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»Menninghaus' fulminantes Buch ist ein Lehrstück über die Zweischneidigkeit des Degoutanten, das als extreme Sensation den Affekthaushalt ebenso erschüttert wie stimuliert«, schrieb Ludger Heidbrink in der Zeit. Winfried Menninghaus bietet die erste umfassende Sichtung von Stellung und Funktion des Ekels in Philosophie, Ästhetik, Kunst, Psychoanalyse, Zivilisationstheorie und Alltagskultur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Dabei zeigt sich, daß der Ekel als Chiffre der Bedrohung eine entscheidende Bedeutung innerhalb der Ästhetik von Kunst und Alltag hat.

Produktbeschreibung
»Menninghaus' fulminantes Buch ist ein Lehrstück über die Zweischneidigkeit des Degoutanten, das als extreme Sensation den Affekthaushalt ebenso erschüttert wie stimuliert«, schrieb Ludger Heidbrink in der Zeit. Winfried Menninghaus bietet die erste umfassende Sichtung von Stellung und Funktion des Ekels in Philosophie, Ästhetik, Kunst, Psychoanalyse, Zivilisationstheorie und Alltagskultur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Dabei zeigt sich, daß der Ekel als Chiffre der Bedrohung eine entscheidende Bedeutung innerhalb der Ästhetik von Kunst und Alltag hat.
Autorenporträt
Winfried Menninghaus, geboren 1952, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der FU Berlin.    
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1999

Umgekippter Apfelsaft, massenhaft
Das ist doch kein Benimm: Winfried Menninghaus widern die Tischsitten der Kinder von heute an

Der strategische Nutzen des Themas ist evident. Das Andere, das sich im Erhabenen zeigt, ist zum Immerselben geworden. Auch hat die dekonstruktionistische Flut an Macht verloren und muss einer neuen Forderung nach Konkretheit begegnen. Mit einer Geschichte des Ekels lässt sich die Spur des Anderen in einem ästhetisch-anthropologischen Schnittbereich verfolgen, die weit in den Kronlanden der cultural studies zu liegen scheint. Außerdem kann - die Übersetzung ist in Arbeit - die deutsche philosophische Tradition in den amerikanischen Diskurs des Abjekten eingebracht werden. Und der Außenstehende wird auf schön-schaurige Beispiele hoffen.

Von einer wirklichen Geschichte des Ekels kann allerdings kaum die Rede sein. Eine solche "stoße auf beinahe unüberwindliche Schwierigkeiten". Der Verfasser erläutert: "Die entsprechenden Daten sind nur zu einem verschwindenden Teil ins kulturelle Archiv eingegangen. In der Regel wurden sie nicht der Aufzeichnung wert befunden; mehr noch: ihre Mitteilung wäre als unwürdig, undezent und abominabel verworfen worden." Das ist nun offenbar nur so dahergeredet. Für Archivarbeit ist nicht jeder geschaffen. Leider wird auch keine Phänomenologie des Ekels gegeben. Das habe 1929 schon Aurel Kolnai erledigt. Und Freud sowieso. Fürs Materiale scheint es nur die Karteikarte "Diverses" gegeben zu haben: "Marsh Mellows", "Ekel Alfred" ("gut für etliche Wiederholungen") oder die "galoppierende Regression der Esssitten, seit Mahlzeiten immer weniger im Familienkreis eingenommen werden". Nein, das Ekel-Buch von Winfried Menninghaus ist eine Sammlung von neun Essays zu verschiedenen Autoren, bei denen Ekel irgend eine Rolle spielt.

Ein Auszug aus der Geschichte des Begriffs also. Oder sollte man sagen des Wortes? Denn wenn die deutsche Ästhetik sich und ihren Gegenstand, das Schöne, konstituiert in der Ausgrenzung des Ekelhaften, ist doch nur das Hässliche gemeint. Während Nietzsches Ekel am Leben mit Überdruss, Widerwille zu übersetzen wäre. Ganz zu schweigen von der Frage, ob die klassische Ästhetik, Baudelaires Gedichte, Nietzsches Metaphysik, die Psychoanalyse und Kafkas Leben auf eine andere Linie zu bringen sind als die der Chronologie oder, was vermutlich aufs selbe herauskommt, des Weltgeistes. Jedenfalls wird referiert, dass die Romantiker und Baudelaire das Ekelhafte als, ein Ausdruck Friedrich Schlegels, "Choquantes", als Reizmittel, verwenden, es aber nicht um seiner selbst willen darstellen. Dass es bei Nietzsche um die Überwindung des Ekels am Leben gehe, bei Freud um die Verwandlung des neurotisierenden Ekels in eine schuld- und schamlose Lust und bei Sartre im Ekel die Faktizität der Existenz erfahren werde. Es sind kundige, abwägende Referate, voll entlegener Zitate, aber eben doch nur Referate.

