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Zum 10. Jahrestag des Arabischen Frühlings: "Originell und zutiefst menschlich - anders als alles, was ich über die ägyptische Revolution gelesen habe." Anand Gopal
Noch immer blickt die Welt auf den Nahen Osten, um die Folgen des Arabischen Frühlings zu verstehen. Doch aus der Distanz bleibt vieles verborgen. Peter Hessler erzählt die ägyptische Revolution aus dem Alltag der Menschen heraus. Ein Abfallsammler, der aus Kairos Müll mehr herauslesen kann als jeder Archäologe. Ein Arabischlehrer mit Faible für Ägyptens sozialistische Vergangenheit. Und ein schwuler Mann, der in einem…mehr

Produktbeschreibung
Zum 10. Jahrestag des Arabischen Frühlings: "Originell und zutiefst menschlich - anders als alles, was ich über die ägyptische Revolution gelesen habe." Anand Gopal

Noch immer blickt die Welt auf den Nahen Osten, um die Folgen des Arabischen Frühlings zu verstehen. Doch aus der Distanz bleibt vieles verborgen. Peter Hessler erzählt die ägyptische Revolution aus dem Alltag der Menschen heraus. Ein Abfallsammler, der aus Kairos Müll mehr herauslesen kann als jeder Archäologe. Ein Arabischlehrer mit Faible für Ägyptens sozialistische Vergangenheit. Und ein schwuler Mann, der in einem Muslimbruder einen unerwarteten Verbündeten findet. In einer brillanten literarischen Reportage bringt Peter Hessler Persönliches und Politisches, Gegenwart und Geschichte zusammen und entwirft so ein schillerndes Porträt einer Gesellschaft im Umbruch.
Autorenporträt
Hessler, PeterPeter Hessler, 1969 geboren, ist Journalist beim New Yorker, für den er von 2000 bis 2007 als Korrespondent aus Peking und von 2011 bis 2016 aus Kairo berichtete. Er ist der Autor mehrerer Bücher über China. 2008 wurde er für seine Reportagen mit dem National Magazine Award ausgezeichnet, 2011 erhielt er eines der begehrten MacArthur Fellowships.

Pfeiffer, ThomasThomas Pfeiffer, Jahrgang 1962, Übersetzer von Christopher Clark, Al Gore, Robert Skidelsky, Adam Tooze, Bob Woodward, Seymour Hersh.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2020

Aus persönlicher Perspektive
Stimmen vom Nil: Wie ein Amerikaner die Revolution in Ägypten erlebte

Aus medialer Perspektive war Ägypten das Zentrum der Arabellion. Auf den dramatischen Geschehnissen rund um den Kairoer Tahrir-Platz lag von Januar 2011 an das Hauptaugenmerk der weltweiten Berichterstattung. Seit der damalige Verteidigungsminister Abd al Fattah al Sisi jedoch im Sommer 2013 den islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi gestürzt und die Proteste von dessen Anhängern blutig niedergeschlagen hat, ist es in den Medien ruhiger geworden um das bevölkerungsreichste arabische Land. Das hängt mit der derzeitigen bleiernen Stille in Ägypten zusammen, aber auch mit veränderten regionalen Rahmenbedingungen - der politische Schwerpunkt liegt mittlerweile weiter östlich, in der Golfregion.

Ungeachtet dessen, bleiben die Jahre der Tahrir-Revolution und ihres Scheiterns wichtig und prägend, und so verwundert es, dass es auf Deutsch bislang - anders als im englischen Sprachraum - keine große Darstellung dieser Zeit gibt. Nun liegt zumindest ein Werk in Übersetzung vor. Um es vorwegzunehmen: Auch Peter Hesslers "Die Stimmen vom Nil. Eine Archäologie der ägyptischen Revolution" kann diese Lücke nicht schließen. Der Autor strebt das aber auch gar nicht an. Die Qualitäten seines Buchs liegen jenseits der Aufarbeitung des Tagesgeschehens: Es setzt auf einer fundamentaleren Ebene an, um die Entwicklungen in Ägypten zu schildern und zu verstehen.

