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Der "Globale Süden" bezeichnet die außereuropäischen, postkolonialen Gesellschaften. Sie werden meist mit prekärer Entwicklung, gescheiterten Staaten, Korruption und Armut assoziiert. Jean und John Comaroff widersprechen dieser Sicht vom rückständigen Süden. Mehr noch: Erst aus der Perspektive Afrikas, so ihre These, lässt sich die globalisierte Welt verstehen. Denn im Süden zeigt sich in vielerlei Hinsicht die Zukunft des Nordens, sei es im Verhältnis von Staat und Wirtschaft, im Umgang mit der Vergangenheit oder bei der Integration von Migranten. Um dies zu sehen, müssen wir uns von…mehr

Produktbeschreibung
Der "Globale Süden" bezeichnet die außereuropäischen, postkolonialen Gesellschaften. Sie werden meist mit prekärer Entwicklung, gescheiterten Staaten, Korruption und Armut assoziiert. Jean und John Comaroff widersprechen dieser Sicht vom rückständigen Süden. Mehr noch: Erst aus der Perspektive Afrikas, so ihre These, lässt sich die globalisierte Welt verstehen. Denn im Süden zeigt sich in vielerlei Hinsicht die Zukunft des Nordens, sei es im Verhältnis von Staat und Wirtschaft, im Umgang mit der Vergangenheit oder bei der Integration von Migranten. Um dies zu sehen, müssen wir uns von gewohnten Ansichten verabschieden. So verbinden wir die europäische Moderne mit Wissenschaft, Aufklärung und Demokratie - Kategorien, die sich nicht ohne Weiteres auf nicht-westliche Gesellschaften übertragen lassen. Mithilfe von anderen, globalen Konzepten aus dem Süden lassen sich Phänomene wie der Neoliberalismus, Religion, Arbeit oder Aids viel umfassender begreifen. Dies führen uns die Comaroffs in ihren brillanten Essays eindrucksvoll vor Augen.
Autorenporträt
Jean und John L. Comaroff lehrten von 1978 bis zum Sommer 2012 Anthropologie an der University of Chicago. Im Herbst wechseln sie an die Harvard University auf Professuren für African und African American Studies sowie Anthropologie, die sie als Oppenheimer Research Fellows innehaben werden. Außerdem sind sie Honorarprofessoren an der University of Cape Town in Südafrika.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2013

Viel Norden im Süden, viel Süden im Norden
Globale Entgleisungen: Jean und John L. Comaroff sehen in Afrika und Indien Vorreiter befreiter Marktkräfte

Vor einigen Jahren mutmaßte Wolf Lepenies, dass ein vermeintlich vergessener Kontinent wie Afrika einem noch immer selbstbewussten Europa den Spiegel seiner Zukunft vorhalten könne. Ein ähnlicher Gedanke bildet nun den roten Faden im Buch von Jean und John Comaroff. Die einflussreichen, nach vielen Jahren in Chicago nun an der Harvard-Universität lehrenden Sozialanthropologen vertreten mit Verve die These, dass eine Reihe von Nationalstaaten des Südens "nicht etwa am Rande des globalen Kapitalismus, sondern in dessen Zentrum stehen".

Die Ökonomien und kulturellen Welten von Ländern wie Indien, Brasilien, Südafrika und Nigeria, ganz zu schweigen vom "ominösesten dieser Player, China", gehörten zu den dynamischsten unserer Zeit. Zugleich seien diese Räume von starken inneren Gegensätzen geprägt: Enklaven des Wohlstands und der Ordnung saugten dort weite Gebiete der Not, Gewalt und Exklusion aus und perpetuierten sie auf diese Weise. Solche Konstellationen ließen sich jedoch zunehmend auch in "Euroamerika" finden.

Im Norden gibt es also viel Süden und im Süden viel Norden. Und dies, so die Comaroffs, werde sich in Zukunft noch verstärken. Höchste Zeit also, jenes westliche Aufklärungsdenken in Frage zu stellen, welches das Nicht-Westliche - das lange Zeit unter "Dritte Welt" firmierte und nun "Globaler Süden" heißt - als Ort der Tradition und des Zurückgebliebenen betrachtet. Die Moderne im Süden sei mithin nicht bloßer Ableger oder Doppelgänger des euroamerikanischen Originals oder dessen unvollkommenes Abbild, sondern müsse in ihrer Eigenart erfasst werden.

