichtigen Topos politischer Rhetorik ist es ein anregendes Buch.

GERD SCHRADER.

Daniele Giglioli: "Die Opferfalle". Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt.

Aus dem Italienischen von Max Henninger. Matthes & Seitz, Berlin 2016, 127 S., geb., 14,90 [Euro]

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2016

Ohnmachtskult
Pathos des Unanfechtbaren: Der
italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli
attackiert die Opferideologie
VON JENS BISKY
Du Opfer!“ – das mag auf den Schulhöfen weiterhin ein Schimpfwort sein, in der Öffentlichkeit ist der Opferstatus oft mit Vorzügen verbunden. Er sichert Aufmerksamkeit, schützt gegen Kritik, verleiht Unschuld. Wer sich auf die Seite der Opfer schlägt, steht auf der Seite der Guten und muss sich nicht länger mit den immer vertrackten Unterscheidungen zwischen gerecht und ungerecht plagen. Ja, Opfer können als die Helden unserer Zeit gelten, von ihr hervorgebracht, vergöttert und benötigt.
  Der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli sieht darin eine Zurücknahme von Modernität überhaupt, einen konterrevolutionären Widerruf. An die Stelle der aktivierenden Imperative, sich seines Verstandes zu bedienen, aufrecht zu gehen, mündig zu werden, trete das „gegenteilige Motto: Unmündigkeit, Passivität, Machtlosigkeit sind ein Gut; umso schlimmer für alle, die handeln“. Dass eine solche Vergötzung die Mächtigen stärkt, den Status quo stabilisiert, Veränderungen erschwert, Ressentiments begünstigt, Freiheit und Verantwortungslosigkeit kurzschließt, zeigt Daniele Giglioli in einem Essay, den jeder lesen muss, der die unaufhaltsame Zunahme von Opfern, Zurückgesetzten, Leidenden inmitten der europäischen Wohlstandswelt skeptisch betrachtet.
  Giglioli, der in Bergamo Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt, kennt sich aus im Dickicht der Welterklärungstexte von Marx bis Badiou, er ist mit den Debatten über Gedenken, kollektives Gedächtnis und Opferkonkurrenz vertraut. Sein Essay ist vor allem deshalb ein Vergnügen, weil Giglioli es geschickt vermeidet, sich selbst oder die Wahrheit oder das Gute zum Opfer des Opferkults zu stilisieren. Er fragt lieber nach dessen Anfängen und entdeckt diese in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Zwar hat schon Jean-Jacques Rousseau die Wonnen und Leiden des Opferstatus ausbuchstabiert, aber erst seit den Siebzigern feierte die Opferideologie immer wieder Triumphe. Damals trennten sich der Geist des Kapitalismus und die asketische Gesinnung; Aufschub der Triebbefriedigung oder gar Verzicht wurden tendenziell kontraproduktiv. Es galt, sofort zu konsumieren, und zwar möglichst viel. Wenigstens wurde dies den Verbrauchern ununterbrochen eingehämmert.
  Dennoch konnte und kann selbstredend nicht jeder alle seine Wünsche sofort erfüllen, auch bleibt manche Wunscherfüllung unbefriedigend. Die Frustration lässt sich ertragen und ausagieren, indem einerseits die Forderung nach Wunscherfüllung, nach Gerechtigkeit, nach Mehr unbarmherzig hartnäckig weiter erhoben und andererseits das eigene Ich als passives, unschuldiges glorifiziert wird. Man hat doch ein Recht auf ein gutes, volles Leben, auf Genuss der ganzen Welt. Wird einem das verweigert, ist man ein Opfer – wenigstens der Verhältnisse. Wenn nun diese politisch nicht zu verändern scheinen, dann gewinnt ein Menschenbild, das um Schwäche, Nacktheit, Mangel kreist, die besondere Würde des eigenen Mangels ins Zentrum stellt. An die Stelle der großen Befreiungsversprechen, die seit 1789 so viele begeistert haben, trete, so Giglioli, die Mythologie des Opfers und fessele uns an die eigene, elende Subalternität. Statt von „Emanzipation“ wird von „Identität“ geredet; „wer bin ich?“ statt „was tun?“
  Manche Argumente Gigliolis kennt man aus dem vor 25 Jahren inbrünstig geführten Streit zwischen „Modernen“ und „Postmodernen“, manche aus der Diskussion über die Opferkonkurrenz in der Erinnerung an das 20. Jahrhundert. Elektrisierend wirkt der knappe, nie lange bei einem Problem verweilende Text dort, wo er Rollen der öffentlichen Rede und die verhängnisvolle Logik der Opferideologie analysiert: Von der italienischen Debatte um politische Korrektheit über die Obsession für Plagiate und das feministische Misstrauen gegenüber Pornografie eilt Giglioli zum „Kampf der Kulturen“. Vier seiner Protagonisten werden kurz gemustert. Der ermordete Filmemacher Theo van Gogh, „der die Beleidigung zu seiner Muse machte“, dessen Mörder Mohammed Bouyeri, „typische Figur des radikalisierten Verlierers“, der ebenfalls ermordete Politiker Pim Fortuyn und die Autorin Ayaan Hirsi Ali erscheinen Giglioli als „aggressive Opfer“, getragen vom Pathos des Unanfechtbaren. Dabei habe jedes der „aggressiven Opfer“ eine Halbwahrheit für sich, die aber ein Moment des Falschen sei.
  Giglioli will die Opferideologie insgesamt als verzerrt vernünftig verstanden wissen. Er hofft darauf, mittels Kritik das Vernünftige herauslösen und erlösen zu können. Das klingt ebenso antiquiert wie vermessen. Was gemeint sein könnte, erklärt er am Beispiel der Verschwörungstheorien. Diese mögen ja absurd, dumm, gefährlich sein, aber sie halten den Anspruch aufrecht, dass es verantwortliche Akteure gibt, Entscheider und Gewinner, nicht nur Sachzwänge, Mechanismen, Märkte. Im „Verantwortungsentzug“ der Opferideologie scheine das nämliche Motiv in entfremdeter Sprache auf. So gesehen wären Ideologien, Mythologien für Gesellschaften, was Träume für das individuelle Seelenleben: verschobene Wunscherfüllung und Hüter des Schlafs zugleich.
  Was also tun? Von Interessen reden statt von Skandalen, von Akteuren statt von Opfern, „sich als Konfliktpartei begreifen, nicht als Vertreter einer gespenstischen Universalität wie der von der Opfer-Ethik versprochenen“. Wie vulgär diese gespenstische Universalität sich äußern kann, zeigen derzeit in ganz Europa die Demonstrationen derer, die sich als Opfer ihrer Eliten sehen und dabei immer mehr Unterstützung ihrer Eliten finden.
Am Ende will jeder Opfer
sein – zumindest der
bösen „Verhältnisse“
            
Daniele Giglioli:
Die Opferfalle. Wie die
Vergangenheit die Zukunft fesselt. Aus dem Italienischen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 126 Seiten,
14,90 Euro. E-Book
11,99 Euro.
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