Hessler lebte mehrere Jahre lang als Korrespondent des "New Yorker" in Ägypten. In der Tradition dieser Zeitschrift nähert er sich auch dem Thema: in einer Mischung von Reportage und Analyse mit autobiographischen Elementen. Der 1969 geborene Journalist nimmt keine Vogelperspektive ein, sondern richtet die Erzählung zum großen Teil an selbst Erlebtem aus. Das beeinflusst und beschränkt natürlich die Perspektive, und tatsächlich unterläuft Hessler wiederholt die Erwartungen des Lesers. An allererster Stelle fehlt eine Darstellung der Revolution selbst, denn Hessler und seine Familie zogen erst im Herbst 2011 nach Kairo - gut ein halbes Jahr nach Mubaraks Sturz. Auch andere wichtige Ereignisse wie Sisis Putsch-Rede oder das Massaker auf dem Rabia-al-Adawiya-Platz im Sommer 2013 werden nur am Rande geschildert. Und anstelle etwa mit einer Szene vom Tahrir-Platz beginnt das Buch mit einem Kapitel darüber, wie die Revolutionstage Anfang 2011 in Abydos erlebt wurden - einer in der oberägyptischen Provinz gelegenen Ausgrabungsstätte.

Das alles ist natürlich weder Inkompetenz noch dem Zufall geschuldet, denn Hessler ist ein meisterlicher Reporter. Er betritt nur gewissermaßen gerne das Haus durch den Nebeneingang. Vor allem aber nutzt er seine selbstgewählte Beschränkung, um die Aufmerksamkeit auf andere Phänomene zu lenken: So bietet das Buch etwa eine eingehende Beschreibung des Kairoer Müllentsorgungssystems. Hessler geht es dabei aber nicht um die oft erzählte Leidensgeschichte der "Zabbalin" - der christlichen Kopten, die den Müll in ihren Wohngebieten sammeln und händisch sortieren -, sondern um ein Beispiel dafür, wie Modernisierungsprojekte in Ägypten aufgrund von Inkompetenz und mangelnder Weitsicht scheitern. Das gilt für die gesamte Stadtentwicklungspolitik mit ihren Träumen von glitzernden Wüstenstädten und der weitaus tristeren Realität ungeplanter Viertel, in denen viele Millionen leben, streng genommen illegal. Das Mubarak-Regime "war autoritär, ohne viel Autorität zu besitzen, und zeigte überdies eine gewisse Neigung zur Fantasterei", schreibt Hessler, was als Erklärung für das scheinbare Chaos in Kairo und das häufige Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit taugt.

Solche Spurensuchen machen das Buch aus: Oft von seinem persönlichen Umfeld ausgehend, beschreibt der Autor bestimmte gesellschaftliche Phänomene, um von dort zu einer Erörterung ihrer politischen Bedingungen und Konsequenzen zu gelangen. Die Schilderung von polizeilicher Willkür gegenüber Homosexuellen beispielsweise führt zu Überlegungen über das Wesen des Autoritarismus in Ägypten, der sich laut Hessler "eher in einem allgemeinen Klima manifestierte als in klar definierten Strukturen". Autoritätspersonen, schreibt er, "taten das, was sie taten, weil sie die Macht dazu hatten, und handelten nicht etwa auf Befehl oder nach einer festgelegten Vorgehensweise". Das macht den ägyptischen Polizeistaat allerdings zugleich höchst unberechenbar. So erklärt ein Politiker Hessler auch den Tod des italienischen Doktoranden Giulio Regeni, der Anfang 2016 mutmaßlich von Angehörigen der Sicherheitskräfte misshandelt wurde: mit einem "tragischen Zusammenbruch der Kommandostrukturen". Unter früheren Regimes, so der Politiker, "wäre es unvorstellbar gewesen, einen Ausländer zu Tode zu foltern".

