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Produktdetails
  • Verlag: Actes Sud
  • Seitenzahl: 328
  • Erscheinungstermin: 16. Juli 2018
  • Französisch
  • Abmessung: 221mm x 139mm x 22mm
  • Gewicht: 310g
  • ISBN-13: 9782330081737
  • ISBN-10: 2330081731
  • Artikelnr.: 49484528
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019

Wie man den Tod erblinden lässt

Die Gegendarstellung zu einem Roman von Weltrang hat ihn berühmt gemacht. Kamel Daouds neues Buch "Zabor" feiert die Kraft des Erzählens.

Von Fridtjof Küchemann

Das zweite Mal am Sterbebett seines Vaters steht Zabor die Tante zur Seite, eine Ausgestoßene wie er, obgleich Schwester des kranken Patriarchen. Und während der junge Mann tut, was er kann, bändigt sie draußen vor der Tür die Sippe, die ihm und seiner Kunst nicht traut. "Sie schiebt deine Enthauptung hinaus", gibt Zabor eine seiner inneren Stimmen ein: "mit ihrer Improvisation von ,Tausendundeine Nacht', mit ihrer Inbrunst und ihrer List".

Dabei geht es in Kamel Daouds neuem Roman, der den Namen des jungen Mannes trägt, doch um Zabors Variante der weltberühmten Geschichte von Schahrasad und König Schahriyar: Er kämpft - erzählend und damit auf wundersame Weise erfolgreich - um Todgeweihte gleich welchen Alters und Geschlechts im algerischen Dorf Aboukir, und das führt ihn schließlich zurück in das Haus, aus dem er verstoßen wurde, als er vier Jahre alt war und seine Stiefmutter behauptet hatte, er hätte Abdel, ihren Erstgeborenen, in einen ausgetrockneten Brunnen gestoßen.

Man muss sich diese Szene im Haus des sterbenden Schlachters nur vorstellen, um ihre Ungeheuerlichkeit zu erkennen: den Widerwillen der Familie, auf diesen "verabscheuungswürdigsten letzten Ausweg" zu setzen, auch wenn sie einen ersten Versuch zuvor abgebrochen und Zabor davongejagt hat. Ihr Schwanken zwischen dem Aberglauben in seine Fähigkeit und der Abneigung gegen diesen Freigeist, der vor Jahrzehnten nach dem Tod der Mutter mit Tante Hadjer, die keinen Mann fand, in das alte Kolonialistenhaus unten im Dorf gebracht worden war. Seinen Zwiespalt zwischen dem Wunsch, der Alte wäre endlich tot, damit Zabor "durchatmen und den Schwindel der Freiheit spüren" kann, und dem, ihm zu beweisen, dass er ihn retten konnte. "Vor allem musste ich in mir Gründe dafür finden, es zu tun."

Überhaupt diese Gestalt, den 28 Jahre alten Sonderling mit der Ziegenstimme, dem der Vater "tausend lächerliche Namen verpasst hatte, um sich über mich lustig zu machen und mich auf Distanz zu seinen Gefühlsregungen zu halten", "eher ein Schandfleck als sein Erbe", der beim Anblick von Blut in Ohnmacht fällt, aber auch verlässlich bei jedem Versuch, das Dorf zu verlassen. Der aber wohl als Einziger in der Familie lesen kann und schreiben. Und nicht nur auf Arabisch.

Mit einem Schlag, einem Doppelschlag ist Kamel Daoud vor drei Jahren bei uns bekannt geworden: mit seinem Roman "Der Fall Meursault - Eine Gegendarstellung", in dem er dem lediglich als "Araber" vorgestellten Mordopfer aus Camus' existentialistischem Welterfolg "Der Fremde" einen Namen, ein Leben, eine Geschichte gegeben hat - und mit einem zunächst in "La Repubblica" und in deutscher Übersetzung in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 18. Februar 2016) veröffentlichten Artikel, in dem er die Übergriffe auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht mit einem "kranken Verhältnis zur Frau und zum Begehren" in "den Ländern Allahs" in Zusammenhang brachte. Bereits im Dezember 2014 hatte ein algerischer Salafist Daouds Hinrichtung gefordert. In Frankreich wurde er als bester Journalist des Jahres 2015 ausgezeichnet und gab wenig später bekannt, er werde sich fortan der Literatur widmen, allerdings "nicht aufgeben, aber weiter gehen, als es das Spiel der Medien erlaubt".

