11,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Broschiertes Buch

Die Gegenwart der Tragödie - dieser Titel soll eine Behauptung aufstellen: die Behauptung, daß es auch gegenwärtig noch Tragödien gibt; daß die Tragödie nicht, wie seit dem romantischen Beginn der Moderne unablässig wiederholt wird, »antiquiert« (Friedrich Schlegel) geworden ist."

Produktbeschreibung
Die Gegenwart der Tragödie - dieser Titel soll eine Behauptung aufstellen: die Behauptung, daß es auch gegenwärtig noch Tragödien gibt; daß die Tragödie nicht, wie seit dem romantischen Beginn der Moderne unablässig wiederholt wird, »antiquiert« (Friedrich Schlegel) geworden ist."
Autorenporträt
Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2005

Der Heros weicht dem Citoyen
Christoph Menke fragt, wie es heute um die Tragödie steht

Es steht nicht gut um die Tragödie. Seit zweihundert Jahren ist uns diese kunstkritische und philosophische Diagnose vertraut. So unterschiedliche Denker wie Hegel und Friedrich Schlegel stimmen darin überein, daß die Tragödie für die "Moderne" keine wirkliche Bedeutung mehr haben könne. Diese negative Einschätzung zieht sich bis in unsere Tage. Tragische Verzweiflung, so notiert etwa Botho Strauß, erscheint in einer "hypochondrischen Gesellschaft, die ihre Wehwehchen unablässig besprechen muß", als überholt. Und Milan Kundera bestätigt: "Die Tragik verschafft uns die schöne Illusion menschlicher Größe und damit Tröstung." Daß die Tragödie in Wahrheit eine Komödie ist und umgekehrt, bildet seit dem sogenannten absurden Theater schließlich einen Topos der kunsttheoretischen Debatte. Thomas Bernhard und Woody Allen haben ihn endlos wiederholt. Ob in New York oder in Gaspoltshofen, nie ist das Lachen über die Akteure unbeschwert, nie das Entsetzen ungebrochen.

Freilich ist eine solche Diagnose abhängig sowohl von einem bestimmten Begriff der Tragödie als auch der Gesellschaft. Begreift man etwa mit Hegel die Tragödie als jene Kunstform, die die Kollision eines unauflöslichen, weil nach jeder Seite berechtigten Konfliktes zwischen Individuum und Staat vor Augen führt, gehört sie in dem Moment der Vergangenheit an, da sich mit der bürgerlichen Gesellschaft eine dritte, vermittelnde Sphäre Geltung verschafft. An die Stelle des Schicksals, der sich vererbenden Schuld und der Rache treten das abwägende Urteil und die Strafe, an die Stelle des heroischen einzelnen der diskutierende Citoyen und der seinen Wohlstand genießende Bourgeois. Begreift man mit Horkheimer und Adorno ebenfalls als das Wesentliche der Tragödie den Gegensatz des Einzelnen zum Allgemeinen, faßt dieses aber im Zeichen einer Theorie der totalitären Gesellschaft, dann verschwindet mit dem Gegensatz auch die Tragödie. Wo es kein Individuum, kein starkes Ich mehr gibt, kann es auch keine Tragik geben.

Es ist diese dominante Tradition, der Christoph Menke beharrlich und einfallsreich widerspricht. In seiner Habilitationsschrift "Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel" (1996) macht er dem begriffsprägenden Philosophen des deutschen Idealismus ausführlich die Gegenrechnung auf. Die Verrechtlichung der Lebensverhältnisse führt nicht zur Auflösung der Tragik. Vielmehr kehrt diese in neuen Antagonismen wieder. Der Prozeß der Dialektik, des Fortschreitens in notwendigen Widersprüchen, läßt sich demnach auch im Falle der Tragödie nicht befriedigend und befriedend aufheben.

In seinem jüngsten Buch demonstriert Menke dies nun an einer klassischen, unendlich zur Deutung einladenden Figur der Tragödie, an Ödipus, wie er durch Sophokles überliefert ist. Auch für Ödipus, der zugleich als Gesetzgebender, Untersuchender und Urteilender seines eigenen Falles auftritt (ähnlich der Vernunft in Kants bahnbrechender erster Kritik), wird das Recht zu einer Quelle des Fluchs. Die Erinnerungen kehren in den Zwängen der Selbstverurteilung wieder. Und diese Zwänge liegen, so Menkes Pointierung, in der Struktur des Urteilens selber. "Solange wir überhaupt urteilen, leben wir in der Gegenwart der Tragödie."