Aber auch der im engeren Sinne politischen Entwicklung folgt Hessler. Er beschreibt den Zerfall der führerlosen Revolutionsbewegung, den Aufstieg der Muslimbrüder zur Regierungspartei und die Wahl Mursis 2012, ihre Inkompetenz an der Macht (Hessler vermutet früh, dass die Islamisten gar nicht so stark im Land verankert sind, wie sie immer behaupteten), die Polarisierung und die Zunahme von Gewalt und Chaos, die in Mursis Absetzung gipfelt; den Schauprozess gegen ihn nach dem Machtwechsel sowie schließlich Sisis Art, Ägypten zu führen: "wie ein Vater, der ein kleines Kind maßregelte". Diese Vorgänge kontrastiert er immer wieder mit Eindrücken aus Provinzorten - wobei sich zeigt, dass bei aller Dynamik des nationalen politischen Geschehens sich in der Lokalpolitik oft gar nicht so viel verändert.

Manchmal folgt der Autor auch einfach seinen Neigungen, und daraus haben sich einige der ungewöhnlichsten, aber auch faszinierendsten Passagen ergeben: Als er auf dem Basar einer Kleinstadt zu seiner Überraschung auf einen Chinesen trifft, beginnt der ehemalige China-Korrespondent Hessler nachzuforschen und macht schließlich ein ganzes Netz chinesischer Dessoushändler (und -händlerinnen) aus, später auch noch eine chinesische Fabrikstadt. Der Erfolg der Arbeitsmigranten aus China in dem arabischen Land ist unterschiedlich, sie sind geschäftstüchtig, finden aber oft zu wenig geeignetes Personal. Hessler gelangt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass es vor allem die Auffassung von der Rolle der Frau im Erwerbsleben ist, die Chinesen von (traditionellen) Ägyptern unterscheidet: Ägypterinnen sollen nach Möglichkeit nur arbeiten, bis sie genug Geld verdient haben, um für eine Eheschließung in Frage zu kommen.

Problematischer ist ein anderer Vergleich, den Hessler implizit anbringt. Seine Faszination für das alte Ägypten äußert sich in Exkursen zu Ausgrabungen und den daraus resultierenden Erkenntnissen über die Lebens- und Vorstellungswelt der Pharaonenzeit. Dabei scheint er manche Parallele zur heutigen Situation zu entdecken. Aber selbst wenn es Ähnlichkeiten zwischen dem zweiten Jahrtausend vor Christus und heute geben sollte, was bestimmte politische Strukturen und Verhältnisse betrifft, so dürften die Unterschiede diese bei weitem überwiegen.

Zusammengehalten werden die Fäden der Erzählung durch eine Reihe von Protagonisten aus dem Umfeld des Autors: der Müllsammler, der Sprachlehrer, der schwule Dolmetscher. Ihren Geschichten und denen ihrer Familien widmet Hessler sich mit Hingabe. Was dieses bunte Figurenensemble erlebt, ist skurril, dramatisch und tragisch, es reicht von der Ehekrise über die Flucht nach Deutschland bis hin zum frühen Tod. Wäre der "Jakubijan-Bau", Alaa al-Aswanis berühmter Kairo-Roman, ein Sachbuch - er wäre wohl ungefähr so wie Peter Hesslers Buch.

Ähnlich wie im "Jakubijan-Bau" könnte man als Fazit der "Stimmen vom Nil" festhalten, dass es in Ägypten nicht gelungen ist, die grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu reformieren, in denen viele Menschen gefangen sind. An einer Stelle schreibt Hessler über demographische Strukturen: "Wahre Macht entspringt aus dem Mangel." Daher glaube er auch nicht, dass es die vielbeschworene Revolution der Jugend in Ägypten geben werde: Jugend sei in dem Land einfach eine zu billige Ressource.

CHRISTIAN MEIER

Peter Hessler: "Die Stimmen vom Nil". Eine Archäologie der ägyptischen Revolution. Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Andreas Thomsen.