Thesen gibt es gelegentlich im Kleinen, wo man sie schlecht debattieren kann, zum Beispiel, dass der klassische Kanon "an der phallischen Nase das vaginale Moment der Öffnung und der fließenden Flüssigkeit" kritisiere, am Busen dagegen die phallisch "erhobenen", "spitzigen", und "großen" Warzen. Oder dass Kants Philosophie zwar an "vielfachen Begründungsmängeln leide", im Ekel aber ein von fast der gesamten Kant-Forschung bisher übersehener und auch von Kant marginalisierter Einheitspunkt des Systems vorliege. Eine leitende These hat nur der weitaus umfangreichste Essay. Kafka betreibe die Invisibilisierung des Ekelhaften durch die betrügerische Unschuld seiner Offenlegung. Fast die gesamte Kafka-Forschung habe die "schlagenden Parallelen" zwischen Kafkas Bekenntnissen und Freuds Lehrsätzen übersehen.

Was also soll das Ganze? Der Ekel, wiewohl "ein allgemeines und vermutlich distinktives menschliches Reaktionsmuster", ist zu einem Syndrom geworden, "das der modernen Tendenz auf Gewaltenteilung, auf Ausdifferenzierung von Geltungsansprüchen und spezialisierten Subsystemen zuwiderläuft" und auf eine "trübe Einheit unserer Vermögen verweist". Zumal seit der Autonomisierung der Kunst ist er "das schlechthin Andere" des Ästhetischen. Als solches bleibt er "für das Feld, das er begrenzt, unidentifizierbar - eine leere Chiffre dessen, was die Welt der schönen Formen nicht integrieren kann und will". "Es ist die materia, Matrix, Marter, die verleugnete mater des Schönen." Aber im Nein des Ekels steckt eine starke Empfindung, die immer auch gesucht wird. So wird der Ekel zum "positiven Operator und zur Signatur unmittelbarer Erkenntnis". Seine Geschichte ist die Geschichte der "Weisen", eine Andersheit zuzulassen, die sonst der Verdrängung verfiele. "Als das Unassimilierbare avanciert das Ekelhafte in die verwaisten Positionen des unverfügbaren ,Realen' und der quasi-metaphysischen Wahrheit."

Wie man sieht, ist Menninghaus' Ekel nur eine Maske des immergleichen Anderen, auch in ihm zeigt sich nur der ewig sich entziehende Ursprung. Um so dringender sind die Abgrenzungsgefechte. Zum einen gegen den ganz erstaunlichen Erfolg des unerhört schwierigen Buches von Julia Kristeva "Pouvoir de l'Horreur", eines Werkes "von beeindruckender Kraft integrativer Systembildung", das noch einmal die Anatomie des Körpers direkt an Psychoanalyse und Kulturtheorie anknüpfe und damit alle Fabeln von einem postmodernen Ende der großen Erzählungen Lügen strafe. Aber so erstaunlich ist der Erfolg dann doch wieder nicht. Denn Kristeva reduziert die psychoanalytische Fülle der Ekelphänomene, arbeitet mit einer literaturwissenschaftlich "eher herkömmlichen Stilanalyse", hat eine "extrem reduktive, ja repressive Sprachtheorie", redet ganz traditionell von der "Identität des Subjekts, eine philosophische Kategorie übrigens, die in Freuds Metapsychologie wohl nicht zufällig fehlt", und vor allem bietet sie "positive Elemente", die mit Mitteln dekonstruktiven Denkens nicht zu haben sind", ja "jedem hartgesottenen Dekonstruktionisten tendenziell ideologisch erscheinen müssen": Die abjekte Mutter erhält - ohne dass dies begründet würde, überhaupt nur begründet werden könnte, "man muss Kristevas Basistheorie akzeptieren" - mehr oder weniger die Rolle eines transzendentalen Signifikats.

Das mag alles richtig sein, kommt aber so wadenbeißerisch in Nebensätzen daher, dass der Verdacht nahe liegt, hier ziehe sich der gelehrte deutsche Michel verbittert in den Turm der Lehre reiner Negativität zurück. Auch die Abject-Art ist ihm zuwider. Dort sei aus einer unbequemen Theorie eine einfache Fabel von Repression und Befreiung geworden. Und die Vermehrung von akademischen Studien am Leitfaden des Abjekten habe nur die Funktion, dem einen Tun eine starke politische Dimension zuzusprechen und so das dringliche Legitimationsproblem der Humanities zu mildern. Nein, mit Befreiung und politischen Dimensionen will Menninghaus nichts zu tun haben. Alles repressive Entsublimierung. So etwas wie die galoppierende Regression der Esssitten. Die inflationäre Überschreitung der Ekelschranken in der Kunst führe zur Anästhesie und womöglich zum Ende der Kunst. Da hält er es lieber noch mit Kristevas "Bejahung der Verbote und der Ordnung, die auf ihnen gründet".

Nichts gegen Tischmanieren und nichts gegen reine Lehren. Aber wenn die inhaltliche Beschäftigung mit den Gegenständen des Ekels perhorresziert wird und formal der Ekel nur ein weiteres Mal auf den Ursprung verweist, der doch positiv nie zu haben sei, bleibt vom ganzen Ekel nur ein Choquantes, das nicht um seiner selbst willen gesucht wird, sondern um der Ware Theorie einen Schein von Neuheit zu geben.

GUSTAV FALKE

Winfried Menninghaus: "Ekel". Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 591 S., geb., 58,- DM.

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