Neben der philosophischen gibt es aber auch noch eine ästhetische Tradition, mit der Menke sich kritisch auseinandersetzen muß. Sie behauptet, daß die Tragödie in der Moderne selber die Tragik auflöst und in die romantische Komödie oder in das Brechtsche Lehrstück mündet. Im Unterschied zur klassischen Tragödie rückt hier das (theatrale) Spiel in den Vordergrund.

Daß dieses nachklassische Tragödienmodell scheitert, liegt, so Menke, daran, daß es das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Spiel und Urteil, Theater und Tragik übersieht. Auch hier argumentiert er in einer Weise, die die theoretische Vaterfigur Hegel ohne Zögern "dialektisch" genannt hätte. Denn die Tragik (des Urteils) durch das Spiel (der Tragödie) "auszusetzen" heißt, sie "dadurch zugleich hervorzubringen". Das Tragische bleibt, mit anderen Worten, für uns nur erfahrbar, wenn es ästhetisch gegenwärtig wird. Und die angemessene ästhetische Form erhält diese Dialektik in der "Metatragödie", die eine "Tragödie des Spiels" ist, eine Tragödie, die sich selbst reflektiert. Beckett, Heiner Müller und Botho Strauß stehen für dieses tragische Spiel. "Nichts ist komischer als das Unglück." Dieser Sentenz aus dem "Endspiel" möchte Menke also das theoretische Fundament verschaffen. Hegelianische Dialektik und romantische Tragödientheorie sollen auf den Punkt gebracht werden: "Es gibt keine Tragik ohne Ironie."

So elegant diese begrifflichen Konstruktionen anmuten, sie wirken doch immer wieder eine Spur zu sehr konstruiert. Darin gleichen sie ihren Gegenständen, den entsprechenden Theaterstücken von Müller und Strauß. Vor allem mit seinen beiden Grundthesen läßt Menke Zweifel zurück. Denn so gewiß zum einen der Umstand, wie wir urteilen, Tragik hervorbringen kann, so fraglich ist, ob dafür bereits das bloße Faktum, daß wir urteilen, ausreicht. Nicht jedes Urteil ist, wie Menke selber weiß, gewaltsam.

Zum anderen bleibt die Frage, in welchem Maße das ästhetische Spiel die tragische Erfahrung unterläuft. Wenn es Tragik nur gibt, wo geurteilt wird, finden sich die Zuschauer im Theater und vor allem die Philosophen in einer mißlichen Situation wieder. Denn sie können nicht tun, was sie tun wollen und müssen: eine tragische Erfahrung in ihrer "Wahrheit" begreifen. Das hieße nämlich, daß man diese Wahrheit von der Kunst (der Tragödie) trennen könnte. Dagegen verteidigt Menke das Eigenrecht der ästhetischen Erfahrung. Da sie durch den Wahrheitsdiskurs nicht zu ersetzen ist, dennoch aber als Erfahrung auf ihn angewiesen ist, greift Menke in der Tradition Kants auf die Als-ob-Struktur des ästhetischen Urteils zurück. Man muß eine tragische Erfahrung so beurteilen, als sei sie wahr. Man kann ihre Wahrheit also nur, wie Menke doppeldeutig formuliert, "annehmen", das heißt vermuten und hinnehmen. So prekär ist das Urteil über die Tragik und damit ihre Gegenwart in der Moderne.

JOSEF FRÜCHTL

Christoph Menke: "Die Gegenwart der Tragödie". Versuch über Urteil und Spiel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 277 S., br., 11,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Josef Früchtl setzt sich anerkennend und kritisch zugleich mit den streitbaren Thesen von Christoph Menke auseinander, die seiner Ansicht nach mit zwei modernen Traditionen der Beurteilung des Tragischen und der Tragödie brechen: Die eine erklärt das Tragische für überholt, da der Gegensatz zwischen überindividueller Macht und Individuum aufgehoben ist - dem setzt Menke entgegen, dass die "Verrechtlichung der Lebensverhältnisse" keinesfalls die Tragik auflöse, da diese in jedem Urteil - in seiner Struktur der Willkür - hervorgebracht werde. Die andere Tradition behauptet, dass die Tragödie die Tragik gleich selber abgeschafft und durch "romantische Komödie" und Brechtsches Lehrstück ersetzt hat - dieser Ansicht wiederum stellt Menke die "Metatragödie" von Beckett, Müller und Strauß entgegen. Früchtl meint: Der Autor argumentiert "einfallsreich" und "elegant", aber auch allzu "konstruiert" - schließlich ist "nicht jedes Urteil... gewaltsam".

© Perlentaucher Medien GmbH