Carl Hanser Verlag, München 2020. 544 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wolfgang Freund kann Peter Hesslers Buch zwar nicht unbedingt jedem Ägyptenreisenden empfehlen, für Ägypten-Kenner aber ist der Band eine Wucht, versichert er. Das liegt an Hesslers Zugriff auf ägyptische Geschichte und den Ägyptischen Frühling: Indem Hessler eigene Erfahrungen vor Ort in Kairo und auf Reisen im Land mit den Lebensläufen eines Arabischlehrers, eines Müllsammlers und eines homosexuellen Szenegängers anreichert, macht er Geschichte lebendig, meint Freund. Der sprunghafte Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist laut Freund ein Markenzeichen von Hesslers Stil, den die Übersetzer Thomas Pfeiffer und Andreas Thomsen "brillant" ins Deutsche bringen, wie Freund meint. Kleinere "Unterbelichtungen" bei der Epoche des modernen, französisch und jüdisch geprägten Ägyptens, kann Freund dem Autor nachsehen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2020

Der ägyptische Patient
Der Journalist Peter Hessler erklärt den Arabischen Frühling und sein Scheitern mit der jahrtausendealten Landesgeschichte.
Seine zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelnde Erzählung ist eine Wucht
VON WOLFGANG FREUND
Peter Hessler verspricht eine Archäologie des Ägyptischen Frühlings. Sein Buch beginnt mit Ausgrabungen im oberägyptischen Abydos aus der Zeit von 2500 bis 3000 v. Chr. Die genannte Wissenschaft berichtet in der Regel vom Suchen und Graben nach Steinen, die uns eine ferne, häufig Jahrtausende alte Vergangenheit näherbringen, jedoch wenig aussagen über unser Heute. Doch der US-Journalist Hessler macht „Spagatsprünge“ zwischen Altertum und Gegenwart.
Aus der Sicht des Erdkundlers ist Ägypten eine einzige Wüste gigantischen Ausmaßes, durchzogen von einem über 1000 Kilometer langen „Lebensstreifen“, genannt „Niltal“; seit Jahrtausenden ist die landwirtschaftlich notwendige Wasserverteilung eine Besonderheit, die dem ägyptischen „System“ bis heute sowohl Überleben als auch Traditionen und technische Starrheiten sichert. Darum blieb in Ägypten der politische Aggregatzustand zwischen Herrscher und Beherrschten im Wesentlichen derselbe, sprich: Letztere in Millionenhöhe (ganz unten) malochen für die wenigen „ganz oben“ (vielleicht ein paar Hunderttausend oder auch eine Million). Es gab neue Entwicklungen, vor allem seit Napoleons Ägyptenexpedition Ende des 18. Jahrhunderts. Sie hielten an, mit Höhen und Tiefen, bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus. Dann, unter den „Neo-Pharaonen“ Gamal Abdel Nasser (1954 – 1970), Anwar al-Sadat (1970 – 1981) und Hosni Mubarak (1981 – 2011) regenerierten sich die „historischen“ Machtverhältnisse, wenn auch zeitgemäßer. Der jüngste Arabische Frühling brachte keinen Wandel, brach spätestens seit 2014 in sich zusammen, als nach kurzem einjährigen „demokratorischen“ Zwischenspiel, General Abdel Fattah al-Sisi die Macht an sich gerissen hatte. Peter Hessler wollte verstehen, warum.
Hessler und seine Ehefrau lebten von 2011 bis 2016 in der ehemaligen „Schickeria“-Ecke des modernen Kairos auf der Nil-insel Zamalek, noch fast in Gehdistanz zum ereignisreichen Tahrir-Platz, um die aufbrechenden Umstürze entlang des Arabischen Frühlings erleben und analysieren zu können. In Kairo angekommen taten sie das Richtige. Sie lernten schnellstens genügend Arabisch und zwar außer dem Schriftarabischen auch jenes Dialektarabisch, wie es auf Kairos Straßen gesprochen wird, unerlässlich für das nähere Verstehen von Kairos bzw. Ägyptens „Seele“. Hauptstadt und Land überlappen sich am Nil. Beide heißen Misr auf Arabisch. Und Misr ist für die Menschen des Niltals Umm Ed-Dunya, d. h. „Mutter der Welt“. Wenn man den historischen Verlauf von monotheistisch gefärbtem Sonnengottglauben (1350 v. Chr.), Judentum, Christentum und Islam betrachtet, wird solches „Volksempfinden“ fast verstehbar.
Das Gegenwärtige entschlüsselt der Buchautor außer seinen Trips kreuz und quer durch Kairo und Reisen zwischen Unter- und Oberägypten weitgehend aus nahezu täglichem Umgang mit ägyptischen Gewährsleuten. Davon gibt es herausragend drei. Da sind ein Arabischlehrer sozialistischer Gesinnung, sodann der Hesslers Küchenabfälle entsorgende, analphabetische Müllsammler Sayyid, sowie Manu, ein Schwuler der Kairoer „Szene“. Manu hatte kein leichtes Leben, obwohl in der „Kosmo-Monstropole Kairo“ (heute etwa 25 Millionen Menschen) Homosexuelle bislang eher unbehelligt blieben, sie besaßen in Downtown ihre Nachtklubs und Bars. Doch unter dem „post-revolutionären“ Sisi-Regime hat sich das geändert, obwohl Homosexualität als solche im ägyptischen Strafrecht nicht geahndet wird. Schwule beiderlei Geschlechts sind nun „Staatsgefährder“, gleich nach islamistischen Terroristen. Pervers flackerndes jüngstes Beispiel: der Selbstmord der LGBT-Aktivistin Sarah Hegazy in Toronto, die vor ihrem Zwangsexil drei Monate lang in Kairoer Schreckensverliesen auf die abscheulichste Art erniedrigt und gefoltert worden war. Sie entstammte einer großbürgerlichen Kairoer Familie, die unter Präsident Sadat sogar 1974/1975 kurzzeitig einen Premierminister (Abdel Aziz Mohamed Hegazy) gestellt hatte. Peter Hesslers „Gewährsmann“ Manu übrigens fand vor wenigen Jahren politisches Asyl in Deutschland.