Naheliegend war die "Gegendarstellung" zu Camus' Roman allenfalls, weil das Desinteresse Camus' an der Figur des ermordeten Algeriers im Nachhinein so offensichtlich wirkt. Aber war während der ausgiebigen Beschäftigung mit dem Werk des Nobelpreisträgers zu dessen hundertstem Geburtstag jemand auf die Idee gekommen, dieses Buch postkolonialistisch zu hinterfragen? In seiner politischen Kühnheit war das Konzept von "Der Fall Meursault" einzigartig. Und die Frage um so interessanter, wie Daoud sein nächstes Werk anlegen würde.

Auch in "Zabor" schreibt er gegen etwas an, vielmehr lässt er seinen Erzähler anschreiben. Vordergründig gegen den Tod, gegen das Vergessen, gegen das Ausgegrenztsein - in einem eigenen Akt der Ausgrenzung allerdings in der Sprache der einstigen Kolonialherren, hat der junge Mann doch das Arabische, "diese mächtige, aber taube und geschwätzige Sprache bei ihrer Schwäche ertappt: für die Toten, die Vergangenheit, für die Pflichten und die Verbote hatte sie viele Worte, aber nur wenige exakte Worte für unseren Alltag." Wo doch im Festhalten, in der genauen Beschreibung und oft poetischen Präzision, die Kunst liegt, mit der er Heft um Heft füllt, um sie schließlich, als sein Zimmer zu klein wird, vor dem Dorf zu begraben: "Wenn ich mich exakt erinnere, wird der Tod wieder blind."

Schon auf dieser Ebene des Alltäglichen ist der Roman eine Offenbarung: Um das Leben seines Vaters schreibend, hält Zabor das Elend der Kolonialzeit und seine eigene Lebensgeschichte fest. Er entlarvt Lügen, mit denen sich ein Mann wie sein Vater Ansehen verschafft. Er zeigt dessen Schwanken zwischen Abscheu und Schuldgefühlen, verstärkt noch, als der Schlachter auch seinen dementen Vater bei seiner Schwester und seinem Sohn im Haus im Unterdorf einquartiert. Die gleichaltrige Nachbarin, ausgestoßen wie Zabor selbst, darf sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen, sondern, gleichsam enthauptet, nur noch am Fenster. Ihr, der Analphabetin, schreibt der junge Mann täglich Liebesbriefe. Sein Vater lehnt eine Heirat ab. In der Schule und der Koranschule im Ort hat es Zabor als Kind nicht lange ausgehalten. Seine lesende Entdeckung unbekannten Territoriums, die Entdeckung des Schreibens führt zu einer unerhörten Idee, die selbst im Buch nicht weiter ausgeführt zu werden braucht: "Man muss einen großen Roman gegen den Strom des Heiligen Buches schreiben."

Ist "Zabor" gegen das Heilige Buch geschrieben? Kamel Daoud schreibt gegen den Alleingültigkeitsanspruch jeden Glaubens, jeder Lehre. Seine Geschichte eines intellektuellen Erwachens ist zugleich die Geschichte einer Entfremdung: Sein Held wird beargwöhnt, als Monster, als Ketzer, in einem seltsamen Akt des Aberglaubens allerdings gebraucht. Und sie ist die Geschichte einer Verwurzelung: Ohne Aboukir, ohne Algerien ist diese Erzählung exakten Erinnerns und Durchdringens nicht denkbar, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich selbst allen Anfeindungen zum Trotz in seiner Heimat behauptet.

Kamel Daoud: "Zabor". Roman.

Aus dem Französischen von Claus Josten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 384 S., geb., 23,- [Euro].

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