Die Moderne in Afrika etwa war, folgen wir den Autoren, wie ihr europäisches Gegenstück eine Neuentstehung, ein Bewusstsein neuer Möglichkeiten und ein Bruch mit der Vergangenheit. Sie ging ihre eigenen Wege, nahm vielfältige Formen an und war "produktiv und destruktiv zugleich in ihrer Missachtung, Nachbildung, Verabscheuung und Umformung europäischer Lebensweisen". Am umstrittenen Konzept von "Moderne" und "Modernität" halten die Comaroffs fest. Sie argumentieren, dass gerade seine Bedeutung als Akteurskategorie es auch als analytische Kategorie unabdingbar macht.

Eine zentrale Einsicht der neueren Forschung zu Kolonialismus und Imperialismus besagt, dass viele Innovationen des "Nordens" direkt aus der kolonialen Begegnung hervorgingen. Die Comaroffs gehen noch einen Schritt weiter und argumentieren, dass es heute der Süden sei, der die weltgeschichtlichen Kräfte zuerst zu spüren bekomme, dass in Ländern wie Südafrika oder Indien radikal neue "Assemblagen von Kapital und Arbeit Gestalt annehmen", welche die Zukunft des Nordens präfigurieren. Es geht jedoch nicht darum, die gängige Teleologie einfach umzudrehen, sondern dahinter stehende Einschätzungen in Frage zu stellen.

Warum sind im Süden und besonders in Afrika - im Guten wie im Bösen - die materiellen, politischen, sozialen und moralischen Konsequenzen des Neoliberalismus besonders sichtbar? Die Antwort ist für die Comaroffs nicht zuletzt in der Geschichte zu finden. Die meisten Kolonien waren auf imperiale Ausbeutung angelegt, und selbst nach dem formalen Ende des Kolonialismus blieben die Postkolonien abhängig und überschuldet, führten weiterhin eher Rohstoffe und ungelernte Arbeit aus als verarbeitete Produkte. Auch seien die Marktkräfte in Afrika nie vollständig durch die Existenz eines liberaldemokratischen Staates und seiner Regulierungen abgefedert worden. Und schließlich basierte das dortige Regierungswesen häufig auf kleptokratischer Patronage. All diese Faktoren machten aus afrikanischer Politik einen besonders fruchtbaren Boden für die Methoden des Raubtierkapitalismus: "für das Ausschlachten von Unternehmen, die Privatisierung von Gemeingütern, die Plünderung von persönlichem Besitz oder Schmiergeldzahlungen".

Afrika ist den Comaroffs zufolge also eine Region, in der vorgeführt wurde und noch wird, wie das Kapital größtmöglichen Profit zu minimalen Kosten bei geringen Infrastrukturmaßnahmen zu erzielen sucht. Die These von den Ländern des Südens, welche durch ihre charakteristische Mischung von überkommenen kolonialen Institutionen und postkolonialer Dienstbarkeit für neoliberale Entwicklung zu Vorreitern der Epoche des Marktes werden, entfaltet eine beträchtliche Schlagkraft, bleibt aber an vielen Stellen noch unzureichend fundiert. Gleichwohl bietet vor allem der zentrale Essay des Bandes, "Theorie aus dem Süden", anregende Argumente und interessante Perspektiven auf die gegenwärtige globale Ordnung.

ANDREAS ECKERT

Jean und John L. Comaroff: "Der Süden als Vorreiter der Globalisierung". Neue postkoloniale Perspektiven.

Aus dem Englischen von Thomas Laugstien. Campus Verlag, Frankfurt und New York 2012. 287 S., br., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Interessante Perspektiven und Argumente für das Verständnis der heutigen globalen Ordnung erhält Andreas Eckert mit diesem Essayband der Sozialanthropologen Jean und John L. Comaroff. Die These, dass Staaten wie Nigeria, Indien, Brasilien und China im Zentrum des globalen Kapitalismus stehen, vertreten die Autoren laut Eckert derart schwungvoll, dass sich westliches Überlegenheitsdenken damit locker infrage stellen lässt. Zwar halten die Autoren am Moderne-Konzept fest, wie der Rezensent erläutert, zugleich jedoch weisen sie nach, dass viele Innovationen des Nordens aus der kolonialen Begegnung enstanden sind. So lückenhaft Eckert die Fundierung der These von der Vorreiterrolle der "Südstaaten" im Kapitalismus auch stellenweise erscheint, so schlagkräftig kommt sie ihm dennoch vor.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Anregende Argumente und interessante Perspektiven auf die gegenwärtige globale Ordnung.", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.01.2013