Der Autor erzählt die Lebensläufe seiner Gewährsleute in Kapitelfolgen, die sich gemischt durch das ganze Buch ziehen, verblüffend ähnlich dem Vorgehen des international erfolgreichen, in viele Sprachen übersetzten Kairoer Romanautors Alaa al-Aswani („Der Automobilclub von Kairo“, S. Fischer, 2015, u. a.). Peter Hessler hat al-Aswanis Bücher bestimmt gelesen, zumal deren englische Übersetzungen weitgehend vom Verlag der AUC (American University in Cairo) betreut worden waren. Peter Hessler hatte dorthin vielfachen Kontakt. In seinem durchaus themabezogenen Literaturverzeichnis erscheint Alaa al-Aswani jedoch nicht.
Unterbelichtet bleibt bei Hessler auch die etwa 150 Jahre lange Epoche des modernen Ägyptens (Anfang des 19. Jahrhundert bis zum Sturz der Farouk-Monarchie 1952) in ihrer französisch und jüdisch geprägten Natur. Französisch war während gut hundert Jahren die wichtigste Verkehrssprache des urbanen Ägyptens, also in den großen Städten wie Kairo, Alexandria, Port Saïd, Ismailya am Suezkanal, in Suez selbst, keineswegs Englisch. Auch die nichtarabischen Presseerzeugnisse waren mehrheitlich französischsprachig. Erst der franko-britisch-israelische „Suezkrieg“ von 1956 bereitete Ägyptens Frankophonie ein schnelles Ende, da deren Hauptbenutzer, die Vertreter der jüdischen Geschäftswelt, innerhalb weniger Jahre nahezu vollständig des Landes verwiesen wurden. Selbst die kurze britische Kolonialverwaltung (1882 – 1922) hatte streckenweise auf Französisch gearbeitet. Englisch hingegen konnte sich halten, da die USA am Suezkrieg nicht „beteiligt“ waren und es bislang immer verstanden hatten, mit Ägypten trotz bestimmter Querelen in Sachen Israel in einem „konstruktiven“ Verhältnis zu bleiben.
Aber trotz solcher Kritik am Rande: Das grundgescheite Buch ist eine Wucht. Peter Hessler gelingt es, den Verlauf einer vieltausendjährigen ägyptischen Geschichte dem Leser lebendig zu schildern, in einem zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelnden Erzählungsstil, aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Andreas Thomsen brillant ins Deutsche gewendet. Allerdings dürften US-Pressestimmen, die empfehlen, Peter Hesslers „Stimmen vom Nil“ gehörten ins Gepäck jedes Ägyptenbesuchers, übertreiben. In den vollen Genuss der Hesslerschen Aroma-Palette kommt nur ein Leser, der selbst ägyptische Intensiverfahrungen hat und bei der Vielzahl genannter Namen und städtischer wie landesweiter Örtlichkeiten sofort die passenden Aha-Blitze in sich aufleuchten fühlt. Für ihn ist das Buch eine unauslotbare Fundgrube und Quelle für weiteres Nachdenken zum Thema.
Der gegenwärtig in Kairo amtierende „Neo-Pharao“, eine Art wiederauferstandener Ramses II., mit seinen Monsterprojekten wie „Neu-Kairo“ aus dem Wüstensand, „zweiter Suez-Kanal“ oder auch „Einflussnahmen“ Richtung Libyen, gibt dazu reichlich Anlass. Auf der letzten Seite angekommen, bedauert der Leser tief, nunmehr auf die Gesellschaft des Autors verzichten zu müssen.
Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt „Mittelmeerkulturen“). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.
Der Stil erinnert an den des
bekannten Kairoer Romanautors
Alaa al-Aswani
Es begann mit Protesten gegen das Regime von Hosni Mubarak: ein Demonstrant schwenkt 2011 eine ägyptische Flagge auf dem Tahrir-Platz. Viele Sehnsüchte der Menschen blieben aber unerfüllt.
Foto: PEDRO UGARTE/AFP
Peter Hessler:
Die Stimmen vom Nil.
Eine Archäologie der
ägyptischen Revolution. Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und
Andreas Thomsen. Verlag Carl Hanser, München 2020. 544 Seiten. 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Peter Hessler entfaltet ein ebenso faszinierendes wie facettenreiches Panorama, das längst Vergangenes mit Gegenwärtigem verbindet. Nahtlos verschmelzen Erzählung und Analyse zu einem gelungenen Ganzen." Victor Mauer, Neue Zürcher Zeitung Bücher am Sonntag, 28.06.20

"Hessler ist ein meisterlicher Reporter" Christian Meier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.06.20

"Ein grandioses Buch ... eine toll zu lesende Großreportage, die einen tiefen Einblick in das heutige Ägypten bietet" Günther Wessel, Deutschlandfunk Kultur, 22.07.20

"Die Wucht der 'Stimmen vom Nil' entfaltet sich in einem tiefgehenden, unaufgeregten Realismus ... mehr kann ein Buch nicht leisten." Christine Hamel, Bayern 2 Diwan, 28.06.20

"Liest sich wie eine Entdeckungsreise ... ein Gesellschaftsporträt mit Empathie und Liebe zum Detail" Jan Kuhlmann, Deutschlandfunk Andruck, 25.05.20

"Das Buch erlaubt jedoch dank seiner guten Beobachtungsgabe und seinem Gespür für Atmosphäre und Details einen hervorragenden, wenn auch ernüchternden Einblick in die Entwicklungen im Land seit 2011." Moritz Behrendt, Neue Zürcher Zeitung Online, 10.05.20

"Ein sehr tolles, lesenswertes Buch" Kersten Knipp, WDR3 Gutenbergs Welt, 09.05.20

"Das Buch ist voller Geschichten, die tief hineinführen in die ganz eigenen Gesetze eines Landes." Thomas Wagner, Die Wochenzeitung, 19.03.20